Das rote Meer. Clara Viebig

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Das rote Meer - Clara Viebig


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Minna am Arme trug, lagen die gelbe, die grüne, die weisse und die rosa Karte. Sie warf ab und zu einen besorgten Blick darauf: alle noch da. Nun war sie bald am Konsumverein. Ach, vielleicht kriegte sie da einen Bonbon zu! Der Erich hatte neulich mal einen gekriegt. Ihre kleine Nase schnupperte, sie leckte sich über die Lippen. Da gab es Bonbons, die färbten die Zunge rot; welche waren auch so hart, dass man sie nicht durchbeissen konnte, und welche schmeckten nach Farbe, aber es gab auch welche, die schmeckten schön süss. Vor ihrer Phantasie gaukelten die Bonbons, die die Mutter ihr in den Mund gesteckt hatte, ehe der garstige Krieg war. Sie hatte lange nichts Süsses gegessen; den Zucker, den man für den Monat bekam, den brauchte die Müllern zum Kochen und tat ihn sich auch in den Kaffee.

      Minna stand in Sehnsucht versunken, ihr Körbchen am Arm.

      Ein Bollerwagen kam angerasselt, der Schmutz spritzte nach allen Seiten. Der Kutscher, ein halbwüchsiger Bengel, peitschte unvernünftig auf die Pferde, die Hufe schlugen das Pflaster, dass Funken sprühten, Fässer und Kisten hopsten und polterten, — da, ein Fass kollerte vom Wagen. Krach. Das Fass war morsch, es zerbrach, der Inhalt floss auf die Strasse.

      Wo kamen nur so schnell auf einmal alle die Kinder her? Und auch die Erwachsenen? Das war ja Sirup, köstlicher Sirup! Wo Wasserlachen zwischen dem holprigen Pflaster gestanden hatten, standen jetzt Siruplachen. Was machte es, dass Füsse gegangen, Wagen gefahren und Pferdeäpfel gefallen waren! Ein Junge kniete nieder, ein anderer stiess ihn weg: „Lass mir ooch mal!“ Bald war ein Gebalge im Gange, die Kinder stritten sich. Und während die Kleinen noch zankten, waren die Grossen schon am Werk. Geschäftige Hausfrauen schöpften mit Löffeln in Töpfe und Krüge. Zum Backen war’s noch ganz schön, und auch wenn man’s den Kindern aufs Brot strich; die assen noch ganz was anderes. Ein Alter besann sich nicht lange, Löffel und Topf hatte er nicht, er schöpfte, sich stöhnend bückend, mit seiner Mütze, der alten Soldatenmütze, die der Enkelsohn auf den Grossvater vererbt.

      Minna war zur Seite gestossen worden, die Jungen waren stärker; nun hatte sie aber doch ein Plätzchen erwischt. Sie leckte und schleckte: oh, so schön süss! Ihr Mund war rundum beschmiert und verbreitert bis an die Ohren, ihre Nasenspitze braun, ihre Schürze zeigte vorn eine Traufe. Die blonden Haare hingen ihr tief ins Gesicht, als sie, auf den Hacken kauernd, sich noch tiefer bückte. Sie war heiss und rot — oh, plötzlich war’s alle! Wie sie auch tunkte, nichts mehr, nichts als das nackte Pflaster.

      Wie aus einem Traum erwachend, stand Minna auf. Ihr Kleid war schmutzig geworden, ganz nass war’s, bis durch auf die Knie. Sie bekam plötzlich Angst: die Müllern würde schimpfen. Und nun fasste sie nach ihrem Körbchen; es war ihr längst vom Arm geglitten. Das Körbchen war noch da, umgestürzt lag’s auf der Seite, aber die Karten, die grüne, die gelbe, die weisse, die rosa, die waren weg. ‚Wenn du se verlierst, denn musste verhungern —‘ „Mutter, Mutter!“ Minna erhob ein lautes Geschrei.

      Warum weinte die Kleine denn so? Die Karten verloren? „Tröste dir man, Kleene,“ sagte eine Frau, deren hohlwangigem Gesicht der Jammer der Zeit seinen ganz besonderen Stempel aufgeprägt hatte: Verbissenheit, Trotz, Verzweiflung, stumpfe Ergebung. „Is ja janz ejal, ob du eene Woche früher verhungerst oder eene später. Krepieren duhn wer doch alle!“

      Im Anzeiger wurde die Geschichte vom heruntergestürzten und aufgeschleckten Sirupfass humoristisch wiedergegeben — war das nicht sehr komisch? Aber Hermine von Voigt lachte nicht mit. So traurig waren die Ernährungsverhältnisse schon? Ein unheimliches Gefühl überkroch sie: was sollte werden, wenn der Krieg nun noch länger dauerte? Ihr Mann schrieb, ein Ende sei nicht abzusehen. Was auch die Zeitungen posaunten von hoffnungsvollen Aussichten, vom Frieden, den man sich so heiss ersehnte, auf den man hoffte wie auf eine Seligkeit, ach, und den man so nötig hatte, ja, bitter nötig — man brauchte nur die Augen offen zu haben — vom Frieden redeten sie nicht mehr. Über beispiellose Siege in Italien wurde freilich gejubelt, an eine zugespitzte kritische Lage zwischen Japan und Amerika allerlei günstige Kombinationen geknüpft, über die vergeblichen Anläufe der Engländer in Flandern und die unbesiegliche Abwehrkraft der Deutschen viele Worte gemacht. Der Waffenstillstand an der Ostfront hatte dem Zweifrontenkrieg ein Ende gemacht, alle ihre Kraft konnte die geniale Heeresleitung nun dem Westen zuwenden; die U-Boote fegten den Ozean rein, und doch noch kein Ende.

      ‚Zur Jahreswende 17!‘ Mit ernstem Blick sah Hermine von Voigt auf das Zeitungsblatt in ihrem Schoss. Wiederum eine Jahreswende! Ein kalter Schauer überlief sie. Und doch war es um sie warm und behaglich.

      Es war etwas Altmodisches in diesen Räumen, etwas von Eltern und Grosseltern Überkommenes. Vielleicht waren sie gerade darum schön. Der freihängende Pendel der goldenen Pendule auf dem Kaminsims schwang sich so emsig, wie er vor hundert und mehr Jahren sich für die Familie geschwungen hatte; noch immer war die zarte Glasglocke, die sich über die kostbare Uhr stülpte, die gleiche, mit sorgsamer Hand hatte die jeweilige Besitzerin sie selber abgestäubt, nie hatten rauhe Dienstbotenfinger daran rühren dürfen. Ahnenbilder in breiten goldenen Rahmen sahen von den Wänden herab auf den runden Tisch, das Plüschsofa und die hochbeinigen Sessel. Der klug blickende Herr im hellblauen Frack, dem die weissen Haare lang auf den Kragen fielen, und die blonde Frau im tiefausgeschnittenen, hochgegürteten Seidenkleid, die den schmalen roten Schal anmutig um die weissen Schultern trug, hatten einst aus jenen zarten goldgeränderten Tassen getrunken, die die Generalin wie einen Schatz hinter dem Glas der Servante hütete. ‚Aus Freundschaft‘ — ‚Aus Liebe‘ — ‚Souvenir‘ — ach, sie waren glücklicher gewesen, der Urgrossvater, die Urgrossmutter! Siebenjähriger Krieg, Freiheitskriege, — zur freundlichen Sage waren sie geworden. Was waren vordem Kriege gewesen? Nichts gegen diesen.

      Mit einem Seufzer sah die Generalin zu den Bildern hinüber. Dann las sie:

      ‚Die letzte Jahreswende im Krieg.‘

      Schon stutzte sie: war es wirklich die letzte Jahreswende? Wer bürgte dafür? Der Kaiser? Die Heeresleitung? Der Reichskanzler? Die Minister? Immer neue Männer, neue Namen. Nie war so viel gewechselt worden in den höchsten Ämtern. Unruhig sahen die klugen Augen der Frau umher: fand sich denn nicht endlich der rechte Mann? Der Eine, der Einzige? Ihr Geist liess sie alle an sich vorüberziehen. Die anderen, die Feinde, hatten doch den Einen, den Einzigen, der ihr Schicksal lenkte — mochte sein zum Guten oder zum Bösen — es war eine Hand da, die am Steuer lag und das unentwegt festhielt. Haben wir denn keinen solchen Einen, Einzigen?

      Sie zwang sich, weiter zu lesen:

      ‚Der zahlenmässig stärkste unserer Feinde hat die Folgerungen der Kriegslage gezogen. Das Scheitern der englischen Angriffe in Flandern und der Zusammenbruch Italiens musste die Russen vollends überzeugen, dass sie nicht darauf rechnen konnten, die eigene Niederlage durch den Sieg ihrer Verbündeten auszugleichen. Noch sind wir nicht auf der Höhe, noch ist der Trotz der Engländer, der Hass der Franzosen, die Überhebung der Amerikaner ungebrochen, aber wir sehen schon den Gipfel im Sonnenglanz des Friedens strahlen. Die letzten hundert Meter sollen uns nicht schrecken. Das schwere Gepäck auf dem Rücken, den schmalen Proviant im Beutel, aber das Herz gesund, den Blick klar auf den Führer gerichtet, der den rechten Weg weiss, so überwinden wir auch sie noch.‘

      Werden wir?! Wie in plötzlicher Erkenntnis schreckte die Lesende zusammen. War denn das Herz gesund, der Blick klar? Wusste der Führer denn auch den rechten Weg? Mit einem verstörten Blick starrte Hermine von Voigt vor sich hin. Was hatte sie nicht alles sprechen hören! Selbst in den Kreisen, die früher voller Patriotismus waren. Waren das noch die Väter, die im Jahr vierzehn ihre Söhne selber zu den Waffen getrieben, die Mütter, die klaglos sie zum Opfer gebracht hatten? Waren das noch die gleichen Männer, die, längst aus der Übung und nicht mehr jung, sich doch in Reih und Glied gestellt hatten? Nicht die Ermüdung durch die lange Dauer des Krieges allein war es, die sie heute so anders gemacht hatte.

      Die Frau sprang auf, wie von Angst gejagt eilte sie durch die Zimmer. Vom Wohnzimmer ins Esszimmer, von dort ins Arbeitszimmer ihres Mannes; da stand sie an seinem Schreibtisch und stützte beide Hände schwer auf. Es war ihr, als ströme von dem Platz, an dem er so oft gesessen hatte, etwas auf sie über. Gott sei Dank, er war nie verdrossen, nie kleinmütig!

      Vom Osten war General von Voigt fort, es war dort kaum mehr zu tun. Russland trug sich selber zu Grabe, es frass


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