Das rote Meer. Clara Viebig

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Das rote Meer - Clara Viebig


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dem deutschen Landstürmer getauscht, hatten aus einer Flasche Wodki mit ihm getrunken: ‚Gesundheit! Du sollst leben! Warum Feindschaft miteinander, ich bin Mensch, du bist Mensch, unsern Acker wollen wir bauen, Gottes Sonne sehen, nicht im dunklen Graben sitzen. Russland ist gross, Väterchen ist weit, wir wollen nicht länger schiessen mehr.‘ Und sie hatten ihre Tornister hingeschmissen, ihre Flinten — wie Kinder, die hinter die Schule laufen — und hatten den, der sie antreiben wollte so wie einst mit der Knute, gutmütig grinsend zu Boden geschlagen. Nein, Russland war nicht mehr zu fürchten, und doch — wenn das Feuer nun um sich frass? Über die Steppen, über die Brachen, über die flachen Grenzen fegte der Wind, Funken trieb er vor sich her. Die sind gefährlicher als lodernde Flammen, denn unbemerkt kommen sie. Sie fallen aufs Hüttendach, sie nisten sich ein im Stroh; ehe man ihrer recht gewahr wird, lodert die Flamme schon im Nachbarhaus.

      Eine heisse Röte stieg der Frau ins Gesicht. Nur keine Angst! Ihre hohe Gestalt richtete sich energisch auf. Nicht verzagen — vom Verzagen ist nur ein Schritt zum Versagen. Verzagte denn ihr Mann? Er hatte es schwer im Westen. Nein, er blieb immer derselbe. Doch konnte man die gleiche Ruhe, die gleiche Unerschütterlichkeit, die gleiche Geduld von denen hier verlangen, die wie Lasttiere ihre Tage hinschleppten, neben der Sorge um das Leben des Mannes gepeinigt wurden von den tausend Nadelstichen der Angst: wovon satt werden? Das Leben war so entsetzlich teuer, wurde es mit jedem Tag mehr. Auch kein Schuh mehr zu bekommen, kein Strumpf, kein wollenes Kleid. Und hatte der, der sich um des Lebens Notdurft nicht in gleich schwerer Weise abängstigen musste, es nicht doch ebenso schwer, vielleicht noch schwerer? Ihm gehen nicht alle Gedanken unter in der Sorge ums tägliche Brot, ihm bleiben noch der Gedanken übrig — ach, zu viele! Die Hände der Frau schlangen sich ineinander.

      Horch, die Glocken! Wie sonst an jedem Wochenende den Sonntag, so läuteten sie heute abend den morgenden Neujahrstag ein. Ein dünnes, erbärmliches Gebimmel. Die grosse, feierliche Glocke, die alles übertönende erzene Stimme, wo war sie?! Herminens Augen füllten sich mit Tränen, sie fühlte sich plötzlich hilflos und verlassen.

      Das Mädchen kam herein. „Verzeihen Exzellenz! ’s ist ’n Mann draussen in der Küche, er muss Frau Generalin durchaus einmal selber sprechen.“ — —

      In der Küche stand ein Mann. Er tat ganz vertraut, obgleich er noch nie in dieser Küche gestanden hatte. Er war in Feldgrau, er sah sehr respektabel und ordentlich aus. „Sie haben doch schon öfter Butter von mir gekauft,“ sagte er zwinkernd.

      „Butter —? Dass ich nicht wüsste. Die habe ich lange nicht gegessen.“ Die Generalin sah ihn von oben herab an. Ihre Stimme klang abweisend.

      Der Mann lachte verständnisvoll. „Verzeihen die Dame, schön dumm! ‚Hinten herum, nee, is nich,‘ so sagen sie alle anfangs. Und nachher kaufen sie doch alle. Gnädige Dame, was sollen die Leute denn auch machen? Von dem, was es auf Karten gibt, kann doch kein Mensch existieren.“

      „Ich kaufe nichts hinten herum. Andere leben auch davon.“

      „Kann sein.“ Der Schieber zog die Achseln hoch. „Ich leiste aber keinen Eid drauf. Sie würden sich schön wundern, Gnädigste, wer alles bei mir kauft. Wenn die Leute selber alles befolgen sollten, was sie verfügen — na! Und nich nur die Herrschaften kaufen, nee, ganz einfache Leute, Sie sehen’s denen gar nicht an, was die draufgehen lassen.“

      „Das ’s auch wahr,“ fiel die Köchin ein. Sie stand mit unzufriedener Miene: warum kaufte die Gnädige denn nun nicht? Es war wahrhaftig nicht üppig, was immer auf den Tisch kam. Und jetzt war’s dunkel, keiner sah’s. Wenn die Gnädige heute nichts kaufte, dann kündigte sie bestimmt morgen, sie hatte es nun satt.

      „Bei unserm Flickschuster haben sie morgen Schweinebraten,“ sagte sie vorwurfsvoll, „und unten bei Portiers — na, gehn Exzellenz nur mal runter und riechen, die haben heut abend ’was Feines!“

      „Wie ist es heut mit ’ner schönen Gans — genudelt — mindestens fünf Pfund Fett, ich garantiere. Und ’ne Leber — Stopfleber — allein ’n Mittagessen!“ Mit triumphierender Miene zog der Händler eine Gans aus dem Handkoffer, den er wie ein auf Reisen Gehender bei sich trug.

      Die Augen der Köchin erglänzten: wahrhaftig, eine wunderbare Gans, speckfett, das reine Mastschweinchen. „Wie teuer?“ fragte sie und wog das schwere Gewicht auf beiden Händen.

      Der Schieber lächelte geschmeichelt: „Das Fräulein versteht was.“ Und dann blinzelte er. „Zwölf Mark das Pfund — sechzehn wiegt se — das ’s nicht teuer für so ’ne Ware, was, Fräulein? Andere nehmen achtzehn dafür. Aber ich will Schluss machen heut abend, ’s is die letzte. Sechse hab ich heut nachmittag hier schon verkauft. Die gefällt, was, gnädige Dame?“

      Die Generalin fuhr zusammen, sie hatte, ganz in Gedanken verloren, auf die Gans gestarrt. So etwas gab es also doch noch? Das, was man an Geflügel in den Läden der Stadt sah, war mager, wochenlang lag überhaupt nichts in den Schaufenstern. Solch eine Gans hatte sie nur einst daheim auf dem Gute gesehen. Merkwürdig, mit einem Male stand das Elternhaus vor ihr.

      Wie die Mamsell in der Küche hantierte! Die Ärmel hatte sie aufgestreift über die vollen Arme, mit einer Geschicklichkeit wie ein Operateur zog sie auf dem weissgescheuerten Küchentisch einer Gans nach der andern die Fettwammen aus dem Leibe. Spickbrüste wurden gemacht, Gänseweisssauer, Leberpasteten — auf die legte der Vater besonderen Wert, die gab es zu seinen Jagddiners. Und wie würzig es hier roch! Nach Honig, nach Zimmet, Zitrone, Nelken, nach den leckeren Pfefferkuchen, die Mamsell Lieschen zu Weihnachten buk. Zu Silvester gab es immer Berliner Pfannkuchen mit Himbeer- oder Erdbeermarmelade gefüllt, in reinem Schweineschmalz ausgebacken; der Duft schwebte in einer leisen Wolke von der grossen Küche im Erdgeschoss die breite Treppe hinauf in die Herrschaftszimmer. Untrennbar war er von Festzeiten, von fröhlichen Gästen, von behaglichem Geniessen, von unbekümmerten Stunden, von der Zufriedenheit und dem vollen Genüge glücklicher Friedensjahre.

      Die Frau empfand plötzlich ein Bedauern und ein jähes Verlangen. Es wurde ihr schwach — die Gans, die Gans! Sie musste sich setzen, sie hatte auf einmal ein Hungergefühl, eine innere Leere zum Ohnmächtigwerden. Was sprachen die noch? Es lag auf ihr wie eine Lähmung. Aber sie hörte den Schieber mit der Köchin verhandeln.

      „Haben Sie auch Butter?“

      „Jederzeit.“

      „Wie teuer?“

      „Vierundzwanzig Mark.“

      „Und Eier?“

      „Ganz frische. Stück: eine Mark funfzig. Butter, Eier, Wurst, Speck. Sie brauchen mir nur zu schreiben. Aber im geschlossenen Brief; die passen verflucht auf. Für viertausend Mark Waren haben se mir schon mal weggenommen. Nu aber nich mehr!“ Er lachte. „Es lernt sich jeder aus mit dem Hintenherum.“

      „Ich nicht.“ Hermine von Voigt ermannte sich. Ihr Ton war schroff: „Packen Sie ein; ich nehme nichts.“

      „Na, denn ’n andermal.“ Der Schieber nahm es nicht übel, gelassen bettete er seine Gans in den Handkoffer. „Gehn wir noch ’ne Tür weiter. Der Herr Rechnungsrat drüben hätte ihr liebend gern genommen für seine kranke Frau, beinah geweint hat er, aber er hat’s Geld nich dazu.“ Mit einem „Auf Wiedersehen die Damen!“ schob er sich leise zur Tür hinaus.

      Was war das?! In einem Wirrwarr von Empfindungen blieb die Frau zurück. Der alte Geheimrat drüben hätte gern gekauft für seine kranke Frau, er hatte nicht das Geld für solche Preise — sie selber hielt es für Ehrenpflicht, nicht zu kaufen — ‚Schön dumm,‘ sagte der Schieber, sechs der kostbaren Gänse war er an einem Nachmittag hier losgeworden — beim Flickschuster im Keller gab es Schweinebraten — andere kratzten gierig das Strassenpflaster ab — welche Unterschiede! Der Beamte war ärmer als der Proletarier, Bildung und Unbildung, Vorteile und Vorurteile, Ansichten, Meinungen, Stände, alles verrückte dieser Krieg. Und auch die Überzeugung von Recht und Unrecht. Wie ein Chaos gähnte das neue Jahr sie an.

      Im bleiernen Schlaf dieser Nacht, in schweren Träumen wurde Hermine von Voigt verfolgt von sechs Gänsen. Die spazierten, schon ohne ihr weisses Federkleid, lustig schnatternd, feist und wohlgemut


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