Das rote Meer. Clara Viebig

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Das rote Meer - Clara Viebig


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ganz von selber sprach Lili; sie war zu erfüllt davon, ihre Lippen konnten es nicht länger verschliessen. In einer tiefen Bewegung schloss die Mutter sie in die Arme: Gott sei Dank, Lili hatte sich ganz zurückgefunden. Und wenn sie nach dem Kriege dieses Mannes Frau wurde, eines deutschen Mannes, dann konnten die Eltern beruhigt über das Schicksal des einzigen Kindes sein.

      Hermine von Voigt fühlte sich jetzt oft seltsam müde. Drei Jahre des Krieges zählen nicht nur doppelt, nein, drei- und vierfach. Besonders für den, der sie erlebte, wie sie sie erlebte. Sie hatte gebangt und gejubelt, angstvoll gezweifelt und stolz wieder geglaubt; in alle Tiefen war sie mit hinabgestürzt, auf alle Höhen mit hinaufgeklommen: ja, sie glaubte an Deutschlands Unsterblichkeit.

      Die General-Offensive der Feinde war ermattet; Spätsommer war’s, ein paar Monate noch, und Eis und Schnee legte den Kämpfen Fesseln an. Wer weiss, ob dann das Friedensangebot, das im vorigen Winter schnöde abgewiesen worden war, nicht gern angenommen wurde? Die Generalin teilte die Ansicht ängstlicher Gemüter, dass Amerika der Entente doch noch den Sieg gewinnen würde, nicht. Amerika hatte freilich Hilfsmittel zur Verfügung, wie sie kein anderes Land besass, aber ein Brief ihres Mannes hatte sie beruhigt. ‚Ein Land, das kein stehendes Heer hat wie wir seit Menschengedenken, ist für uns nicht zu fürchten‘, schrieb der General. ‚Ein Heer lässt sich nicht in der Geschwindigkeit heranbilden. Wie will Amerika überdies Truppen in Masse herüberschaffen? Das verhindern unsere Tauchboote‘ — — — —

      Heute ging Hermine von Voigt mit einem Lächeln nach der Villa Bertholdi. Sie wollte gratulieren. Gestern abend hatte sie im Heeresbericht gelesen: ‚Leutnant Bertholdi besiegte seinen fünfzehnten Gegner im Luftkampf. Er wurde ausgezeichnet mit dem Pour le mérite.‘

      Glückliche Mutter! Wie musste der zumute sein, die einen Helden geboren hatte?! Wieder fühlte Hermine von Voigt den gleichen Taumel, jenes trunkene Glück, das sie bei dem ersten Siege wie auf goldener Wolke erhoben hatte. Lange hatte sie nicht mehr so empfunden. Man war doch stumpf geworden durch die Dauer des Krieges, man weinte nicht mehr so bitterlich, man freute sich nicht mehr so stürmisch, man hasste nicht mehr so glühend. Es war, als ob nicht nur der Seele, nein, auch dem Körper die Kraft dazu genommen wäre. Heute aber war wieder etwas von der alten begeisterten Freudigkeit in der Frau. Oh, wenn sie doch auch solch einen Sohn hätte! Die Hände würde sie ihm unterbreiten, ihrem Helden, ihn mehr lieben, als je ein Sohn auf Erden geliebt wurde. Gott sei Dank, dass Deutschland solche Söhne hatte! Sie waren Gnadengeschenke, helle Sterne in der Finsternis. Waren der Feinde noch so viele, waren sie auch noch so tapfer, deutsches Blut, deutscher Heldenmut stürmte voran. Das Siegesreis in der erhobenen Hand, voran, immer voran. Und bräche am Ziel der Held zusammen, dann nicht klagen. Gibt es denn etwas Höheres? Stolze, glückliche Mutter!

      Hermine von Voigt fühlte es wie einen Trost: auch ihr wurde teil an solchem Sohn, wenn sie ihn gleich nicht selber geboren hatte, Heinz Bertholdi wurde Lilis Mann. Bertholdis waren ebenso glücklich über diese Aussicht, wie sie es war. Von einem Verlöbnis war noch nicht die Rede, die beiden hatten noch nichts Bindendes gesprochen, aber es war ein stillschweigendes Übereinkommen. Lili besuchte täglich das Bertholdische Haus, Frau Bertholdi zeigte es deutlich, dass ihr keine Schwiegertochter willkommener sein könnte, und Lili hing mit Zärtlichkeit an der Mutter des geliebten Mannes. Mitten aus dem wilden Meer des Krieges hob sich wie ein seliges Eiland dieses werdende Glück.

      Hermine von Voigt sah sich mit leuchtenden Augen um: die Sonne noch so sommerwarm, glanzvoll strahlend. Es war heiss; sogar dürr und heiss, man hatte darunter zu leiden. Nicht nur Mensch und Vieh, auch die Felder. Wie eine Walstatt, zerfetzt und zerstochen von den Strahlenschwertern der roten Sonne, standen die Äcker. Die Blätter der Futterrüben welk, die Kohlköpfe klein und von Ungeziefer grau überlaufen; nichts Saftiges, nichts Frisches. Das Kartoffelkraut braun, dürr vor der Zeit, man konnte es zwischen den Fingern zu Pulver zerreiben. Um Gottes willen, man würde doch nicht wieder einen ganzen langen Winter Kohlrüben essen müssen anstatt der Kartoffeln?! Was den Kartoffeln der vorige Sommer an Nässe zuviel getan, das schadete ihnen jetzt die Trockenheit. Niedrig hatte das Korn gestanden und dünn im Stroh; nirgends eine schwere Ähre. Notreif musste man es einfahren, am liebsten gleich draussen ausdreschen, man hatte es ja so nötig. Zudem, wer Pferde sparen konnte, der sparte sie, schier brachen die alten Mähren zusammen. Was tauglich war, das war an der Front, Pferde wie Menschen.

      Aber dem Obst tat dieser Sommer gut. Frau von Voigt sah mit erfreutem Blick die beladenen Bäume rechts und links in den Gärten. Die brachen fast unter ihrer Last. Ein reicher Obstsegen überall. Freilich, ob man viel davon spüren würde? Marmelade, Marmelade, alles zu Marmelade. Die war mit Sacharin gesüsst, das verdarb den Geschmack; Zucker gab’s nicht. Und ob man noch Marmelade reichlich bekommen würde? Immer hiess es: es ist alles da, und doch bekam der einzelne nichts. Wo blieben denn all die Lebensmittel? Fürs Heer, fürs Heer! Für das Heer, für die draussen wollte jeder gern entbehren — aber bekam das Heer denn alles?!

      Bei ihrem Amt im Lebensmittelverkauf der Gemeinde hörte Frau von Voigt die Frauen sprechen. Sie drängten sich vor den Verkaufstischen, standen in langen Reihen, und die hinteren glaubten sich unbelauscht. Aber die Stimmen der anfänglich nur Flüsternden wurden oft erregt laut, man konnte die Ohren nicht verschliessen, zu hören.

      „Mein Mann schreibt: ‚Seit drei Wochen kaum warmes Essen, oft bloss ’n Salzhering. Und keine Kartoffeln dazu.‘ Keene Kartoffeln, det ist’t Schlimmste.“

      „Ja, aber die Offiziere, die schlagen sich ’n Bauch voll. Die wer’n sich bedanken, so zu hungern. Abends Bratkartoffeln, det der schöne Jeruch bis in’n vordersten Iraben zieht.“

      „Un da soll einer noch Lust haben, sich dotschiessen zu lassen?“ Eine Blasse mit hungrigen Augen krächzte und hustete. „Ich habe meinen Mann aber ooch jeschrieben: wenn se dir nich jeben, denn nimm dir; un wenn de det nich kannst, denn schmeiss hin. Die Franzosen sind ooch Menschen, un die ha’m noch wat, lauf bei die rüber. Bei die Engländer un Amerikaner jiebt’s erst recht wat Fettes.“

      „Aber denn sind se doch gefangen,“ sagte zittrig ein altes Mütterchen. Ihr zahnloser Mund war blass, sie war schwach von dem langen Stehen auf geschwollenen Füssen, eingekeilt in der sich drängenden Menge der Käuferinnen. „Mein Sohn is in Gefangenschaft, das is mir fast schlimmer als tot.“

      „Quatsch!“ Eine grosse vierschrötige Person stiess sie in die Seite. „Ha’m Se sich bloss nich so. Uns machen Se doch nischt vor. Wenn man satt hat, so satt, wie wir seit Jahr und Dag nich mehr werden, denn kann et einem janz ejal sein, ob französch oder englisch oder amerikansch. Meinetwejen russisch, oder jelb wie de Affen, die Japanesen.“

      „Nein, nein,“ die Alte war hartnäckig, „ich will deutsch bleiben und deutsch sterben.“

      Die Vierschrötige lachte auf. „Deutsch sterben?!“ Sie mass die jämmerlich Zusammengeschrumpfte mit spöttischem und zugleich mitleidigem Blick. „Na, det kann Ihnen leicht passieren.“

      „Will ich auch,“ murmelte die Greisin. „Was soll ich noch hier? Mein Junge gefangen, wer weiss, ob er je wiederkommt — meine Tochter hat die Schwindsucht, ‚unterernährt,‘ sagt der Doktor. ‚Butter, Eier, Milch —‘ lieber Gott, wo soll man die herkriegen?!“

      Ein Murmeln ging um. „Ja, ’n Attest kann man schon kriegen vom Doktor.“

      „Kost’ aber jedesmal vier Mark.“

      „Un ob man die Milch denn immer kriegt, oder ’n Iries oder die Haferflocken oder ’t weisse Brot, det is noch sehr die Frage.“

      „Alles fürs Heer!“ Ein heimliches, aber nicht zu unterdrückendes Gelächter erhob sich.

      Oh, es war nicht erfreulich, diese Unterhaltungen mit anzuhören! Frau von Voigts Stirn umdüsterte sich; manches Mal hatte sie sehr darunter gelitten. Aber nein, sich nicht niederziehen lassen von den Erbärmlichkeiten des Alltags! Was bedeutet ein einzelnes Menschendasein gegenüber dem Leben des Vaterlandes? Sie war sich darüber klar, es war schwer, sich nicht umwerfen zu lassen von einer plötzlichen Schwäche. Man durfte eben nicht vergessen, dass nichts erreicht wird ohne Opfer. Jetzt war für alle die Zeit der Opfer. Und es wurden Opfer gebracht, so ungeheure, dass es einem schwindelte:


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