Drachentöter. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Bayern . . .
Er atmete tief auf. Er fuhr weiter, immer weiter, halb wie im Traum, und doch in dem zähen, belebenden Willen: Nach München! Der Wille sass neben ihm und lenkte das Rad. Der Wille rief ihm ins Ohr: Nach München! — und scheuchte Hunger und Durst. Der Wille gab ihm von Zeit zu Zeit einen Rippenstoss: Schlaf nicht! Nach München! Der Manneswille hielt ihn wach. Stund’ um Stunde durch dämmerndes Land. Schon schwindet das Holzfachwerk der fränkischen Bauernhäuser und macht den langen, flachen Dächern der weissen, altbayerischen Höfe Platz. Der Himmel wird fahl. Die Hähne krähen. Hütet euch vor dem gallischen Hahn, ihr Freunde in München — ihr Blutbrüder des grossen Kriegs . . . Ich komme . . . ich komme . . . . . .
Wenn nur das Benzin reicht! . . . Er opferte eine Minute . . . Schaute nach . . . Der Lebensstoff stand nur noch einige Zoll hoch im Tank. Er presste die Lippen zusammen. Fuhr weiter. Es muss langen . . . bis München . . . .
Heller, grauer Herbsttag. Kalt die Luft hier oben auf der bayerischen Hochebene. Noch schlummert die Welt. Kein störendes, verschlafen auf falscher Seite trottendes Bauernfuhrwerk auf der Strasse. Er horchte im Fahren, ob es im Motor knallte — ob die Zündung aussetzte. Noch war Benzin da. Er pumpte Druckluft nach. Weiter. Weiter.
Die ersten Leute am Weg. Viehhändler. Ein Bulle zwischen ihnen, mit verbundenen Augen. Schaut, wie ihr mit dem Biest fertig werdet! Ich habe keine Zeit, zu stoppen! Ich muss nach München. Ein Gendarm. Er geht im Dienst über Land. Er blickt gleichmütig dem Auto nach. Gott sei Dank! . . . Herrgott im Himmel — wenn du endlich mal wieder was für Deutschland übrig hast, dann lasse mir ein paar Tropfen Benzin im Tank . . . Die Benzintropfen, die hier fehlen, die fliessen als Blutiropfen überm Rhein . . . .
Noch immer läuft der Wagen . . . läuft . . . läuft . . . läuft . . . Lauf’, lieber Wagen: Du hast Deutschlands Todfeinden, seinen unterirdischen Maulwürfen und giftigen Nattern, gedient. Jetzt bist du. Deutschlands glüchaft Schiff! Trägst Leben und Freiheit deutscher Männer!
Er hätte auf die heisse Haube des Motors klopfen mögen wie der Reiter auf die Mähne des treuen Rosses: Halte nur aus — halte nur aus — dass dir nicht im letzten Augenblick die Lebenskraft versiegt . . . Himmel — hilf — hilf einem guten Deutschen . . . Hier ist das Land des frommen Glaubens . . . Überall hier am Weg hängt der Heiland am Kreuz, lächelt im Opferschrein das Bild unserer lieben Frau . . . Tu’ ein Wunder . . . Lasse den Tank nicht leer werden — bis München . . .
Er blickte nach vorn in die Weite und lachte — zum erstenmal seit Monaten überzog das alte, verwegene, siegestrotzige Lachen des Kampffliegers sein bartloses, von der Gefängnishaft bleiches Gesicht. Fern — geisterhaft hob sich in der grauen Morgenluft ein Zwillingspaar von Türmen mit stumpfen Hauben aus einem undeutlichen Nebelmeer . . . die Frauentürme grüssten — das Wahrzeichen Münchens . . . München . . . Da war München . . . . . .
Er steuerte darauf zu. Nahe vor der, einsam im Feld stehenden Tafel: ‚Burgfrieden der Stadt München’ machte er halt. Es lag da am Weg, ein windschiefes, baufälliges, hölzernes Stade! — eine leere Scheune — während des Krieges unbenutzt und zerfallen, der Dachplatten beraubt, dass der Herbsthimmel durch die Sparren lugte. Das Tor hing noch halbwegs in den Angeln. Er drückte es auf und lenkte das Auto vorsichtig hinein und legte wieder den Holzriegel vor das Tor. Aus dem, auch jetzt im Herbst, noch feuchten Moorboden der Zufahrt quoll das Wasser und bedeckte die gegitterten Eindrücke der Gummiräder. Es vergingen jedenfalls Stunden, ehe man, durch Zufall, die Limousine da drinnen fand — oder Tage — vielleicht hier in der Einsamkeit, Wochen und Monate . . . . . . . . . . . .
Bisher war die Strasse um ihn leer gewesen. Jetzt rollte ein Milchwägelchen um die Waldecke, die Kannen hinten, ein Köter nebenher. Der Kutscher nahm den Mann am Weg gutmütig mit nach München. Da war schon Schwabing. Sie fuhren durch das Siegestor. Die Ludwigstrasse entlang. Am Odeonsplatz dankte der Fahrgast, schüttelte dem rosigen jungen Milchmann die Hand und sprang ab. Über ihm, in den Lüften, dröhnten die Glocken der Theatinerkirche. Er entsann sich, dass heute Sonntag sein musste. Um ihn strömte es auf dem Platz von Andächtigen auf dem Weg zur Messe. Er hatte Sorge vor zu viel Menschenaugen. Er ging eilig durch das Taubengeflatter des Pflasters hinüber nach dem noch ganz leeren Hofgarten, von wo man seitlich, hinter der Residenz herum, unbeachtet auf einem Umweg das mittelalterliche Gassengewirr des ältesten München erreichen konnte. Unter der Torwölbung der Arkaden hörte er hinter sich rufen:
„Baron!. . . Baron!“
Er achtete nicht darauf. Er schritt eilig weiter. Er war kein Baron. Er konnte den Anruf nicht auf sich beziehen. Aber da vernahm er ganz nahe im Rücken eine scherzhafte Fistelstimme:
„Na . . . Barönchen! . . Baron Bartelmann . . . laufen Sie doch nicht so!“
Es schlug ihm jemand freundschaftlich auf die Schulter. Er drehte sich um und sah einen kleinen, dicken Herrn mit einem faden, runden Kladderadatsch-Gesicht und einem ebenso runden Einglas darin, streng nach englischer Mode gekleidet, dazu kokett ein bayrisches Hütl mit grünem Band und Gamsbart auf dem Kopf.
„Na — haben Sie heute nacht auch noch weiter geschwiemelt, oller Kronensohn?“ schäkerte der Dickling. „Auf einmal waren Sie weg! Sie verschwinden immer so geheimnisvoll . .“
Der andere sah ihn schweigend und finster an.
„Da bin ich ’ne andere Nummer! Ich hab’ mir den Konaki, den faulen Kopp, noch ’mal ins Gebet genommen, dass wir die Perser Teppiche endlich über die Grenze kriegen! . . . Im Beisein von Aristides Dukas . . .“
„So . . .“
„Der olle Devisen-Fritze ist ja ooch mit äusserster Vorsicht zu geniessen! . . . Na — wir sind die alte Garde — was . . .Baron . .? Uns kann keiner . . . Sagen Sie ’mal: Apropos: Kennen Sie mit Ihren ausgezeichneten, westöstlichen Verbindungen — west-östlich ist jut — was? — kennen Sie einen Diamantenaufkäufer Parisell? Ist der Mann seriös? Ich glaube, ’s ist ’n Lümpchen! Ich frühstücke nachher mit ihm!“
„Ich kenne weder Sie noch diesen Menschen!“
„Nanu — Spass . . . Ihr Kater ist, scheint’s, nicht von schlechten Eltern, lieber Bartelmann!“
„Ich bin nicht der Baron Bartelmann . . .“
„Ja — wer denn?“
Der andere hemmte auf den Lippen die zu schnelle Antwort: „Mein Bruder ist’s!. . . Mein Bruder — wieder in einer anderen seiner vielen Gestalten — lichtscheu mitten in einem Rattenkönig von Balkanschiebern und Berliner Raffkes — zusammen mit diesem Burschen da die Seele irgendeines Schlawiner-Klüngels . . . . .
Also es ist wahr: Er ist in München! . . . Er geht hier umher! . . . Und seine eigentliche Beute hier — das sind nicht Teppiche, nicht Diamanten und Devisen — diese Geschäfte macht er nur nebenbei — sein Edelwild sind Menschen, sind meine Freunde — meine ahnungslosen Freunde hier in München . . . . .
„Sie sind so komisch heute, Baron!“ Das dicke Kerlchen vor ihm blinzelte ihn kurzsichtig an. Er reichte ihm die Hand.
„Also nehmen wir an, ich bin der Baron Bartelmann!“ sagte er. „Aber nun entschuldigen Sie mich, bitte! . . . Ich habe dringende Geschäfte!“
Er liess den verblüfften kleinen Schieber stehen. Er eilte mit langen Schritten durch den menschenleeren Hofgarten. Er ging auf dem knirschenden Kies an dem Musik-Kiost vorbei. Er setzte die Füsse allmählich langsamer, schleppender. Es waren jetzt mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, seitdem er sich durch das Zellenfenster gezwängt. Diese ganze Zeit hatte er sich, mit Ausnahme der Viertelstunde Schlaf am Abend, aufrechtgehalten. Nun, ohne die belebenden Luftwirbel der Fahrt — im plötzlichen Lärm und Leben der Stadt nach der Einsamkeit des Gefängnisses —, in der ungewohnten Anstrengung des Gehens —, nun kroch ihm unversehens, bleiern die Ermattung von den schwer gewordenen Füssen in die Knie — legte sich ihm um das Herz. Er fand keinen Atem mehr. Auf der letzten Bank, am anderen Ende des Hofgartens, setzte er sich für einen Augenblick hin, schöpfte tief Luft; schaute leer den Spatzen zu, die am Boden zirpten. Es summte ihm in den Ohren. Schwarze Pünktchen tanzten ihm vor den Augen. Dann fühlte er seine