Geliebter Sohn. Lise Gast
Читать онлайн книгу.
Lise Gast
Geliebter Sohn
Roman
Saga
Geliebter Sohn
German
© 1970 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509401
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Meinem Mann, meinen Kindern und dem getreuen WB
I
Der Heimhof
Ullo erwachte mit einem Ruck. Sie setzte sich aufrecht hin, alle ihre kurzen Haare standen ebenfalls aufrecht, was ihr in dem blauleinenen Schlafanzug das Aussehen eines unternehmungslustigen Lausbuben gab, wenn man nicht genau hinsah. Sie hob den rechten Zeigefinger, wie der Lehrer Lämpel in ›Max und Moritz‹.
»Ich hab’s«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich weiß es. Und ich tu’s. Heute oder nie.«
Niemand hörte es außer ihr selbst. »Und der liebe Gott«, fügte sie verschmitzt hinzu. Nun konnte sie es also nicht mehr rückgängig machen, er hatte es gehört.
Ullo Amberg hieß eigentlich Uta Ludmilla Leonore Ottilie Amberg, verwitwete Freiwald, geborene von Georgy, sie trug also eine Reihe traditionsbeladener, heutzutage unmöglicher Namen, die sie übrigens als Kind schon unmöglich gefunden hatte, und die sehr bald in das handlichere ›Ullo‹ zusammengezogen wurden. Diese Ullo Amberg wurde heute fünfzig, und nicht nur deshalb sollte der Tag für sie schicksalhaft werden. Zum Glück wußte sie es nicht, wie die meisten Menschenkinder, die ahnungslos den Tag beginnen, an dem die Uhr ihres Lebens vom heiteren Alltag zu unvergeßlich Einmaligem vorrückt. Wäre es besser, es zu wissen? Lassen wir die Frage offen. Fünfzig Jahre, nicht mehr jung, wie jeder zugeben wird, aber auch noch nicht alt. So fand sie selbst. Darauf allein kommt es an, betonte sie vor sich. Kein anderer brauchte es zu finden, da sie ja doch Witwe war, auch das zweitemal bereits über zehn Jahre lang, und sie pfiff auf alles, was andere Frauen vielleicht bewog, jung und schön auszusehen: junge Liebhaber, alte Verehrer, Karriere oder Konkurrenz mit heranwachsenden Töchtern. Dies alles ging sie nichts an, dazu hatte sie glücklicherweise keine Zeit und brauchte keinen Gedanken daran zu verschwenden. Hätte allerdings sie jemand in diesem Augenblick kerzengerade im Bett sitzen sehen, so hätte er sie zweifellos jung aussehend gefunden, etwa, wie gesagt, wie ein braungebrannter Junge, dem ein toller Streich eingefallen ist. Aber niemand war da. Dies geschah nämlich ganz, ganz früh am Morgen; selbst die Sonne war noch nicht wach, und die Sonne hat es um diese Jahreszeit wahrhaftig eilig, einen zur Arbeit zu rufen. Ullo überzeugte sich davon durch einen Blick aufs offenstehende Fenster, legte sich aber nicht wieder hin, sondern blieb sitzen, damit sie nicht wieder einschlief und diesen Gedanken womöglich wieder vergaß. Hach, als ob das geschehen könnte!
Sie würde ein Pferd kaufen. Sie hatte es satt, sich immer in der drängendsten Arbeitszeit den Trecker borgen zu müssen. Denn natürlicherweise brauchte man ihn dann, wenn ihn der Besitzer auch brauchte. Ein eigenes Pferd, endlich! Sie wußte auch schon, was für eins: einen Norweger. Und sie wußte, plötzlich hellsichtig – nein, im Grunde wußte sie es schon ein paar Tage lang, nur hatte sie sich erst heute endgültig entschlossen, welchen Norweger. Den ›Klob‹. Eigentlich hieß er Pascha, aber man sprach von ihm immer nur als vom Klob, weil er wirklich sehr klobig war, so, wie man Norweger heute eigentlich nicht mehr züchtet. Das aber, daß er klobig war, erfüllte ihr diesen durch Jahrzehnte gehegten heimlichen Wunsch und rettete ihm das Leben vor dem Pferdeschlächter: er war stark. Mit ihm konnte man Heu einfahren, Mist schleppen, pflügen, auch Besuch vom Bahnhof abholen. Und Mammitzschka und Ahnchen und Onkel Panjie spazierenfahren, und, wenn es keiner erfuhr, selbst reiten. Manchmal. Gelegentlich. Ganz, ganz heimlich. Hurra!
Ullo Amberg, von einem schlesischen Gutshof stammend, ausgebildet als landwirtschaftliche Lehrerin, hatte sich seit ihrer zweiten Heirat vom Beruf zurückgezogen und bewirtschaftete den kleinen Hof, den ihr zweiter Mann, seines Zeichens Landwirtschaftsrat, ihr hinterlassen hatte. Mit der Pension, die sie durch ihn bezog, und Mammitzschkas tatkräftiger Hilfe war dies möglich. Sie, Ullo, versah die Außen-, die Männerarbeit, Mammitzschka, die sehr geliebte Mutter ihres zweiten Mannes, die der Frau. Auf diese Weise trug der Hof nicht nur sie beide, sondern auch, nachdem die Tochter Dorothee geheiratet hatte, die beiden alten Leute, die ihnen verblieben waren, und manche erholungsbedürftige andere dazu. Studenten, Kinder, alte Ehepaare, die Erholung suchten – im Sommer waren die Besuchszimmer immer besetzt.
Im Winter war es ruhiger, aber sie vier gehörten seit Jahren zusammen, Ullo, Mammitzschka, der Onkel und Ahnchen.
Ullo war die Jüngste. Und obwohl sie die meiste, die wichtigste Arbeit tat, hatte sie wenig zu sagen. Deshalb – jetzt oder nie – würde sie heute das Pferd kaufen, heute, an ihrem fünfzigsten Geburtstag. Keiner konnte ihr da widersprechen. Nochmals hurra!
Ein Pferd war in ihrem Fall auch billiger als ein Dieselroß. Und vielseitiger zu verwenden. Und stilvoller! Das vor allem. Ullo fühlte eine geradezu kindische Seligkeit in sich aufbranden, wenn sie sich vorstellte, daß sie von jetzt ab mit einem eigenen Pferd arbeiten würde.
»Herrlich!« seufzte sie, legte sich zurück und war im nächsten Augenblick, aller Gewohnheit entgegen, wieder eingeschlafen. Sie schlief bis vier, bis fünf – Ahnchen kam schließlich heraufgeschlichen, weil sie dachte, Ullo sei im Schlaf gestorben. Ahnchen dachte bei jeder Gelegenheit an den Tod und sprach auch davon, eine von Ullo heimlich beseufzte, aber dem Ahnchen nicht auszutreibende Gewohnheit.
»Einmal werde ich recht behalten!« sagte sie bedeutsam, und Ullo konnte dem verständlicherweise nicht widersprechen. Manchmal aber ertappte sie sich dabei, daß sie respektlos und aufsässig dachte (nur dachte, nie aussprach!): ›Was wird aus dem Leben, wenn man den ganzen Tag vom Tod redet?‹
Sie war also nicht tot. Sie erwachte in dem Augenblick, in dem Ahnchen durch den Türspalt guckte, ängstlich und gleichzeitig angenehm gespannt, wer recht behalten würde – nein, es war gemein, so zu denken. Ullo rief sich zur Ordnung.
»Hab ich verschlafen? Wie dumm, entschuldige!« Und sie warf das Deckbett von sich, im Schlafanzug mitten ins Zimmer springend, so daß Ahnchen entsetzt zurückfuhr und die Tür zuschlug.
Ullo grinste. Das Entsetzen in Ahnchens Gesicht galt bestimmt ihrem Schlafanzug, der kurzhosig war und damit ein ewiges Ärgernis für Ahnchen bildete. »Sowas trägt man nicht. Davon bekommt man Rheuma. Möchtest du etwa – sieh mich doch an!«, so begannen die belehrenden Sätze, die Ullo über sich ergehen lassen mußte, sooft Ahnchen den Stein des Anstoßes flickte oder bügelte.
»Du hast ja nie solches Zeug getragen«, sagte Ullo dann manchmal, meistens aber sagte sie gar nichts mehr. Auch Mammitzschka hatte sich abgewöhnt, Ahnchen in dieser Angelegenheit zu widersprechen.
Liebe, vernünftige, rotbackige Mammitzschka! Ullo liebte sie, diese ihre Ander-Mutter, wie sie sie nannte – das Wort Schwiegermutter, so oft im bösen Sinn angewandt, hatte sie gar nicht ins Haus gelassen. Mammitzschka war einfach goldrichtig, zuverlässig, praktisch, herzenswarm und erfüllt von einer heiteren Frömmigkeit. Immer mußte Ullo daran denken, wie sie damals Dorothee aus dem Teich gefischt hatte, obwohl sie selbst nicht schwimmen konnte. Und das Kind ins Haus getragen. »Nicht erschrecken! Die wird wieder!«, obwohl man das erst mindestens zehn lange, bange Minuten später hatte wirklich feststellen können. Aber Mammitzschkas herzhaftes Gottvertrauen hatte ihr, Ullos, Erschrecken in Grenzen gehalten – lieber Gott, nie werde ich dir genug danken können dafür, daß es ein Erschrecken blieb! –