Christiane und die großen Brüder. Lise Gast

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Christiane und die großen Brüder - Lise Gast


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damals so sehr an sie gewöhnt war, aber auch nach Reginchen. Christiane hatte in einem seltsamen Zwiespalt gelebt, ihr Herz war wie geteilt zwischen den beiden Heimaten, und zuletzt hatte sie nach beiden Seiten hin ein schlechtes Gewissen.

      Soweit war Christiane beim Ordnen der Badestube und der Kinderkleider gekommen, als sie aus dem Kinderzimmer einen grausigen Sprechchor hörte: „Christiane, dummes Stück, kommste heute noch zurück?“ Und als sie zu den Kleinen kam, was mußte sie sehen? Regine war aus ihrem Bett ausgebrochen und zu Rainer gekrochen, und die beiden wälzten sich in Rainers Bett und strampelten die Kopfkissen und Decken heraus. Brüdi lief mit bloßen Füßen über die Diele, was nach dem Baden in Nannas Augen eine Todsünde darstellte. Christiane scheuchte Brüdi in sein Bett zurück und schalt — nun schalt sie wahrhaftig selber! Aber die Jungen hörten einfach nicht, wenn man freundlich blieb.

      Sie nahm den Robinson vor, den Rainer heiß liebte, obwohl er ihn kapitelweise auswendig konnte, und suchte nach dem Lesezeichen. Das hatte Brüdi stiebitzt und fand es nun sehr witzig, daß Christiane blättern und suchen mußte.

      „Weißte denn nich mal, wo wir waren? Kannste dir nich mal das merken?“ fragte er höhnisch, weil er sich ärgerte, daß sie ihn vorhin beim Barfußlaufen ertappt hatte.

      Ich hab‘ ja schließlich noch anderes im Kopf als nur euern Robinson, dachte Christiane — doch Großmutters mildes und gütiges Gesicht erschien ihr, ihre nie endende Geduld — und Christiane sagte nichts, sondern begann vorzulesen. Sie las sogar vier Kapitel; denn es war wirklich sehr spannend.

      Als Christiane das Buch zuklappte, war Brüdi natürlich unzufrieden. Sie tröstete ihn, sagte allen vieren umständlich gute Nacht — Regine schlief bereits — und wollte endlich hinüber zu Vater. Nun aber wollte Rainer noch unbedingt Wasser trinken, Brüdi verlangte hinaus, so daß sie, auf allen vieren kriechend, seine Hausschuhe suchen mußte; als sie wieder hochkam, piepste Rolf, sein Bett sei voller Stacheln. Christiane, die sich mit schlechtem Gewissen daran erinnerte, daß Vater wartete, wurde ungeduldig.

      „Nun laßt mich endlich in Frieden, jetzt ist aber wirklich Schluß. Brüdi, du gehst sofort wieder ins Bett! Gute Nacht, jaja, schlaft gut —“

      „Du könntest noch die frische Wäsche für die Kleinen herausgeben“, brummte die Nanna, auf die sie im Flur stieß, „die Strümpfe sind alle noch im Flickkorb. Ja, wenn du dich nicht darum kümmerst — ich kann wirklich nicht noch soviel Fersen stopfen am Samstagabend, wo ich sowieso schon alles am Halse habe —“

      Nanna sagte die letzten Worte sehr laut und scharf. Christiane hatte eben die Tür zum Wohnzimmer geöffnet, und so hörte Vater, den gerade der Hunger hereingetrieben hatte, alles mit an. Hastig und ein wenig fahrig nahm Christiane die Haube von der Teekanne, um einzugießen — da war auch schon das Unglück geschehen! Gottlob war es nur der Tee, der hin war, und nicht die ganze Kanne, Mutters Lieblingskanne! Christiane lief in die Küche, sie mußte neuen Tee aufsetzen und den Lappen holen, um aufzuwischen.

      „Fängst du noch mal an“, ärgerte sich die Nanna, „eben hab‘ ich alles weggeräumt. Die Teller spülst du aber noch ab, verstehst du — wenn ich sonntags herunterkomme, will ich nicht einen Haufen schmutziges Geschirr vorfinden —“

      Christiane tat das immer. Dazu hatte sie viel zuviel Respekt vor Nanna, aber gerade weil sie es immer tat — und die Nanna das immer wieder übersah — kamen ihr jetzt die Tränen. Wenn man sich immer und immer bemüht, es den andern recht zu machen, und nichts dafür erntet als Schelte und Schmähworte …

      „Was ist denn?“ fragte der Vater leise, als Christiane mit feuchten Wimpern und einem kleinen Aufschnupfen den frischen Tee hereinbrachte. Er fragte es so mild und behutsam wie die Großmutter, daß bei Christiane der Damm brach. Sie stellte den Tee hin und weinte los, ohne eigentlich genau zu wissen, weshalb sie weinte — denn daß die Nanna keifte, war ja nicht neu. Der Vater schob vorsichtig Teller und Tassen beiseite, damit Christiane sie nicht in ihrem Schmerz herunterwürfe, und streichelte sanft mit seiner schmalen Hand über Christianes Haar.

      „Kind, aber Kind“, sagte er leise. „Na, siehst du! Bist doch mein großes vernünftiges Mädel! Ja, ich weiß wohl, für dich ist es jetzt ein bißchen viel. Aber bald ist ja Heidi wieder zurück, ihrer Mutter geht es schon wieder viel besser.“

      Vater greift ein

      Es war wirklich ein bißchen viel für Christiane, auch wenn sie gerade Pfingstferien hatte. An diesem Samstagabend mußte sie noch bis elf Uhr aufbleiben, bis sie alle Strümpfe und Söckchen der Kleinen gestopft hatte. Natürlich hätte sie sich, wie die Nanna sagte, eher darum kümmern können, aber dafür war sie eben erst vierzehn Jahre. Da übersieht man einen Haushalt, aus dem die Mutter für Wochen herausgerissen war und in dem Hedi schon ein Vierteljahr fehlte, nicht so leicht. Das hätte die Nanna eigentlich wissen müssen; aber die Nanna ärgerte sich nur. Sie ärgerte sich übrigens, wie Vater lachend behauptete, von Herzen gern, mit Genuß und aus Prinzip. ,Ick will mir ja janich wohl fühlen, ick fühle mir ja so viel wöhler‘, sagte der Berliner im „Weißen Rössl“, und solche Berliner gibt es wahrscheinlich auf der ganzen Welt.

      „Mach dir nichts daraus, Mädel“, tröstete der Doktor seine Älteste an diesem Abend und ging mit ihr in die Küche, um ihr flink noch beim Abtrocknen zu helfen. Er machte das so selbstverständlich und reizend, daß Christiane ihn dankbar und zärtlich anstrahlte. Nur hatte sie ein recht blasses Gesicht, fand der Vater, und er machte sich seine Gedanken.

      So bald würde die Mutter nicht wiederkommen, und dann würde sie noch schonungsbedürftig sein. Und Christiane war noch ein Schulkind. Daß sie sich nebenbei so viel um die Kleinen kümmerte, war lieb von ihr und schadete nichts, große Schwestern müssen das tun, es kommt gleich nach den Schularbeiten, mitunter sogar davor. Solche Zeiten gehen vorbei, versuchte der Vater sie zu trösten, und doch sagte er seiner Frau nichts davon. Er grübelte nach einem Ausweg. Als er keinen fand, rief er seine Mutter an. Sie versprach, darüber nachzudenken, tröstete ihn aber, solche Zeiten der Überbeanspruchung machten einen jungen und gesunden Menschen nur stärker. Sicher, die Arbeit wohl, aber die seelische Scheuerei, die Christiane wund rieb? Die Großmutter lachte über diesen Vergleich, aber sie lachte nur, um ihren Sohn zu trösten. Niemand konnte so gut mit Christiane fühlen wie sie. Und nach einer Woche kam ein langer Brief von ihr, der ihrem Sohn zu denken gab. Gut, gut, sie hatte recht.

      Kurz vor den großen Ferien war es endlich soweit, daß Mutter wiederkommen konnte. Alle freuten sich schrecklich. Nanna und Christiane hatten Kuchen gebacken und Gardinen gewaschen, überall standen Blumen in den Vasen, und die Kleinen hatten ihre Sonntagssachen an, waren frisch gekämmt und auf neu poliert. Als dann alle behaglich um den Kaffeetisch auf dem Sitzplatz vor dem Wohnzimmer saßen, rückte Vater mit seinem Plan heraus.

      Er hatte, von Großmutter beraten, folgendes ausgebrütet: Mutter sollte noch so viel Ruhe und Schonung genießen als irgend möglich. Wann aber hatte sie Ruhe, solange es um sie her kribbelte und wimmelte? Fortfahren wollte sie nicht, das hatte er sich schon gedacht, sie sagte es auch sofort. „Ich war doch lange genug weg, denke ich!“

      Also mußten die anderen fort. Rainer und Brüdi sollten in ein Kinderheim auf der Schwäbischen Alp. Dort hatten sie gute Luft, die vor allem Brüdi guttun würde. Für ihn war Luftveränderung sicher das beste, und mit Rainer zusammen würde er sich dort wohl fühlen. Vater hatte schon an die Heimleiterin geschrieben. Regine sollte ein Weilchen bei einer befreundeten Familie in der Stadt untergebracht werden, die auch ein Kind in diesem Alter hatte, einen kleinen Dietmar. Seine beiden Schwestern gingen mit Christiane in eine Klasse, sie waren sehr kinderlieb und freuten sich schon mächtig auf die kleine Einquartierung. Sie sagten, es würde Dietmar sehr guttun, einmal nicht der einzige zu sein. Er wäre schrecklich verwöhnt und sollte ruhig einmal merken, wie es ist, wenn man ein kleines Schwesterchen hat. Rolf dagegen …

      „Rolf bleibt hier! Wollt ihr mir denn alle nehmen?“ rief die Mutter beinahe angstvoll. Der Vater lachte laut über diesen Entsetzensschrei, den er schon erwartet hatte.

      „Das hab‘ ich mir gedacht. Jawohl, Rolf bleibt, Hedi kommt in einer Woche wieder, um ihn zu betreuen. Hedi soll ihn dann aber ganz übernehmen, verstehst du,


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