Frauenstation. Marie Louise Fischer
Читать онлайн книгу.Gestalten, die in den Operationssaal traten. Sie fühlte, wie ihr Leib mit einer leicht brennenden Lösung abgewaschen wurde. Sie wurde behutsam mit Tüchern abgedeckt, sah nur noch einen grünen Himmel über sich. Eine jähe, unbeschreibliche Angst überfiel ihr Herz.
Dann wich die Angst, eine wohltuende, lähmende Müdigkeit überkam sie. Sie schloß die Augen. Sekunden später war sie eingeschlafen.
Df. Leopold öffnete ihren Mund, fand mit Hilfe des Laryngoskops den Eingang zur Luftröhre, schob den Trachealkatheter durch die erschlafften Stimmbänder sehr vorsichtig vor und preßte ihn dann von außen, indem er einen Gummiball aufblies, so gegen die Wände der Luftröhre, daß ein Verschieben oder Verrutschen unmöglich war. Das andere Ende des Katheters verband er über ein Ventil mit dem gasführenden Schlauch des Narkoseapparates.
»Anfangen!«
Dr. Schumann hatte nur auf dieses Wort gewartet. Ohne den Blick von der Patientin zu lassen, streckte er die Hände aus. Selma, eine zuverlässige ältere Operationsschwester, reichte ihm das Skalpell.
Im gleichen Augenblick nahm Edith, eine jüngere OP-Schwester, eine Pinzette von dem grünen, sterilen Tuch, das den Instrumententisch bedeckte, und gab sie Dr. Gerber.
Dr. Bley stand zwischen den Beinen der Patientin und hielt die Hauthaken bereit.
Mit sicherer Hand tat Dr. Schumann den ersten Schnitt. Dr. Bley setzte die Hauthaken. Dann durchtrennte Dr. Schumann mit einem zweiten Schnitt das Fettgewebe.
Dr. Gerber, sein erster Assistent, beobachtete aufmerksam jeden Handgriff, wußte schon im voraus, was der Operateur tun und wo er gegenhalten mußte. Frau Dr. Irene Holger war zwei Schritte zurückgetreten, um ihre Kollegen bei der Arbeit nicht zu stören. Sie hob sich auf die Zehenspitzen, um die Operation genau verfolgen zu können.
Mit einem glatten Längsschnitt durchtrennte Dr. Schumann jetzt die Muskulatur. Dr. Bley setzte die Hauthaken neu. Der Chirurg spaltete die Bauchfellfalte.
Eine der OP-Schwestern reichte sterile warme Tücher, mit denen Dr. Schumann und Dr. Gerber die freigelegten Därme abdeckten und vorsichtig beiseite schoben.
Selma hatte dem Operateur Pinzette und Skalpell abgenommen und gab ihm jetzt ein noch feineres Skalpell. Dr. Schumann machte einen kleinen Querschnitt durch den unteren Bereich des Uterus und erweiterte den Schnitt vorsichtig mit dem Finger. Dann faßte er mit der rechten Hand behutsam in die Öffnung und versuchte mit der linken das obere Ende des Uterus gegenzuhalten. Da die Geburt noch nicht weit fortgeschritten war, gelang es ihm ohne Mühe, den kindlichen Kopf aus dem Eingang des Beckens zu stemmen. Vom Uterusfundus aus unterstützte ihn Dr. Gerber durch sanften Druck von oben. In Sekundenschnelle war das Kind entwickelt. Es hatte die Nabelschnur, die nur noch schwach pulsierte, zweimal um den Hals geschlungen.
Unwillkürlich blickte der Anästhesist auf die große Wanduhr. Genau drei und eine halbe Minute hatte die Operation bis jetzt gedauert. Drei und eine halbe Minute hatten vier Ärzte und zwei Schwestern stumm und verbissen um das Leben einer Mutter und ihres Kindes gekämpft.
Dr. Schumann klemmte die Nabelschnur zweimal und durchschnitt sie. Das Kind schrie nicht. Es hing leblos in seiner Hand, blau, der Erstickung nahe, mit schlaffen Gliedmaßen. Die Hebamme nahm es entgegen, hüllte es in ein warmes Tuch und übergab es Frau Dr. Holger. Die Ärztin trug das Neugeborene in den Nebenraum, die Hebamme folgte ihr. Dr. Schumann stand über den offenen Leib der Patientin gebeugt und löste mit äußerster Vorsicht die Plazenta.
»Blutdruck 110«, meldete der Anästhesist, „Kreislauf und Atmung in Ordnung!«
Plötzlich – Dr. Schumann hatte die Plazenta schon herausgelöst – schoß aus einem fingerdicken Gefäß Blut in die Bauchhöhle.
»Klemme!« schrie er.
Seine Finger tasteten in die Wunde, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Jeder im Operationssaal hielt unwillkürlich den Atem an.
Dann hatte er das Gefäß erfaßt, klemmte es ab. Die Blutung stand.
Der Puls der Patientin war schwach geworden. Der Anästhesist transfundierte die Blutkonserve, die er vorsorglich vom Labor hatte austesten lassen und in Bereitschaft hielt. Schwester Selma reichte die runde Nadel, Dr. Schumann vernähte die Uterusmuskulatur. Darüber legte er eine Naht an, wobei er einen Teil des Gewebes einstülpte.
Dr. Gerber nahm die eingelegten Tücher aus der Bauchhöhle. Jetzt konnte Dr. Schumann beginnen, das Bauchfell zu vernähen. Er atmete tief auf unter dem beklemmenden Mundschutz.
»Puls und Blutdruck fast normal«, meldete Dr. Leopold. Das Schlimmste war überstanden. Nach menschlichem Ermessen würde Susanne Overhoff durchkommen. Aber was war mit ihrem Kind? Diesem Kind, für das sie ihr Leben ganz bewußt und freiwillig aufs Spiel gesetzt hatte?
Frau Dr. Holger hatte das Neugeborene auf den Wickeltisch gelegt. Es lag ganz schlaff, mit geschlossenen Augen, winzig, blau und jämmerlich. Man hätte es für tot halten können, aber sein Herzchen klopfte noch, wenn auch sehr schwach und erschreckend langsam.
Die Ärztin ergriff den sterilen Absaugschlauch, saugte dickflüssigen Schleim aus Mund- und Rachenhöhle, saugte die Nase frei. Die Hebamme reichte ihr das beleuchtete Intubationsgerät. Frau Dr. Holger führte behutsam den winzig kleinen Schlauch über den Kehlkopf hinweg in die Trachea ein. Die Hebamme hatte den Schlauch schon mit dem Sauerstoffgerät verbunden. Die Ärztin stellte den Apparat an – über eine Art Blasebalg wurde der kleine Junge in rhythmischen Abständen beatmet.
»Ob wir ihn durchkriegen?« fragte die Hebamme skeptisch.
»Wir müssen«, erklärte Frau Dr. Holger kurz. Sie überließ der Hebamme die Bedienung des Blasebalges, zog eine Spritze mit einem Atemstimulans auf, injizierte es.
Dann übernahm sie selber wieder den Blasebalg. Gebannt starrten die beiden Frauen auf das Neugeborene, dessen Befinden noch immer keine Änderung zeigte.
»Du machst schon Sachen, Kleiner«, sagte die Hebamme, »erst strangulierst du dich und dann …« Sie unterbrach sich. »Sehen Sie nur, Frau Doktor! Die Farbe ändert sich!«
Tatsächlich begann sich langsam, kaum merklich, die lilablaue Haut rosig zu färben. Endlich, nach fast zwanzig Minuten, tat das Kind seinen ersten Schnapper, gab es auf, versuchte es wieder und noch einmal.
»Bist doch ein tapferer kleiner Bursche«, lobte die Hebamme. »Gib nur nicht auf, mach weiter. Es lohnt sich, glaub mir! Das ganze Leben liegt ja noch vor dir!«
Als ob diese törichten Worte, die der Junge ja gar nicht verstehen konnte, eine zauberische Wirkung ausgeübt hätten, öffnete er plötzlich den Mund und tat einen Schrei – seinen ersten Schrei!
Die Hebamme und die Ärztin lächelten sich glücklich an. Die Lungen des Kindes waren entfaltet, jetzt konnte es selbständig atmen.
Der erste Schrei des Neugeborenen war bis in den OP gedrungen. Dr. Schumann hatte bereits die Nähte versorgt und war dabei, die Haut zu klammern. Unwillkürlich hob er, wie alle anderen, den Kopf, um zu lauschen.
»Patientin ist pulslos«, rief der Anästhesist entsetzt. Eine Sekunde waren alle starr vor Schrecken.
Dann riß Dr. Schumann sich mit einer wilden Bewegung den Mundschutz ab, schrie: »Reiner Sauerstoff!«
Mit dem Handballen begann er rhythmisch das Herz der Patientin zu massieren. Dr. Leopold schaltete das Ventil des Trachealkatheters auf reinen Sauerstoff, um die Patientin künstlich zu beatmen.
Im OP herrschte Totenstille.
»Kein Puls«, meldete der Anästhesist.
Dr. Schumann nahm eine Punktionsnadel und stieß sie tief in die Brust der Patientin. Sie traf das Herz. Im gleichen Augenblick entwich Luft mit pfeifendem Geräusch, und am Ende der hohlen Nadel bildete sich ein kleines Knäuel von blutigroten Bläschen. Dr. Schumann zog die Nadel zurück und setzte die Massage des Herzens fort. Er massierte unaufhörlich, verbissen, obwohl er wußte, es schon im ersten Augenblick gewußt hatte, daß alles vergebens war.
Susanne