Geliebter Sohn. Lise Gast

Читать онлайн книгу.

Geliebter Sohn - Lise Gast


Скачать книгу
daß sie eben ohne den Heimhof ganz allein auf der Welt stünde, ganz, ganz allein. Verwandt war sie nicht mit Ullo, auch nicht verschwägert. Man wußte auch nicht viel von ihr und ihrem Leben, sie hütete sich ängstlich, etwas von ›früher‹ zu verraten. Um so herzlicher mußte man sein, fand Ullo. Und wollte ihr das mitunter schwerfallen, dann flüchtete sie merkwürdigerweise innerlich zum Ältesten, dem sehr alten Senior ihrer zusammengewürfelten »Familie«, zu Onkel Panjie, der, schmal, zart, dünn bis zur Durchsichtigkeit, ein Gelehrter vom Kopf bis zur Zeh, eigentlich den Idealtyp des alten Menschen darstellte. Immer freundlich, für jeden Handgriff dankbar, von einer reizenden Heiterkeit – und den ganzen Tag beschäftigt, ohne je hektisch zu wirken. Ob er sich mit der Lupe über seine Briefmarken beugte oder ein Buch aus dem Portugiesischen ins Englische übersetzte, ob er mit seiner gestochenen, so gut leserlichen und trotzdem fließend ausgeschriebenen Handschrift Briefe schrieb, wobei er etwa vorkommende Fehler radierte, das Papier glättete und sorgfältig darübermalte, mit sich selbst Schach spielte, weil er keinen Partner hatte, oder ob er, um doch auch irgendwie nützlich zu sein, Rabattmarken einklebte mit der Genauigkeit des Philologen – immer war er ein rechter Herzenstrost bei allen schwierigen Fragen oder gekräuselten Seelenoberflächen, und die gab es schon in diesem etwas schwierigen Haushalt. Ullo bemühte sich sehr um Frieden und Harmonie, mitunter aber vergeblich. Da war Onkel Panjie dann der Hafen, in den man einfuhr für gestohlene Minuten.

      Heute waren sie alle drei schon auf, Mammitzschka, Onkel Panjie und Ahnchen, und hatten ihr einen wunderschönen Geburtstagstisch aufgebaut. Ein runder Kuchen prangte in der Mitte; Ullo hatte sich gestern blind, taub und auch noch verschnupft stellen müssen, um sein Werden im Backofen weder zu sehen noch davon zu hören, noch ihn zu riechen. Kerzen standen darum herum, inmitten ein dickes Lebenslicht mit Marienkäfern und Herzen darauf. Und daneben lagen die Geschenke. Ein Paar selbstgestrickte Handschuhe – jetzt im Juni! Aber lieb gemeint – von Ahnchen, ein Buch von Okel Panjie. Und Mammitzschka trug eben eine Schüssel Schinkenhörnchen herzu, selbstgebacken, sehr lecker, solche, wie Ullo sie sehr gern aß, sich aber immer verbot, denn sie wollte nicht dick werden. Nicht aus Eitelkeit, sondern aus praktischen Gründen. Man kommt mit fünfzig die Heubodentreppe leichter hinauf, wenn man dünn ist, man kann besser rennen, wenn das Jungvieh ausgebrochen ist, und braucht sich vor sich selbst nicht zu genieren, wenn man während der Ernte manchmal heimlich in den Stausee springt, um sich abzukühlen.

      Heute aber war Ausnahme, heute war Geburtstag, noch dazu fünfzigster! Ullo bedankte sich gerührt und glaubhaft erstaunt reihum.

      »Jetzt aber muß ich füttern gehen«, sagte sie schließlich. Sie hatte es von Minute zu Minute hinausgeschoben und hoffte nun, endlich damit durchzukommen. Aber sie kam nicht durch.

      »Ist schon gefüttert!« strahlte Ahnchen, und man sah, daß die beiden andern es auch gern verkündet hätten. Es war das größte Geschenk, so meinten sie. Und nun, da Ullo wirklich erstaunt war, antworteten sie im Chor:

      »Dorothee ist da!«

      »Was!«

      Dorothee, Ullos Tochter, einziges Kind aus zweiter Ehe, seit einem Jahre verheiratet. Sie hatte schon einen Sohn und konnte nur mit Mühe weg von daheim, heute aber, zum Fünfzigsten ihrer Mutter, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, zu kommen. Gestern in tiefer Nacht war sie eingetroffen, und heute früh hatte sie als erstes gefüttert.

      Sie kam dann bald. Und nun konnte die ersehnte Begrüßung stattfinden, Ullo drückte die Tochter lachend ans Herz.

      »O ihr Heimtücker, eine Verschwörung! Aber ich habe wirklich nichts geahnt, und du bist schon ein rechtes Gottesgeschenk, Dorothee! Ich freu’ mich sehr, sehr. Und ich habe auch noch eine Überraschung, daß ihr’s nur wißt!« In Dorothees Anwesenheit fühlte sie sich stark.

      »Was denn?« fragte Ahnchen, brennend vor Neugierde. Ahnchen war neugierig wie ein kleines Mädchen, obwohl sie es zu verbergen trachtete. Auch in Mammitzschkas Augen blinkerte es begierig, und Ullo machte es Spaß, die beiden noch ein wenig auf die Folter zu spannen.

      »Ihr müßt raten. Es ist groß und braun – nein, nicht eigentlich braun. Golden – hell – fahlgolden«, spann sie aus, »und dick und geliebt – und es wird euch viel, viel Freude machen.«

      »Ich weiß schon«, sagte Ahnchen gekränkt. »Also ich finde – in deinem Alter – Ullo, denk an dein Alter!« setzte sie betont hinzu. Sie sagte das ungefähr seit zwanzig Jahren.

      »Ich denke dran, deshalb will ich ja –« rief Ullo hitzig. Onkel Panjie hob beschwörend seine schmalen Gelehrtenhände.

      »Aber sie hat ja noch gar nicht gesagt, was es ist!« dämpfte er ab.

      »Als ob wir das nicht wüßten!«

      »Also Dorothee, nun sag du mal –« setzte Ullo an, »ich hab’ es satt, mir immer den Trecker leihen zu müssen, wenn die andern ihn verständlicherweise nicht gern hergeben und –«

      »Und? Da willst du also jetzt –«

      Alle sprachen gleichzeitig, außer Onkel Panjie natürlich. Er versuchte zu schlichten, Ullo war plötzlich den Tränen nahe, sehr ungewohnt bei ihr, Dorothee merkte es genau und überlegte rasend schnell, wie sie die Katastrophe abbiegen könnte – Tränen am fünfzigsten Geburtstag am Frühstückstisch! Da kam, Gott sei gelobt, der Deus ex machina – die Tür öffnete sich, nicht leise, sondern mit einem Bums, und im Zimmer stand – endlich Ullos Generation. Nicht nur das, sondern eine sehr handfeste und respektgebietende Vertreterin dieser Generation, nämlich Ullos beste, allerbeste – richtiger: einzige Freundin. Mechtild, wahrhaftig!

      Sie erschien im richtigen Augenblick. Ullo stieß ihren Stuhl nach hinten, daß er kippte, und sprang auf sie zu, und wäre Mechtild nicht Mechtild gewesen, also ein überaus standfester, kräftiger Mensch, den so leicht nichts aus den Pantinen stieß, so wäre sie zweifellos wieder durch die Tür zurückgeflogen, vielleicht sogar durch die geschlossene.

      »Wie ein Geschoß!« sagte sie anerkennend und sah auf Ullo herab, die ihren Kopf an ihrem gewaltigen Busen unterzubringen versuchte, »armes Kind, was haben sie dir getan!«

      »Tante Mechtild, nein, ist das aber eine Überraschung!« rief Dorothee und begann sofort, Schränke zu öffnen und mit neu herzugetragenem Porzellan zu klimpern. Heute waren die guten Tassen dran. Man trank nicht, wie sonst, aus braunen, an sich hübschen, aber doch recht bodenständigen Kummen ohne Henkel, die keine Untertassen benötigten. »Möchtest du Schinken oder Käse oder Marmelade oder ein Ei? Bist du für salzig oder süß?«

      »Für sowohl als auch. Für alles. Wenn ich die Wahl habe, nehme ich beides, pflegte unser lieber Chef zu sagen, einstmals, lang lang ist’s her, weißt du noch, Ullo?« lachte Mechtild und ließ sich am Tisch nieder. »Ich bin die Nacht durch gefahren und schauderhaft hungrig. Danke, Dorothee, geliebtes Patenkind. Ich hab’ dir auch was mitgebracht, und du bist immer noch so wohlerzogen, abzuwarten und nicht danach zu fragen.«

      Alle lachten. Alles war gut. Mechtild hatte die angeborne Gabe, eine gespannte Atmosphäre allein durch ihre Gegenwart zu entgiften. Sie begann umsichtig zu frühstücken, erst salzig, dann süß. Es war ein Vergnügen, ihr dabei zuzusehen.

      »Ich wollte dir eigentlich heute früh das Füttern abnehmen, deshalb komm’ ich so zeitig. Aber du hattest schon, wie ich gesehen habe.«

      »Ich nicht, Dorothee hat«, gestand Ullo. »Ich habe heute wahrhaftig verschlafen, hältst du so was für möglich! Und es tut mir nicht mal leid. So eigensüchtig wird man im hohen Alter.«

      »Protz nicht«, sagte Mechtild, die ein knappes halbes Jahr jünger war. Beruflich das gleiche wie Ullo, hatte sie es allerdings auf der Erfolgsleiter wesentlich weiter gebracht. Sie hatte, ebenfalls Witwe mit Kindern, den einstmaligen Beruf wieder ergriffen und war bis zur Direktorin aufgestiegen, was Ullo ihr völlig neidlos gönnte. ›Papierkrieg, Ärger mit den Ministerien und Kollegen, danke‹, hatte sie oft gesagt. Mechtild jedoch sah nicht so aus, als ob Ärger ihr zusetze.

      »Ich bekam jetzt sogar einen ehrenvollen Ruf an die Regierung«, erzählte sie gerade, »ja, ihr werdet es nicht glauben. Dies aber ist Nebensache, Hauptsache bist heute du, geliebte Jubilarin. Nun


Скачать книгу