Geliebter Sohn. Lise Gast

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Geliebter Sohn - Lise Gast


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du eine Zigarette? Ich will dir was erzählen«, setzte Mechtild an. Jetzt wurde Ullo aufmerksam.

      »Was –«

      Stille.

      »Ich rauche so gut wie gar nicht mehr, habe keine Zeit dazu«, sagte Ullo dann langsam, und danach, als Mechtild immer noch schwieg, erklärte sie etwas umständlich: »Bei der Arbeit kann ich es nicht, und nach den Mahlzeiten, wie wir es früher manchmal taten, laß ich es lieber bleiben, weil Ahnchen keinen Rauch verträgt.«

      »Du wolltest mir was erzählen«, erinnerte sie dann, und nun klopfte ihr doch das Herz, daß sie es schmerzhaft im Hals spürte.

      »Ich will, jawohl«, sagte Mechtild, und ihre Stimme klang ganz anders als sonst. »Etwas – also Ullo, es gibt Sachen – nun zünd dir schon eine an«, sagte sie rasch und ärgerlich und wieder, wie sie eigentlich gewöhnlich war: energisch und nicht an Widerspruch gewöhnt, und machte Licht. »Hier sind welche.« Ullo gehorchte. Wieder schwiegen sie.

      »Ich weiß ja nicht, ob es stimmt«, sagte Mechtild dann mit einem merklichen Entschluß. »Und es wäre furchtbar, wenn es dann nicht stimmte. Verstehst du. Ich hab’ es mir hin und her überlegt, aber ich kann es doch nicht einfach sein lassen, weil es sich vielleicht als Irrtum herausstellen kann. Es war nie unsere Art, etwas sein zu lassen, was immerhin eine gewisse Chance in sich trägt. So denkst du doch heute noch, oder?«

      »Klar.« Unwillkürlich waren sie beide in den Jargon ihrer jungen Jahre geraten. »Klar denke ich so. Nun gib mal Gas und fahr los! Hat es – hat es was mit damals zu tun?«

      »Ja. Mit damals.«

      Mit diesem Wort »Damals« war alles verändert. Sie zählten nicht mehr fünfzig Jahre und hockten nicht mehr in den Betten des Heimhofes, zwanzig Jahre waren nicht gewesen, und sie befanden sich miteinander, sonst aber sehr allein, im nie vergessenen Wohnzimmer des schlesischen Gutshauses, in dem Ullos erster Mann, der Jagdflieger Friedrich Freiwald, aufgewachsen war.

      II

      Die Flucht

      »Wieder nichts«, sagte Mechtild und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Sie trug zur Schihose den Pelz und hatte den Kragen hochgeschlagen, er war rund um das Gesicht bereift, und ihre Wangen glühten geranienrot nach der Kälte draußen. Das sah hinreißend zu ihrer Blondheit aus – Ullo wurde sich dessen bewußt und wunderte sich flüchtig, daß es ihr auffiel. Sie hatten jetzt andere Sorgen.

      »Vielleicht fahren auf der anderen Straße mehr«, sagte sie, »jedenfalls mehr Privatleute. Militär darf sowieso nicht halten, glaube ich.«

      »Es ist aber doch die Hauptstraße.«

      Mechtild warf den Pelz auf einen Stuhl und beugte sich über die Karte, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Hier, Richtung Görlitz-Lauban. Aber du hast recht, viele fahren vielleicht Nebenstraßen, weil sie Angst vor Stauungen haben.«

      »Komm, trink was Warmes«, sagte Ullo und nahm die Teekanne aus dem Rohr. »Autsch, der Henkel ist heiß. Hagebuttentee, aber mit richtiger Zitrone. Ich habe neulich welche bekommen. Und Zucker. Wozu sollen wir noch sparen und Süßstoff nehmen!«

      »Ja, wozu. Aber noch sind wir hier. Und vielleicht ist das unser Glück«, sagte Mechtild und setzte sich. »Ah, der Tee tut gut. Noch haben wir ein Dach über dem Kopf – was glaubst du, was da draußen alles erfriert – unterwegs, meine ich. An Gören. Ich sprach neulich einen, der zurückfuhr, nach dem Osten, warum, weiß ich nicht. Einen Landser. Der hat mir erzählt – nein, laß.«

      Ullo hatte die Teekanne wieder warm gestellt und stand neben Mechtild, sah auf die Karte herunter und antwortete nicht. Sie knetete unaufhörlich eine Hand mit der andern. Sie wußte es natürlich auch, alle wußten es. Erfrorene Kinder rechts und links des Fluchtweges. Nicht einmal begraben konnte man sie bei dem steinernen Frost. O nein, das nicht, das nicht. Lieber ...

      »Kindern tun sie nichts, angeblich«, murmelte sie verzagt, »ich hab’ das paarmal gehört. Zu Kindern sollen sie nett sein.«

      »Jaja. So wird gesagt. Und dann wieder ... Nein, Ullo, heute nacht kommen wir nicht mehr fort, das ist klar. Da wollen wir lieber nochmal richtig ausschlafen, vor allem du. Wer weiß –«

      Fast jede Überlegung fing jetzt an mit »Wer weiß«. Wer weiß, wo wir morgen sind, wer weiß, wann der Russe da ist. Wer weiß, ob das nicht das letzte Stück Brot, der letzte Schluck Milch ist –

      Das Gut war leer, sie waren die letzten. Die Leute hatten sie weggeschickt: rettet euch, seht zu, wie ihr fertig werdet. Nur macht, daß ihr fortkommt. Nehmt die Pferde, die Zugochsen, die Schlitten, die Hand- und die Kinderwagen. Ullo hatte einen letzten Wagen, eine geschlossene Kutsche, und zwei Pferde zurückbehalten für sie beide und ihre Kinder, für Mechtild und ihre zweijährigen Zwillinge und für sich und ihren Sohn, heute drei Tage alt. Am nächsten Morgen waren Pferde und Wagen fort, gestohlen. Jemand hatte sie wohl dringend gebraucht, dachte sie grimmig – später sagte sie das auch. Mechtild sah sie an.

      »Vielleicht waren mehr Kinder dabei als unsere drei«, sagte sie leise: Da schwieg Ullo.

      Sie würden auch so wegkommen. Mechtild war der richtige Kamerad für so etwas, wahrhaftig, der Himmel hatte ein Einsehen gehabt und sie ihr geschickt. Wenn die Sache mit jemandem gelang, dann mit ihr. Seit einem halben Jahr lebte sie hier bei Ullo auf dem schlesischen Gut, evakuiert, sie stammte selbst vom Land, hatte aber in die Stadt geheiratet. Sie verstanden sich prächtig, hatten sich im landwirtschaftlichen Seminar kennengelernt und seitdem die Fühlung miteinander nie verloren. Es war keine Frage, daß sie auch weiterhin zusammenbleiben würden. Und dies, ihre Zusammengehörigkeit, ihr unbedingtes Einstehen der einen für die andere, gab ihnen beiden das Gefühl, als könnte ihnen nicht gar so viel passieren. Selbstverständlich war Mechtild nicht mit den Leuten getreckt, sie hatte Ullo weder zum Mitfahren überredet noch sie kurz vor der Entbindung hier allein gelassen. Das Kind kam zum Glück acht Tage früher, als sie erwarteten. Alles ging gut, ja hervorragend, sogar eine Hebamme fand sich, eine, die mit den von weiter östlich Kommenden auf der Flucht war. Die aus dem Dorf war längst fort. Diese aber tat ihre Pflicht, als Mechtild sie holte. Mechtild hatte nach einer gefragt, als Ullo schon lag und nicht mehr aufstehen konnte. Sie ging, als wäre sie die Gutsherrin, mitten durch das Chaos der Angekommenen und rief, und richtig, eine meldete sich.

      Jeden Tag wurde für die Durchziehenden die große Diele geheizt, wo Decken und Stroh für die Alten, Kranken und Kinder bereit waren. Männer und Jungen kamen ins Heu. Alles war geregelt und klappte. Mechtild sorgte auch immer dafür, daß heißer Kaffee – was man damals Kaffee nannte –, oder Suppe da war. Die Hebamme hatte noch schnell ein paar Schluck getrunken, dann war sie mitgekommen. Das war, wie gesagt, vor drei Tagen gewesen.

      Jetzt kam vom Osten niemand mehr. Die, die Ullos beide Pferde und die Kutsche mitgenommen hatten, schienen die letzten gewesen zu sein, vorgestern.

      »Ist ja egal, vielleicht wären wir mit den Pferden gar nicht weitergekommen«, sagte Mechtild nach einer Weile, als ihre Gedanken wieder einmal diesen Weg gelaufen waren. »Auf Pferde sind die Russen scharf. Und was nützt dir die Kutsche, wenn du nichts vorzuspannen hast.«

      »Ja, wenn sie uns eingeholt hätten –«

      »Natürlich hätten sie das. Überrollt. Natürlich sind sie schneller. Aber wir konnten ja nicht los. Wir müssen ein Auto kriegen, das ist das Ganze. Und ich werde schon eins heranwinken. Es fahren ja jetzt so viele nach dem Westen. Besser unter den Amis als unter den Russen. Morgen geht’s los, und da bist du wieder einen Tag gesünder und kräftiger.«

      »Das bin ich auch heute schon. Weißt du, der ganze Quatsch von früher – die schwache, zarte, blasse junge Mutter in ihren blütenreinen Kissen – wenn’s nötig gewesen wäre, hätte ich sofort aufstehen können. Manche Ärzte lassen die Frauen auch normalerweise sofort aufstehen, um Thrombosen zu vermeiden.«

      »Stimmt, mir ging’s auch gut. Bloß weil alles schrie: ›Liegen, liegen, schonen!‹, blieb ich waagerecht. Ich finde, man muß auch ein bißchen stilvoll leben. Und zum Wochenbett gehört, daß man sich ein bißchen


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