Frauenstation. Marie Louise Fischer

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Frauenstation - Marie Louise Fischer


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im ersten Stock zog er seine Jacke aus, wusch sich die Hände, schlüpfte in seinen Kittel und knöpfte ihn zu, während er schon wieder weiterlief. Als er an der Teeküche auf der Privatstation des Professors vorbeistürmte, kam Oberschwester Helga heraus.

      »Guten Abend, Herr Oberarzt! Das ist aber schnell gegangen!«

      »Hatten Sie etwas anderes von mir erwartet?« erwiderte er und konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie leicht in die feste, wohlgerundete Wange zu kneifen.

      Sie nahm es ihm nicht übel. »Der Herr Professor erwartet Sie schon«, sagte sie und begleitete ihn den Gang hinunter.

      »Wie steht’s?«

      »Die ersten Wehen. Im Abstand von 30 Minuten.«

      »Sehr schön. Lassen Sie die Sectio vorbereiten. Je eher wir es hinter uns haben, desto besser. Wer hat Nachtdienst?«

      »Dr. Bley.«

      »Rufen Sie ihn an. Und lassen Sie nachschauen, ob Dr. Gerber im Haus ist. Ich brauche ihn und den Anästhesisten. Wenn nötig, holen Sie die beiden per Funk herbei, ja?«

      »Wird gemacht.«

      »Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Helga.«

      Dr. Schumann blieb vor dem Eckzimmer auf der Privatstation stehen, in dem Susanne Overhoff lag. »Sagen Sie bitte Bescheid, wenn wir anfangen können.«

      »Ja, Herr Doktor!« Eine Sekunde lang blieb die Oberschwester vor Dr. Schumann stehen, als ob sie noch etwas sagen wollte. Dann besann sie sich, drehte sich um und lief davon.

      Dr. Schumann klopfte an die Tür. Als keine Antwort kam, drückte er die Klinke nieder und trat ein. Susanne Overhoff sah ihm aus übergroßen, glänzenden Augen entgegen. Der Professor stand über ihren Leib gebeugt und horchte die Herztöne des Kindes ab.

      Dr. Schumann trat an das Bett der Patientin. »Guten Abend, Frau Professor«, sagte er. »Froh, daß es endlich soweit ist?«

      »Ja, sehr!« erwiderte sie, tapfer lächelnd.

      Professor Overhoff richtete sich auf. Sein Gesicht war von Sorge und Angst so entstellt, daß Dr. Schumann erschrak. Er reichte seinem Oberarzt das Stethoskop.

      »Gut, daß Sie da sind«, sagte er mühsam.

      »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« fragte Susanne Overhoff beunruhigt.

      Der Professor antwortete nicht, trat an das Fenster. Sein Rücken zuckte.

      »Sie dürfen sich nicht nervös machen lassen, Frau Professor«, meinte Dr. Schumann, »werdende Väter sind ein Kapitel für sich. Unsere Hebammen sagen immer: Lieber drei schwere Geburten hintereinander, als einem aufgeregten Vater Mut zusprechen müssen.«

      Susanne Overhoff lachte gequält, ein kleines zitterndes Lachen.

      Er setzte sich an den Rand ihres Bettes, umfaßte ihr Handgelenk, beugte sich über ihren Leib, prüfte die Herztöne des Kindes und zählte sie sorgfältig aus.

      94 in der Minute. Das war sehr wenig. 120 bis 140 wären normal gewesen. Er wiederholte die Untersuchung, um sich zu vergewissern, aber das Ergebnis blieb unverändert. Mit keinem Wimpernzucken zeigte er sein Erschrecken.

      Er drückte mit den Seitenkanten seiner Hände in ihren Leib. Der Uterus saß sehr hoch, berührte den Rippenbogen. Er legte die eine Hand flach an die seitliche Bauchwand, ertastete den Rücken des Kindes, erfühlte mit der anderen Hand die gegenüberliegenden Arme und Beine. Dann drückte er mit der rechten Hand, den Daumen ahgespreizt, auf den Unterleib. Sehr behutsam, um der Patientin nicht weh zu tun, tastete er tiefer, spürte die feste runde Form des kindlichen Kopfes, der gerade erst in den Beckeneingang eingetreten war.

      Oberschwester Helga kam ins Zimmer. »Der OP ist vorbereitet, Herr Oberarzt«, meldete sie ein wenig atemlos; »Dr. Gerber war im Haus, nur Dr. Leopold, der Anästhesist … aber er ist benachrichtigt und wird spätestens in zehn Minuten hier sein.«

      »Bringen Sie die Sauerstoff-Flasche«, sagte Dr. Schumann ruhig. »Und schickem Sie mir eine Schwester, die mir hilft, das Becken der Patientin hochzulagern.«

      »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« fragte Susanne Overhoff noch mal angstvoll.

      »Kein Grund zur Aufregung«, sagte Dr. Schumann beruhigend, »die kindlichen Herztöne sind etwas langsam …«

      Zu langsam? Ja, aber das bedeutet doch …«

      Professor Overhoff wandte sich vom Fenster ab, trat ans Bett seiner Frau. »Bitte«, sagte er beschwörend, »bitte, Liebling …«

      »Du hast es gewußt? Paul, unser Kind darf nicht sterben, hörst du! Du mußt es retten, sonst …« Eine neue Wehe überfiel sie, sie konnte nur mühsam weitersprechen. »Sonst war alles umsonst.«

      »Das Kind wird leben«, erklärte Dr. Schumann mit Nachdruck, »ich verspreche es Ihnen!«

      Frau Overhoff verkrampfte die Hände über der Brust. »Und ich habe so gebetet«, sagte sie fast tonlos, »so sehr gebetet …«

      »Es ist meine Schuld!« Auf Professor Overhoffs Stirn stand kalter Schweiß. »Ich hätte dir das nicht antun dürfen. Es war … unverantwortlich.«

      »Aber wir haben es uns doch beide gewünscht, nicht wahr? Wir beide, Paul … hast du das denn vergessen?« Tief erregt schluchzte sie auf.

      »Bitte, gnädige Frau … Herr Professor! Bitte!« sagte Dr. Schumann. »Jede Aufregung kann dem Kind schaden. Sie müssen sich entspannen, Frau Professor … ganz tief und langsam atmen. Mit dem Bauch. So, wie Sie es in der Gymnastik gelernt haben … ja, so ist es richtig!«

      Oberschwester Helga kam ins Krankenzimmer. Sie brachte die Sauerstoff-Flasche und die Gesichtsmaske. Zwei jüngere Schwestern folgten ihr und machten sich auf einen Wink Dr. Schumanns daran, das Becken Susanne Overhoffs hochzulagern.

      Dr. Schumann legte die Maske über Mund und Nase der Patientin. »Weiter tief durchatmen«, beschwor er sie. »Denken Sie immer an Ihr Kindchen! Es braucht Luft!«

      »Dr. Leopold ist gekommen«, flüsterte Oberschwester Helga; »er ist gleich in den Waschraum gegangen.«

      Dr. Schumann nickte nur. Er beugte sich erneut tief über den Leib, lauschte auf die Herztöne des ungeborenen Kindes, minutenlang.

      Als er sich aufrichtete, begegnete er dem verzweifelt fragenden Blick Professor Overhoffs, schüttelte stumm den Kopf.

      Laut sagte er: »Es geht schon wesentlich besser … atmen Sie weiter schön durch, gnädige Frau. Ich werde auf alle Fälle unsere Kollegin, Frau Dr. Holger, benachrichtigen, damit Ihr Kindchen sofort sachgemäß betreut wird. Ihr Gatte bleibt bei Ihnen.«

      Er ging rasch zur Tür und war froh, daß Professor Overhoff ihm nicht folgte.

      Tatsächlich hatten sich die kindlichen Herztöne noch weiter verlangsamt, ihr sonst gleichmäßiger Rhythmus war jetzt sogar zeitweilig unterbrochen. Die Herztöne stolperten. Das Leben des Kindes schwebte in höchster Gefahr.

      Zehn Minuten später lag Susanne Overhoff im kalten, sehr hellen Licht der OP-Lampe auf dem Operationstisch.

      Ihr Mann hatte sie nicht bis hierher begleitet. Ihr war es recht so. Er schien ihr plötzlich auf seltsame Art aus der Mitte ihres Lebens verschwunden. Susanne Overhoff war bei vollem Bewußtsein. Sie gab sich weiter Mühe, so tief wie möglich zu atmen – ihr ganzes Fühlen, ihr Denken, ihr heißer Wunsch galt nur dem Leben ihres noch ungeborenen Kindes.

      Sie zuckte nicht einmal zusammen, als Dr. Leopold, der Anästhesist, ihr die erste Spritze gab. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich im stummen Gebet.

      Dr. Leopold legte die Infusionsnadel an die Vene ihres rechten Armes. Die Nadel war durch einen Schlauch mit einem erhöhten gläsernen Behälter mit Blutersatz verbunden, dem Dr. Leopold jederzeit intravenöse Narkosemittel beigeben konnte.

      Aber noch war es nicht soweit. Um des Kindes willen durfte die Patientin


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