Das rote Meer. Clara Viebig

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Das rote Meer - Clara Viebig


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Dank, dass noch Stunden des Stolzes, der Genugtuung kamen, eine Stunde wie die heutige, in der sie ging, um sich mit der Mutter des jungen Helden zu freuen!

      Die hohe Gestalt der Generalin schritt aufrecht dahin. Die Leute grüssten sie; es kannte sie hier fast ein jeder. Es gab welche, die sich über sie ärgerten: ‚militärfromm, königstreu‘ — aber die Achtung versagte ihr keiner. Sie wussten: die hatte trotz allem Verständnis fürs Volk und ein Herz für die Armen. Als die Dombrowski, die hübsche, lebenslustige Frau, damals bei dem Unglück auf dem Bahngeleise, unter die Räder des Fernzuges kam, der in die Arbeiterinnenkolonne hineinfuhr, nahm sich die Generalin der zurückgebliebenen Kinder an. Der Vater war im Feld und kümmerte sich nicht um die, liess gar nichts mehr von sich hören, man wusste nicht, war er tot oder gefangen. Die Kinder sollten in das Waisenhaus, aber das kleine Mädchen, das noch um die Mutter jammerte, klammerte sich an den Bruder und schrie sich heiser. Da hatte sich denn die Generalin erbarmt und die Kinder zu einer Frau Müller in Pflege getan und bezahlte für sie. Dombrowski konnte sich bedanken, wenn er noch mal wiederkommen sollte, der Junge war längst nicht mehr so ein Strolch, das Mädchen wurde immer niedlicher.

      Es wäre Hermine von Voigts grösster Wunsch gewesen, Verwundete zu pflegen; aber sie fühlte, dazu war sie nicht jung genug mehr; sie hatte nicht die Kräfte, Tag für Tag in aller Frühe ins Lazarett zu gehen und dort auf den Füssen zu bleiben bis zum Abend. Es war ein schmerzliches Bescheiden. Ach, wer das noch leisten konnte, der war am glücklichsten daran. Blut und Wunden wird man gewöhnt, und haben sich die Pforten des Lazaretts einmal geschlossen, so ist man in einer Welt für sich. Mit dem Stundenschlag geht die Pflichterfüllung, eigene Gedanken sind ausgeschaltet, man hat zu ihnen nicht Zeit. In die hohen Krankensäle mit den dichtgereihten Betten tritt das nicht ein, was das Leben vor den Pforten so schwer macht — alle Angst vor der Zukunft bleibt draussen. Hier ängstigt man sich nur um die nächste Stunde: glückt die Operation? Wie wird der Kranke erwachen? Man fragt nicht: wie wird Deutschlands Schicksal sein? Wird das deutsche Volk auch durchhalten? Hier fragt man nur: wird dieses junge Blut genesen?

      Hermine von Voigt konnte es nicht verstehen, dass Lili und Annemarie sich solche Freuden entgehen liessen; die waren doch jung und kräftig genug. Sie hatte es von der Tochter anders erwartet, die aber lächelte träumerisch:

      „Ich kann nicht, Mutter. Wenn ich unglücklich wäre, dann ja, dann würde ich gern pflegen. Aber jetzt — ich bin zu glücklich!“ Sie sah rührend schön aus mit dem verklärten Lächeln. „Vielleicht, dass ich auch all meine Kräfte sparen muss, dass ich die alle noch brauche.“

      Unter den grossen Linden im Vordergarten stolperte der kleine Rudi Bertholdi an der Hand der Wärterin herum; im Zimmer ging es besser, da lief er schon flink von Stuhl zu Stuhl, hier bohrten sich seine kleinen Fussspitzen ungeschickt in den hohen Kies. Hinter dem hübschen Kind mit den braunen Ringellöckchen ging lachend die hübsche Mutter. Sie hatte sich in den Arm von Lili Rossi gehängt.

      Es war wie lauter Heiterkeit: das freundliche Haus, der gepflegte Garten, das Kind im weissen Röckchen, die beiden jungen Frauen in lichten Kleidern. Leute, die am Gatter vorübergingen, staunten: die dadrin merkten noch nichts vom Krieg. Das Kind hatte ja Bäckchen wie ein Apfel; wenn man dagegen die anderen Kinder ansah: alle blass, welk. Wovon sollten die auch dicke Backen haben? Nur die ganz kleinen bekamen noch ihre Milch, für die anderen gab es keine. Und wie fein die Damen angezogen waren!

      Annemarie lachte übermütig. Sie war heute fast ausgelassen vergnügt: das war grossartig, Schwager Heinz den Pour le mérite bekommen! Schade, dass Rudolf nicht auch Flieger war, es war da viel leichter, ausgezeichnet zu werden. „Er muss mal ’ne ordentliche Heldentat vollbringen, ich warte immer aufs Kreuz Erster; sonst schäme ich mich ja!“ Ihr klangvolles rheinisches Lachen schallte bis in die Veranda, wo Hedwig und Frau von Voigt am Teetisch sassen.

      Die beiden hatten lange und vertrauensvoll miteinander gesprochen; es war das erste Mal, dass sie die Zukunft ihrer Kinder berührten. Hedwig schloss die Augen wie geblendet — Heinz, ihr Sohn, ein so berühmter Flieger? „Es ist mir wie ein Traum. Oft frage ich mich: ist das der Junge, der in der Schule nicht lernen wollte? Er hat mich oft Tränen gekostet. Rudolf nie. Aber er — o weh, die Zensuren! Ich habe manches Mal darüber geweint.“

      „Nun haben Sie doppelte Freude an ihm,“ sagte die Generalin herzlich.

      Hedwig nickte: „Grosse Freude.“ Sie war den ganzen Tag schon blass vor innerer Erregung. Es war etwas Übermächtiges auf sie eingestürmt, als sie gestern im Abendbericht von der Auszeichnung ihres Sohnes las. „Du bist ordentlich grösser geworden,“ neckte sie ihr Mann. Ach nein, nicht den Kopf zu hoch tragen! Fast ängstlich wehrte Hedwig alle Glückwünsche ab. ‚Bist du aber mal komisch,‘ sagte Annemarie; sie ärgerte sich über die Schwiegermutter: warum sich denn nicht mal so recht freuen?

      In Hedwigs Seele war ein Bangen: Heinz hatte zuviel Glück, erst diese Erfolge, und dann —! Ihr zärtlicher Blick flog die Stufen der Veranda hinab in den Garten. Da stand Lili mitten im Licht, um ihr blondes Haupt wob die Sonne einen Strahlenkranz. „Ich hoffe sehr, dass Heinz bald auf Urlaub kommen kann.“

      Der Mütter Augen lächelten sich zu. Jede von ihnen spann den Gedanken weiter: wenn er hier wäre! Ja dann, dann würde er schon den richtigen Weg einschlagen, um Lili zu überzeugen, dass sie dem Toten nun lange genug die Treue gehalten hatte.

      „Sie liebt Ihren Sohn sehr,“ sagte Frau von Voigt.

      Ein glückliches Rot floss über Hedwigs zartes Gesicht. Und wie ihr Heinz die schöne Frau da liebte, das wusste sie auch. Mit dem feinen Instinkt des Mutterherzens ahnte sie: es war nur Lilis wegen gewesen, dass er plötzlich unter die Flieger gegangen war. Lili hatte ihn abgewiesen; er hatte zu früh gefragt. Aber nun konnte er fragen. Sie empfand es fast mit Ungeduld, dass er noch nicht hier war, dass er sich nicht nahm, was sich ihm gern zu eigen geben würde. Da war Rudolf anders gewesen: kommen, sehen, lieben, nehmen. Wie es Rudolf jetzt wohl gehen mochte? Er stand zuletzt in der Gegend von Reims; sie hatten schon eine Weile nichts von ihm gehört. Es berührte die Mutter schier merkwürdig, als sie jetzt seine junge Frau so lachen hörte.

      „Glauben Sie, dass es bei Reims sehr schlimm ist?“ fragte sie plötzlich angstvoll. Es war ihr auf einmal, als sei ihr Rudolf, ihr Jüngster, zurückgesetzt vor dem Ältesten; man hatte ihn über dessen Ruhm vergessen. Ihre Liebe wallte auf: gerade um Rudolf, gerade um den sorgte sie ja am allermeisten. „Ich las von starkem Feuer bei Reims.“ Ihre Augen hingen am Gesicht der anderen.

      Die Generalin hatte etwas Beruhigendes in der Stimme. „Es scheint rege Artillerietätigkeit. Aber die Infanterie greift bis jetzt nicht ein. Ich glaube, Sie können ganz ruhig sein.“ Ihre warme Hand legte sich auf die kalten nervösen Finger. „Liebste Frau, machen Sie sich doch keine unnützen Gedanken. Wir wollen uns die frohe Stunde nicht trüben. Sie bekommen sicher bald Nachricht.“

      „Meinen Sie?“ Die kalten Finger zuckten. Aber dann rüttelte Hedwig sich, als schüttele sie etwas Quälendes von sich ab, es glitt ein Sonnenschein über ihr Gesicht. „Wie wird Rudolf sich freuen, wenn er seinen Jungen wiedersieht! Beim letzten Urlaub war der noch nicht viel mehr als ein kleines Tierchen: essen, trinken, schlafen. Wie hat er sich in den sechs Monaten entwickelt! Er ist schon ein Mensch, ein kleiner glücklicher Mensch. Er lacht den ganzen Tag, weint nie.“ — —

      Unter der Linde standen sie jetzt alle zusammen um das Kind herum. Das zeigte, wie gross es war, machte ‚bitte, bitte‘ und spielte ‚Guckguck‘. Annemarie wollte es haschen, da verbarg es mit hellem Aufjubeln sein Köpfchen im Kleid der Grossmutter.

      Am Zaun standen zwei Kinder. Sie lugten durch die Gitterstäbe, das Mädchen klemmte gleich den ganzen Kopf durch. „Du,“ sagte Minna Dombrowski zum Bruder, „da drinne is et scheene, wat?“ Ihre Augen leuchteten; sie hatte ganz dieselben dunklen dreisten Funkelaugen, wie ihre verstorbene Mutter, die hübsche Minka Dombrowski, sie gehabt hatte. „Ick wünschte, wir könnten dadrinne ooch mal spielen.“ Immer weiter streckte sie den Kopf vor, nun schlüpfte auch die Hand durch und bog die Zweige des verdeckenden Gebüsches zur Seite.

      „Zaungäste!“ Alle blickten hin.

      Au weh, da war ja auch die Frau von Voigt! Vor Schreck


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