Christiane und die großen Brüder. Lise Gast
Читать онлайн книгу.und stärker. Das erste — du lieber Gott, das fand man mit vier Jahren schon groß, und von ihm verlangte man Verstand und Einsicht. Wieviel besser hatten es da die Nachgeborenen! Dr. Debschütz sah auf seine beiden Töchter, die vierzehnjährige und die vierjährige, und viele Gedanken gingen ihm dabei durch den Kopf.
Er liebte Christiane. Er liebte zwar auch seine Söhne und auch das jüngste Töchterchen, aber mit Christiane verband ihn eine innige und sehr scheue Liebe. Vielleicht sah er in Christiane das verjüngte Abbild seiner eigenen Mutter, an der er sehr hing und bei der Christiane groß geworden war. Vielleicht aber liebte er dieses Kind anders, weil er es erst mit zehn Jahren übernommen hatte. Damals war Christiane schon eine Persönlichkeit gewesen und kein erst noch zu formendes Wesen, über das man sich täglich ärgern mußte. Er jedenfalls empfand Christiane ganz als Menschen und fast gar nicht mehr als Kind …
Sie war jetzt bald fünfzehn Jahre alt und wirkte groß, aber durch ihren feinen Gliederbau nicht allzu groß für ihr Alter. Sie trug das braune und ein wenig wellige Haar noch immer in hängenden Zöpfen, schräg gescheitelt; das ließ sie kindlicher erscheinen als sie war. Wie sie lief und jetzt das Schwesterchen aus dem Auto hob, liebevoll ausschalt und in die Höhe hob — wie ihre braunen, schmalen Knie unter dem bunten Trachtenrock hervorsahen!
Ganz in Gedanken erlaubte der Doktor seinem Ältesten, den Wagen in die Garage zu steuern, was bei Brüdi sofort zu Wuttränen und wildem Neid führte. Ohne recht zu wissen, was er sagte, beruhigte er den Tobenden und ging mit ihm hinter Rainer her, um den Schlüssel abzuziehen und die Garage zu schließen.
Im Sprechzimmer warteten noch drei Patienten selbst am „freien“ Samstagnachmittag auf ihn. Als er den letzten versorgt hatte, zog es ihn ins Kinderzimmer hinauf. Es war inzwischen sieben Uhr geworden. Die Sonne schien noch hell und munter herein, und die Tür zum Bad stand offen. Samstäglich unordentlich lagen die Wäschestücke der Kinder auf dem Fußboden, ein heruntergefallenes Frottiertuch krönte das Stilleben. Samstäglich frisch aber waren die Kinder. Alle hatten den Kopf gewaschen, die Jungen trugen scharf gezogene, naß angepappte Scheitel und Regine eine Mullwindel als Turban um den Kopf geknüpft. Sie saß auf Christianes Schoß und wurde gefüttert, während die drei Jungen um den kleinen Kindertisch saßen und in heillosem Tempo um die Wette aßen, weil es heute außer Käse- und Wurstschnitten auch Radieschenbrote gab.
„Aber immer erst eine Schnitte mit Wurst oder Käse, hört ihr, und dann erst wieder eine mit Radieschen!“ hatte Christiane bestimmt, die ihre Brüder kannte. Nun schlangen sie die Pflichtbrote wie hungrige Wölfe hinunter, um einander möglichst um ihren Anteil zu betrügen. Es war ein komischer, aber keineswegs schöner Anblick.
„Ihr gierige Spatzenbrut“, sagte der Vater und besah seine Söhne etwas mit Abstand, „könnt ihr nicht manierlich essen? Kommst du nachher herüber, Christiane? Dann essen wir beide in Ruhe zusammen, ja?“
Samstags aßen sonst immer die Eltern allein, jetzt aber, da Mutter nicht da war, aß Christiane mit dem Vater.
„Ja, ich komme. Aber ich habe versprochen, noch vorzulesen. Soll ich das vorher tun oder nach dem Abendbrot? Bist du sehr hungrig?“
„Ach, bewahre, ich kann noch warten. He, Rainer, erst hinunteressen!“
„Christiane hat aber versprochen, uns zwei Kapitel vorzulesen, wenn wir artig sind — und wir waren artig!“
„Und weil ich nicht geheult hab‘, als ich die Seife ins Auge bekam, hat sie sogar gesagt, sie liest drei!“ meldete sich Brüdi weinerlich.
Der Vater hatte seine Pfeife aus der Tasche gezogen. „Meinetwegen. Nimm dir nur Zeit, Christiane, ich sehe erst noch in die Zeitschriften. Übrigens — keiner fragt nach Mutter?“
„Wie geht es ihr?“ fragte Christiane hastig und schuldbewußt. Sie wischte Regine den Mund ab und setzte sie in ihr Holzbettchen. „Da ist dein Molli, so, deck ihn schön zu! Hat Mutter noch Fieber, Vater?“
„Nein, es geht ihr gut“, antwortete der Vater schnell und beruhigend. „Du sollst ihr Wolle besorgen, hat sie gesagt, aber dazu ist es jetzt wohl zu spät. Ich war noch bei verschiedenen Patienten …“
„Ach, ich geh‘ zu Tante Ulle, die läßt mich auch abends in den Laden, hintenherum. Ja, du kannst Mutter gleich morgen früh die Wolle mitnehmen, sie will sie sicher schnell haben, weil sie sich langweilt. Vater, hast du noch einen Augenblick Zeit? Rolfi, komm, mach mal mit Christiane ,Bist du mir böse‘!“
Sie nahm den jüngsten Bruder auf den Schoß. Eigentlich war ja Regine ihr Liebling, aber seit Rolf im vorigen Herbst so schwer krank gewesen war, hatte sie ihn mehr als alle andern ins Herz geschlossen. Er war auch gleich bereit, eine Vorstellung zu geben, und sah mit seinem spitzbübischen Gesichtchen erwartungsvoll und geschmeichelt zu ihr auf.
„Los, Rolfi!“ befahl Christiane.
Rolf machte ein süß bettelndes, schuldbewußtes Gesicht, während Christiane das ihre in strenge Falten zu legen versuchte.
„Bist du mir böse?“ piepste er übertrieben kindlich.
Christiane nickte. Es zuckte um ihre Mundwinkel vor unterdrücktem Lachen, aber sie bemühte sich, streng und ernst auszusehen.
„Bist du mir böse?“ Noch flehender, noch schuldbewußter klang das Stimmchen.
„Ja, Rolfi, ganz böse.“
„Bist du mir böse?“ Es war herzerweichend; dem Vater wurde ganz schwach vor so viel „Heuchelei“, denn Rolf wußte genau, daß alles nur Spaß war.
„Ja, sehr“, nickte Christiane düster.
„Sei wieder gut!“
Christiane nickte. Ihr Gesicht strahlte, und das seine strahlte wie ein Spiegel zurück. Er warf beide Arme Christiane um den Hals und schrie vor Freude. Alle lachten.
„So ein Hanake, nein, wo hast du das nur her, Junge“, sagte der Vater kopfschüttelnd und lachend — der Kleine war unwiderstehlich. „Christiane, was wird aus den Bälgen nur einmal werden! Ja, also, du rufst mich, wenn du fertig bist, ja? Ich gehe ins Sprechzimmer. Gute Nacht, ihr Rasselbrut, und laßt mir noch was übrig von Christiane, versteht ihr? Freßt sie nicht ganz auf!“
Als der Vater gegangen war, lief Christiane ins Badezimmer und sortierte die abgelegte Wäsche, hob die Handtücher auf und fischte die Seife aus der ausgelaufenen Wanne. Gut, daß die Nanna das nicht gesehen hatte! Sie würde sonst mindestens eine Viertelstunde herumschelten.
Christiane konnte es nicht leiden, wenn die Stimme der Nanna durchs Haus gellte. Sie versuchte der guten alten Seele alle Dinge, an denen sie Anstoß nehmen könnte, aus dem Wege zu räumen. Aber das war ein aussichtsloses Beginnen. Wo kleine Kinder sind, gibt es zwangsläufig Unruhe. Wahrscheinlich aber hätte Nanna auch in einem idealen und mäuschenstillen Haus irgendeinen Grund zum Schelten gefunden.
Die Kleinen störte Nannas Schelten nicht. Sie waren daran gewöhnt und nahmen es wie das Wetter. Sie stellten ihre Ohren automatisch auf Durchzug, wie Rainer sagte, und ließen Nannas Tiraden dort hinein- und hier hinausgehen. Christiane aber litt darunter: Nannas schrille Stimme konnte ihr den fröhlichsten Tag verderben.
Die Eltern schalten wenig. Vater machte manchmal Krach und verhaute Rainer, wenn es nötig war; Mutter aber lachte viel und ließ die Nanna schelten. Christiane trug noch immer eine verschwiegene Liebe zu dem stillen, feinen und friedlichen Zuhause bei den Großeltern mit sich herum.
Dort wurde nie gescholten, geschweige denn so laut und keifend. Dort lief alles lautlos und glatt, aber keineswegs langweilig. O nein! Aus der zarten Stille um Großmutter herum blühten tausend bunte Blumen, die Christianes ganze Liebe waren, Gedichte und Geschichten, und Großvaters Bilder gaben den Glanz dazu. Mitunter konnte einem das Herz schon ein wenig weh tun, wenn man dahin zurückdachte, obwohl Christiane sich fest und vernünftig vorgenommen hatte, nun hier und bei ihren Eltern daheim zu sein.
Manchmal durfte sie ihre Großeltern besuchen. Das war dann immer schön wie ein Traum, vor allem, wenn sie allein fuhr. Wenn sie eines oder zwei von den Kleinen mitnahm, was sie auch schon ausprobiert