Gegen Morgen. Walther von Hollander

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Gegen Morgen - Walther von Hollander


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ist da fehl am Orte.

      Wäre ich persönlich allerdings in der Lage gewesen, mein Leben gegen seines zu verteidigen, ich hätte es mir wahrhaftig nicht wehrlos aus der Hand schlagen lassen. Aber es ist mir von ihm über Nacht gestohlen worden, und ich konnte nur hinnehmen, was mir zugefügt war, zugefügt gleichzeitig durch den einzigen Menschen, den ich bewundert, und den einzigen Menschen, den ich geliebt habe. Und damit komme ich an jenen Punkt, der vielleicht für die Geschichte Karl Rastas unwesentlich ist, und der eigentlich nur wichtig ist, um zu erklären, wie die Dokumente seines Lebens in meine Hände kamen. Ich will aber die ganze Wahrheit sagen und nicht feige vor den letzten Zwingungen zurückweichen.

      Die hundertmal in Bitternis wieder und wieder erlebten Ereignisse stehen mir in all ihren Anfängen und in all ihren Folgen so unheimlich lebendig vor Augen, daß es mir schwerfällt, das Unwichtige vom Wichtigen zu trennen, und ich in die Gefahr falle, meine Gefühle in den Vordergrund zu stellen, der ich in dieser Tragödie nichts bin als der zufällig Erduldende.

      Der äußere Rahmen war, daß, während Karls Revision und die neue Anklage der Staatsanwaltschaft lief, die Sache Karl Rastas das Hauptthema aller Gespräche zwischen mir und Dorothea war, das heißt mein Hauptthema. Dorothea verfolgte zwar sehr genau alle Berichte in den Zeitungen und war ein geduldiger Zuhörer all meiner zweifelsvollen und schmerzlichen Auseinandersetzungen. Aber sie hörte in einer Art zu, daß ich immer glaubte, sie verstünde nicht eigentlich, welches Dunkel aus Karls Leben drohend sich erhob, welche Abgründe des Menschlichen sich auftaten, welche Fragen mich quälten. Es schien mir, daß die Frage nach Schuld oder Unschuld Karls sie kaum bekümmerte, jedenfalls weit weniger bekümmerte als die Frage, ob er dem Gericht entkommen würde oder nicht. Überhaupt hat Dorothea, wie es allerdings immer ihrer stillen und fast geheimnisvollen Art entsprach, nie eine besonders brennende Anteilnahme für Karl an den Tag gelegt, und so sehr ich mein Gedächtnis durchforscht habe: ich kann keine Äußerung finden, die eine Verbindung herstellt zwischen ihrem Leben und ihrer Tat, zwischen ihrem Wesen und ihrem Untergang. Es sei denn ihr einer Ausspruch, den ich zunächst kaum beachtete, und der mich erst sehr viel später stutzig gemacht hat. Als ich nämlich einmal das Schicksal der beiden Frauen bedauerte, wiegte sie den Kopf mit leisem Lächeln hin und her — ein Zeichen, immer, daß ein Gedanke sie beglückte — und auf meine Frage sagte sie leise: „Wie glücklich müssen sie aber auch gewesen sein, um so leicht unglücklich zu werden.“

      Dieser Ausspruch ist, wie gesagt, die einzige Brücke, und sie ist für meinen Verstand zu schmal und für meine Füße zu schwankend. Ich kenne sie, aber ich betrete sie nicht. Das andere Ufer lockt mich auch zu wenig.

      Die Entscheidung trat rasch und brutal in mein Leben. Es war am Tage des Prozesses wegen Ermordung Ferdinand Eckbohms. Wir hatten sehr erregt wieder die Möglichkeiten Karls, dem Tode zu entkommen, besprochen. „Unmöglich,“ sagte ich, „unmöglich, und käme ich in die Lage, ihm zu helfen, ich täte es nicht.“ Dorothea sagte lange nichts. Dann aber, als sie sich zum Schlafengehen anschickte, wandte sie sich an der Zimmertür zurück und sagte: „Ich täte es.“ Ich wußte zwar, was sie meinte, und es durchfuhr mich kalt, aber ich sagte: „Was tätest du?“ Sie antwortete nicht und ging. Ich hörte sie in ihrem anliegenden Schlafzimmer unruhig auf und ab gehen und später ein paarmal im Schlaf oder Halbschlaf leise stöhnen. Sie schien jedenfalls zu schlafen, als ich einmal nach ihr sah. Aber ihr Gesicht war von einem furchtbaren Schmerz überschwemmt, dem Schmerz, den ich damals zuerst sah, der sie nie mehr verließ, und der das Gesicht der Toten so entsetzlich verzerrte, als lägen die dunklen Grabschollen schon auf ihr.

      Ich erschrak damals sehr über dieses Gesicht, über dieses ungeahnte Geheimnis, dieses Fallen eines Vorhangs, hinter dem ich süße Nebellandschaft geglaubt, hinter dem giftige und höllische Dämpfe der Vernichtung aufbrandeten.

      Frage um Frage türmte sich so auf mein Herz, und ich ging in Qual über diese Wendung meines bisher klaren Lebens ins Fragerische, ging wie zerfetzt und verwundet in meinem Zimmer auf und ab. Immer wieder suchte ich meine Stirn an den Fensterscheiben zu kühlen, meine brennenden Augen zu baden im Märzmondgarten. Ich muß hinzufügen, daß unsere zur ebenen Erde belegenen Zimmer der Straße entgegengesetzt in den Garten mündeten. Ich weiß noch genau, daß ich im Mond erkennen konnte, daß die Kastanien vor dem Fenster schon schwollen und im Licht klebrig glänzten, jenem merkwürdigen Zwielicht aus Mond und dem fahlen Strahl meiner Lampe. Und ich dachte voll Bitterkeit, wie wenig ein Unglücklicher davon hat, daß es Frühling wird, und die Wiederkunft jeder Jahreszeit nur den freudig berührt, der im eigenen Rhythmus das Bleibende hat und es in Harmonie bringt mit dem Rhythmus des ewigen Wandels.

      Und genau in diesem Augenblick stand zwischen Kastanie und Fenster, stand im Ungewissen der zwei Lichter, stand greifnah Karl Rasta vor mir. Man wird verstehen, daß ich eisig erschrak und mir die Worte im Munde erfroren. Ich, der ich wirklich an Gespenster und Halluzinationen nicht glaube, ich verfiel tatsächlich einen Augenblick in den Wahn (und man wird das den Umständen zugute halten), daß hier der Geist des toten Karl Rasta vor mir stehe oder ein Phantom, geboren aus der Zerrüttung meiner Nerven. Dennoch erkannte ich die Einzelheiten genau. Ich sah, daß Karl einen sehr schäbigen Sträflingsanzug trug, daß sein Haar geschoren war, daß seine Wangen, grauer noch als sonst, schlaff hingen, daß sein lebendes Auge stumpfer leuchtete als das Glasauge. Ich öffnete mechanisch das Fenster. Karl lächelte und begrüßte mich, als sei er vor kurzem dagewesen und käme höchstens zu ungewöhnlicher Stunde. Dann kletterte er, ohne meine Aufforderung abzuwarten, ins Zimmer hinein, steckte sich eine Zigarette an, ließ sich sichtlich erschöpft auf den Stuhl fallen, schloß apathisch die Augen und sagte nichts.

      Schließlich raffte er sich auf, lächelte ein wenig, streichelte eine Kommode, die neben ihm stand, und ich dachte jetzt erst ein wenig verlegen, daß diese Möbel aus Karls Vaterhause stammten, und daß wohl jetzt sein ganzes Leben auf ihn einstürme. Aber wider Erwarten blieb das Streicheln fast die einzige Gefühlsregung, die ich an ihm wahrnehmen konnte. Er setzte mir vielmehr, indem er alle Fragen über Schuld und Unschuld und über seine Flucht kurz abschnitt, in seiner alten klaren Art auseinander, daß er zu mir gekommen sei, erstens, so sagte er wörtlich, um mir seine Lebensbeichte zu überreichen, die er bei mir in Sicherheit wüßte, während er „immerhin einigen Wechselfällen ausgesetzt sei“, zweitens bat er mich ihm Anzug und Geld zur Flucht zu verschaffen, die er beschlossen habe in der Erkenntnis, daß es ihm nicht möglich sei, seine Unschuld zu beweisen, und es ihm auch nicht angängig erscheine, für eine Schuld zu büßen, die er nicht auf sich lasten fühle. (In diesen spitzfindigen Worten steckt übrigens der ganze Karl Rasta. Ich weiß heute noch nicht, ob er damit sagen wollte, daß er keine Schuld habe, oder daß er seine Schuld nicht als Last fühle.)

      Ich will nicht den Kampf schildern, der in mir brannte. Karl mochte spüren, wie schwer es mir fiel, ihm auf diesem ungesetzlichen Wege zu helfen. Er saß, wie um mich nicht zu beeinflussen, ganz unbeweglich da und sah vor sich hin, als ginge ihn meine Entscheidung nichts an. Und ich habe nicht die geringste Veränderung an ihm bemerkt, als ich ihm sagte, daß ich ihm zu helfen entschlossen sei.

      Das andere hat sich in kaum fünf Minuten abgespielt und ist nur in seinen Untergründen nicht zu erklären. Äußerlich ist es in ein paar Worten erzählt. Ich ging hinaus, um den Anzug zu holen, und als ich zurückkam, bot sich mir ein Anblick, der mich weit über seine äußere Seltsamkeit hinaus erschreckte, erschreckte, als habe mich ein Blitz durch und durch geschlagen.

      Kurz gesagt, als ich zurückkam, stand meine Frau, stand Dorothea, in ihrem Nachthemd an der Tür und lächelte den Mörder an, lächelte Karl Rasta an, als habe sie eine Lieblichkeit gefunden. Dieses Lächeln und Karls Blick, der mir schamlos erschien, erschreckten mich tief, und ich blieb starr mit meinem Anzug dastehen. Dorothea sah mich so flüchtig an, als sei ein Fremder eingetreten. Dann ging sie langsam Schritt um Schritt auf Karl Rasta zu. Über Karls Gesicht aber — und das beruhigte mich damals — ergoß sich mit jedem Schritt, um den sie sich ihm näherte, ein Entsetzen, ganz ähnlich dem, wie ich es vorhin auf dem Gesicht der schlafenden Dorothea entdeckt hatte. Und in dem Augenblick, als Dorothea sich über ihn neigte, ihn auf die Stirn zu küssen, wogte dieses Entsetzen ungehemmt über ihn hin. Ja, ein Meer von Entsetzen war sein Gesicht, ein Meer, über dem unbeweglich das Glasauge blinkte, ein toter Stern.

      Dorothea ging zur Tür zurück,


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