Die letzte Wahl. Rudolf Stratz

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Die letzte Wahl - Rudolf Stratz


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und Pfarrer mir abspenstig wird und sich einen eigenen Steifleinenen als Kandidaten leistet! Aber darauf kommt es nicht an. Die grosse Masse der Wähler — von den Arbeitern natürlich immer abgesehen — bleibt mir bei der Stange. Den Mann, den ich bei der Hand nehme und vor die Volksversammlung führe und von ihm sage: ‚der hat mein Vertrauen und wird den Kreis so weiter vertreten, wie ich’s seit Gründung des Reichs getan hab’‘ — den schicken sie in das neue Haus da drüben! Darauf kannst du dich verlassen!“

      Herbert nickte stumm.

      „Ich sage ‚du‘!“ fuhr der alte Herr fort, „weil es ja schon seit mehr als einem Jahr — bald nach deinem Unfall — zwischen uns besprochen ist, dass du mein Nachfolger werden sollst. Du warst damit einverstanden, dich der parlamentarischen Karriere zu widmen ...“

      „Einverstanden?“ sagte Herbert. „Es ist die Rettung meines Lebens, dass du mir das ermöglichst. Wie ich dir dafür danken soll, das weiss ich wahrhaftig nicht!“

      „Na ... man keine Sentimentalitäten,“ meinte der kleine Kommerzienrat trocken, „das steht uns beiden nicht. Also du hast dich ja nun inzwischen tüchtig mit Volkswirtschaft, Staatsrecht und derlei beschäftigt, den Wahlkreis kennst du als mein Schwiegersohn genau und für den Anfang stehen dir ja auch mein Rat und meine Erfahrung zur Seite. Blieb also nur die Frage: Wann soll es heissen: Ablösung vor?“

      „Und das wäre jetzt?“ fragte Herbert. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Aber seine Stimme zitterte merklich.

      Der alte Herr wiegte betrübt den verwitterten Graukopf hin und her. „Ich wäre gern noch geblieben,“ sagte er endlich. „Ich bin die Arbeit gewohnt, und ein guter Gaul stirbt in den Sielen, wie Bismarck in eben diesem Hause hier gesagt hat. Na — er hat doch dran glauben müssen, und das ist unser aller Los. Mein Schicksal ist der Doktor ... der berühmte Geheimrat hier in Berlin. ‚Sie sind eben einfach verbraucht,‘ sagt er zu mir, wenn er mich eine Viertelstunde beklopft und betastet und sein Heidengeld eingesteckt hat, ‚abgenutzt wie eine Ihrer Maschinen nach langer, redlicher Arbeit. Nun heisst’s eben die Kräfte sparen, dass der Mechanismus noch eine Weile funktioniert!‘ Und vorgestern setzte er hinzu: ‚Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle ausspannen, so stehe ich für nichts!‘ Na — was soll man da machen?“

      „Ja, es ist gewiss traurig!“ sagte Herbert.

      „Meine industriellen Anlagen sind, wie du weisst, seit zwei Jahren schon Aktiengesellschaft,“ fuhr der kleine Kommerzienrat fort, „also da kann ich mich so sachte aus dem Verwaltungsrat drücken, und die Geschichte geht ruhig weiter. Und was den Reichstagsitz betrifft, siehst du, so trifft es sich seltsam, wie ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass gerade für nächste Zeit die Wahlprüfung angesetzt ist. Es hätte ebensogut ein halbes Jahr früher oder später kommen können. Der Präsident wartet eben, bis wir einmal durch Zufall und die Gnade Gottes ein beschlussfähiges Haus haben wie heute, und dann setzt er es eilig auf die Tagesordnung. Das verhält sich alles so, wie es dieser Presskatilinarier vorhin von mir bestätigt haben wollte. In einer Woche kann ich also aller menschlichen Berechnung nach meine Visitenkarten mit dem ‚M. d. R.‘ ins Feuer werfen, fahre mit dir nach Reiningen—Lüningen—Heidenfeldt und in zwei Monaten wirst du dir neue Visitenkarten als ‚Mitglied des Reichstags‘ bestellen! Na, und nun ist genug darüber geredet. Ich will mal wieder ’rein! Mir scheint der Namensaufruf geht zu Ende!“

      Er verschwand durch die Portiere. Man hörte einen Augenblick beim Öffnen der Türe aus dem Sitzungssaal eine eintönige, laute Stimme und das tiefe „Hier!“ eines Bierbasses hinterher. Dann wurde wieder alles still.

      Herbert stand auf und ging in grossen Schritten durch das leere Foyer. Die Erregung stieg ihm zu Kopf. Er musste sich erst allmählich in den Gedanken finden, dass er der Erfüllung seines heissen Wunsches nahe war, dass er seinem Dasein einen neuen, reicheren Inhalt geben sollte, als einer der Erlesenen der Nation da drinnen, der dreihundertsiebenundneunzig Männer, denen ein Volk von fünfzig Millionen vertrauensvoll die Leitung seiner Geschicke in die Hände gelegt hatte. Wahrlich, das war den Einsatz eines Menschenlebens wert, für das Vaterland zu wirken und sich des höchsten Ehrenamts würdig zu zeigen, das Deutschlands Männer zu vergeben hatten.

      Ein donnernder Heiterkeitsausbruch innen unterbrach seine Gedanken. Ein kurzes Auflachen wie nach einem guten Witz. Dann wieder einen Augenblick tiefe Stille, ein beifälliges Gemurmel, die Saaltüren öffneten sich gleichzeitig, um die in schwarzen Knäueln herausdrängenden Reichsboten zu entlassen, die letzte Sitzung war zu Ende.

      „Warum wart ihr denn so heiter?“ fragte Herbert, in dem Gewühl sich zu seinem Schwiegervater gesellend.

      „Rat’ einmal!“ erwiderte der alte Herr vergnügt, „wieviel Abgeordnete bei Abschluss des Namensaufrufs da waren?“

      „Nun?“

      „Genau dreihundertdreiunddreissig! Auf den Kopf!“

      „Und darüber habt ihr so gelacht?“

      „Na ... das ist doch komisch!“

      Eingezwängt in der zum Ausgang strebenden Menschenwelle durchschritten sie die Vorräume und kamen zur Türe. Die kalte Abendluft, der Lichterglanz, das Lärmen und Klingeln der Leipziger Strasse schlug ihnen entgegen. Im Kreise um die Freitreppe standen wie gewöhnlich Haufen von Passanten, um in den herauskommenden Gruppen neugierig nach bekannten Abgeordneten zu spähen.

      Herbert reichte dem alten Herrn den Arm und geleitete ihn die glitschrige Treppe hinab. „Hat denn der Präsident zum Abschied noch ein paar passende Worte gesagt?“ fragte er.

      „Gewiss!“ schmunzelte der Alte. „Aber die Stenographen haben sie nicht aufschreiben dürfen.“

      „Wieso ... die letzten Worte, die in dem alten Reichstag fielen?“

      „Die lauteten, dass es morgen abend im neuen Reichstagspalast für die Abgeordneten Freibier, freie Havannas und freien alten Kornschnaps gibt — alles gestiftet von Landsleuten auf beiden Hemisphären —, wer will, kann Gäste mitbringen!“

      Herbert schwieg.

      „Das verstimmt dich, mein Sohn!“ sagte der Kommerzienrat, als sie im Wagen sassen und jener ihm die die Decke über die Knie schob, „aber sei erst einmal ein paar Jahre im Reichstag, und du wirst sehen, dass man da mit der Begeisterung und all den schönen Dingen nicht durchkommt. Im Reichstag konzentriert sich wie in einem Brennspiegel das tägliche Leben des deutschen Volkes mit all seiner Sorge und seiner Not um das tägliche Brot und all den Kleinlichkeiten armer, schwer arbeitender Menschen, aus denen zu neunundneunzig Hundertsteln unsre Nation besteht. Mit idealer Weltanschauung und schönen Worten stopft man keine hungrigen Mäuler, schafft man kein Defizit aus der Welt und taxiert man nicht eine Tarifposition nach ihrem Wert. Darum sind wir nüchtern und skeptisch, und das ist bei Licht betrachtet ganz gut so.“

      V.

      Also nun ist das hohe Haus glücklich umgezogen!“ sagte der alte Herr, während er sich mit seinen drei Kindern und Herbert behaglich an einem Speisetisch seines Hotels niederliess, „und ihr beiden Mädels könnt euch rühmen, dass ihr einen Maskenball am hellichten Tag mitgemacht habt. Denn was andres war der Zauber heute vormittag weiss Gott nicht!“

      Er scherzte absichtlich, um ein gewisses sonderbares Gefühl los zu werden, das er zuweilen in Gegenwart seiner Kinder empfand, eine Art innerlicher Beklemmung über ihren leichten Weltton und ihre vornehmen Manieren, die ihm, dem rauhen Selfmademan, innerlich imponierten. Es erschien ihm, dessen Jugenderinnerungen in ein düsteres Krämergewölbe, auf dumpfige Schlafstellen und spärliche Mahlzeiten, auf alle Roheit und Plumpheit des Volkslebens zurückwiesen, zuweilen wie ein Rätsel, dass er so elegante Töchter haben könne — dass ihm eine wirkliche Gräfin den Suppenteller reichte und eine blonde Schönheit wie Ellen die entfallene Serviette aufhob.

      Und nun gar erst sein Sohn ihm gegenüber — dieser blutjunge, schweigsame Klubmann mit der Gardenia im Knopfloch des Smoking-Coats und der schwarz-grünen Binde über der weitausgeschnittenen plissierten Hemdbrust, auf der, in einen schwarzen Knopf gefasst, ein einzelner mächtiger Diamant blitzte. Alfred war ihm der Vertreter


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