Frauenstation. Marie Louise Fischer
Читать онлайн книгу.Mutter sagt immer man kann den Vater seiner Kinder gär nicht sorgfältig genug auswählen!«
Die Tür öffnete sich, Frau Dr. Holger trat ein, Dr. Schumann glaubte zu fühlen, daß er rot wurde. Hatte er ein schlechtes Gewissen?
»Gut, daß Sie kommen, Frau Kollegin«, sagte er rasch, »sehen Sie doch, bitte, den kleinen Weyrer einmal an … sieht wie ein Rhesus aus. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie eine Blutabnahme durchführen und die Probe sofort ins Labor geben würden.«
»Sie haben recht«, erwiderte die Ärztin, die an das Bett des Kindes getreten war, »das ist sehr rasch gekommen. Heute früh war noch nichts zu sehen.«
»Eventuell müssen wir einen Blutaustausch vornehmen. Bitte, unterrichten Sie mich auf jeden Fall über das Labor-Ergebnis.« Dr. Schumann wandte sich zur Tür.
»Einen Augenblick noch«, bat die Ärztin, »ich hätte gern mit Ihnen über den kleinen Overhoff gesprochen …«
»Irgend etwas nicht in Ordnung?«
»Er ist vollkommen gesund. Herztöne, Reaktionen, alles großartig. Ich möchte nur einen Vorschlag wegen der Ernährung machen … Elfie Peters hat Milch in Hülle und Fülle, ihr Kerlchen kann’s gar nicht bewältigen. Ob wir den Kleinen nicht bei ihr anlegen sollten?«
»Ist sie einverstanden?«
»Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen. Aber ich bin überzeugt, sie wird es gern tun. Das Abpumpen ist ihr nicht gerade angenehm, und sie ist ein nettes Mädchen.«
»Ledig?«
»Ja. Sehr schlechtes Zuhause. Sie würde sicher gern vierzehn Tage hierbleiben. Man müßte mit Herrn Professor darüber sprechen.«
Dr. Schumann zögerte. »Heute wird er sicher nicht mehr kommen …«
»Doch. Ich habe mich erkundigt. Er ist schon da.«
»Ob es dann richtig ist, wenn ich gerade jetzt, nach der Beerdigung …«
»Wir müssen versuchen, ihm darüber hinwegzuhelfen, ihn an seinem Sohn zu interessieren. Gerade jetzt …«
»Warum sprechen Sie dann nicht selber mit ihm, Frau Kollegin?« wandte Dr. Schumann unbehaglich ein. »Sie sind eine Frau, Sie könnten sicher am ehesten …«
»Haben Sie vergessen, daß ich es war, die ihm den Tod seiner Frau mitgeteilt hat?« sagte die Ärztin sehr ruhig. »Im Altertum ließ man die Boten einer Unglücksnachricht töten. Nicht ganz unverständlich. Mein Anblick würde vielleicht alles von neuem in ihm aufreißen …«
Professor Overhoff saß, den Kopf in die Hände gestützt, hinter seinem leeren Schreibtisch, als Dr. Schumann ins Zimmer trat. Er machte nicht die geringsten Anstalten, Haltung vorzutäuschen.
Unwillkürlich blieb Dr. Schumann nahe der Tür stehen. Wohl hatte er erwartet, einen schmerzgebeugten Mann anzutreffen, aber er erschrak dennoch über das Ausmaß dieses Zusammenbruchs. War das Haar des Professors wirklich über Nacht so grau geworden? Oder täuschte er sich? Lag es an dem schwarzen Anzug, der schwarzen Krawatte, dem bleichen Gesicht, die ihn um Jahre gealtert erscheinen ließen?
Er wagte nicht, ihn anzusprechen, sondern wartete stumm, bis der Professor endlich den Kopf hob und ihn aus Augen ansah, die, ohne Ausdruck, in weite Fernen gerichtet zu sein schienen.
»Ja?« fragte Professor Overhoff müde. »Was gibt es?«
»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie störe, Herr Professor«, sagte Dr. Schumann und war sich seiner eigenen Unbeholfenheit quälend bewußt, »aber ich komme … es ist wegen des Jungen.«
»Des Jungen?« wiederholte der Professor verständnislos.
»Wegen Ihres Sohnes«, sagte Dr. Schumann mit Nachdruck. Das Gesicht des Professors blieb völlig unbewegt, zeigte nicht die Spur einer Anteilnahme.
»Frau Dr. Holger hat den Vorschlag gemacht … einen Vorschlag, den ich übrigens unterstützen möchte … ihn einer Wöchnerin der dritten Station anzulegen, einer sehr gesunden jungen Frau, die …«
Professor Overhoff unterbrach ihn. »Ja, dann tun Sie das doch«, sagte er in einem Ton, der deutlich zeigte, daß er sich durch diese Frage im Augenblick nur belästigt fühlte.
»Danke, Herr Professor.« Dr. Schumann suchte nach Worten, die diese Wand, mit der der Witwer sich umgeben hatte, hätten durchbrechen können. »Es ist ein prächtiger Kerl«, begann er, »wenn Sie ihn sich einmal ansehen würden …«
»Wozu?«
Eine Sekunde lang verschlug es Dr. Schumann die Sprache. Dann fuhr er eindringlich fort: »Es ist Ihr Sohn, Herr Professor … das letzte Vermächtnis Ihrer Frau!« Er hielt inne, hatte das Gefühl, zu weit gegangen zu sein.
Aber der Professor reagierte überhaupt nicht.
Dr. Schumann gab es auf. »Dann werde ich also anordnen …«, sagte er und wollte sich zurückziehen.
Ganz plötzlich rührte sich die Gestalt hinter dem Schreibtisch. »Bitte«, sagte er, »bleiben Sie doch noch …«
Dr. Schumann trat näher, folgte der Handbewegung seines Chefs und ließ sich auf einen der harten, lederbezogenen Stühle nieder.
In die Hände des Professors war Unruhe gekommen, sie glitten nervös über die blanke Fläche des Schreibtisches, nahmen den schweren goldenen Kugelschreiber auf, legten ihn wieder fort. Dr. Schumann wartete geduldig.
»Mir geht da immerzu ein Gedanke im Kopf herum«, sagte Professor Overhoff endlich mühsam; »ein an sich vielleicht abwegiger Gedanke … seien Sie, bitte, ganz ehrlich! Hat jemand Sie schon einmal … unbarmherzig genannt?«
»Doch«, gestand Dr. Schumann; »dies und noch mehr. Meine Frau. Sie hält mich für einen kalten, grausamen Egoisten.«
»Das meine ich nicht. Eine Patientin.« Professor Overhoffs Atem ging schwer. Es war deutlich, wieviel Überwindung ihn dies Gespräch kostete. »Sicher sind doch auch zu Ihnen schon Frauen gekommen … blutjunge Mädchen, verlassene Bräute, Frauen trunksüchtiger Männer, die ihr Kind nicht haben wollten?«
»Natürlich«, antwortete Dr. Schumann verständnislos; »das gehört doch zu den täglichen Erfahrungen jedes Frauenarztes …«
»Und? Haben Sie geholfen?«
»Nein.«
»Waren Sie auch nie … in Versuchung gekommen, es zu tun? Oder … ich will die Frage anders formulieren … sind Sie überzeugt, daß Ihre Weigerung in jedem Fall richtig war?«
»Ich begreife nicht …«
»Doch, doch, weichen Sie mir nicht aus! Sie begreifen sehr gut. Hat Ihnen noch nie jemand gesagt … haben Sie noch nie gespürt, daß Ihre Haltung unbarmherzig war?«
»Wir Ärzte dienen dem Leben«, sagte Dr. Schumann; »und das Leben ist unbarmherzig.«
»Die Natur, meinen Sie …«
Ätzend fielen die Worte in sein Bewußtsein, mit denen Astrid ihn zu verletzen gesucht hatte. »Nein, das Leben!« erwiderte er heftig. »Die Natur will oft auch den Tod. Er allein ist unser Feind, ihn müssen wir bekämpfen. Auch das ungeborene Kind besitzt ein Recht auf sein Leben.«
»Und wenn wir wissen, daß ohne unser Eingreifen beide verloren sind, die Mutter und ihr Kind? Weil so ein blutjunges Ding oder so ein verzweifeltes Wesen die Verantwortung gar nicht tragen kann oder will? Daß sie ihr Leben wegwerfen wird, wenn wir nicht …« Die Stimme des Professors versagte.
»Wir dürfen niemals und in keinem Fall zum Helfershelfer des Todes werden«, erklärte Dr. Schumann mit fester Stimme, »auch wenn er gnädig scheint. Ich weiß, er kann es manchmal, denn …«
Das Schrillen des Telefons unterbrach seinen Satz.
Professor Overhoff nahm den Hörer ab, meldete sich, lauschte. »Ja«, sagte er, »nein … der Herr Oberarzt