Frauenstation. Marie Louise Fischer

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Frauenstation - Marie Louise Fischer


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Ich habe alles getan, was in meiner Kraft stand, um Susannes Leben zu retten. Mich trifft keine Schuld.«

      Sie sah nicht, daß er die Hände zu Fäusten geballt, die Nägel in die Handflächen gebohrt hatte, um seine Beherrschung nicht zu verlieren. Seine Ruhe, die sie für Gleichgültigkeit hielt, machte sie rasend.

      »Grausam bist du!« schrie sie. »Gemein! Du und dein Professor … ihr beide habt sie auf dem Gewissen …«

      Er ertrug es nicht länger. »Du weißt nicht, was du redest! Es war Susanne Overhoffs freier Wille …«

      »Freier Wille!« rief sie höhnisch; aber ein kleiner zitternder Bruch in ihrer Stimme zeigte, wie nah ihr die Tränen waren. Dr. Schumann sah sie an. Sie war schön in ihrer Erregung. Sie war seine Frau. Er liebte sie; begehrte sie in diesem Augenblick, da es zum erstenmal in ihrer Ehe zu einem offenen Ausbruch zwischen ihnen gekommen war, vielleicht mehr denn je.

      »Astrid«, sagte er und trat einen Schritt näher an ihr Bett, »glaub mir, ich verstehe deine Erregung … ich liebe dich doch!«

      »Liebe, was ist Liebe? Ihr wollt alle dasselbe … eine Frau, die euch Kinder gebärt. Wir sind doch nur Mittel zum Zweck!« Sie hob die schlanken nackten Arme, preßte die Hände auf die Ohren. »Ich kann es nicht mehr ertragen! Aus freiem Willen, hast du gesagt? Als wenn ich nicht wüßte, wie dieser freie Wille ausgesehen hat! Arme, arme Susanne. Tag für Tag und Stunde für Stunde mußte sie im Gesicht ihres Mannes lesen, daß er nur einen einzigen Wunsch hatte … einen Sohn. Oh, mach mir nichts vor. Er hat sie mürbe gemacht, dein berühmter Professor, dieser große Ehrenmann! Genau wie du es mit mir versucht hast. Von Anfang an!«

      »Astrid«, sagte er beherrscht, »ich gebe ja zu, daß ich mir unsere Ehe anders vorgestellt habe. Ist es denn ein Verbrechen, sich Kinder zu wünschen?« Er lächelte plötzlich. »Es brauchen keine Söhne zu sein. Mädchen wären mir genauso lieb.«

      »Hör auf«, sagte sie, »hör auf!« Ihre tiefblauen Augen standen voller Tränen. Mit einer rührenden Geste der Resignation ließ sie die Arme sinken.

      »Astrid!« beschwor er sie, »glaub mir doch, daß ich dich verstehe. Du hast Angst …«

      »Angst? Ja, ich habe Angst. Aber es ist nicht das allein. Ich möchte frei sein, ich möchte leben, ich möchte geliebt werden … um meiner selbst willen.«

      »Aber das tue ich doch, Astrid. Spürst du das denn nicht?«

      Er beugte sich zu ihr und strich zärtlich über die kühle, glatte Haut ihres Armes.

      Sie zuckte zurück. »Rühr mich nicht an!« rief sie. »Wenn du mich noch einmal anrührst … ich werde dieses Haus verlassen. Für immer.« Als ob sie erst jetzt ihre Blöße bemerkt hätte, zog sie mit einer jähen Bewegung die Daunendecke über die Schultern.

      Er sah auf sie herab und war sich seiner Kraft bewußt. Er spürte die Versuchung, ihren Widerstand zu brechen. Ihr schmaler Körper zeichnete sich unter der Seidendecke ab, starr und gespannt und voller Abwehr bis in die letzte Faser. Er war ein Mann, er war ihr Mann – und er hatte das Recht, sie zu besitzen.

      Ihre Blicke begegneten sich, und sie erkannte, was in ihm vorging.

      »Geh!« schrie sie ehtsetzt. »Geh! Ich … ich hasse dich!«

      Er holte Luft, mit einem tiefen keuchenden Atemzug. Dann drehte er sich wortlos um und verließ das Schlafzimmer seiner Frau.

      Als die Tür wie mit tödlicher Endgültigkeit hinter ihm ins Schloß fiel, starrte Astrid ihm noch immer angsterfüllt nach.

      Drei Tage später wurde Susanne Overhoff beerdigt.

      Kopf an Kopf drängte sich die Trauergemeinde. Die Ärzte der Frauenklinik waren vollzählig erschienen, soweit sie sich vom Dienst hatten frei machen können, auch die Schwestern, Laborantinnen, Hebammen. Dr. Leopold, der Anästhesist, stand neben dem jungen Dr. Bley, einen Schritt hinter ihnen Dr. Gerber, ein kleines süffisantes Lächeln um die Mundwinkel. Frau Dr. Irene Holger, mit weit aufgerissenen Augen, hatte die Lippen fest zusammengepreßt. Oberschwester Helga, statt in gewohnter Tracht mit schwarzem Mantel und schwarzer Persianermütze, hielt ein weißes Tüchlein in der Hand, das sie immer wieder an die Augen führte. Die junge Schwester Patrizia von der Kinderstation schien hinter ihrem kräftigen Rücken Schutz zu suchen.

      Kollegen des Professors aus anderen Fakultäten waren zum Begräbnis gekommen, Studienfreunde, Vertreter der Universität, der Stadt, Journalisten, Patientinnen, Neugierige.

      Die Stimme des Pfarrers, eines mageren, lebhaften kleinen Mannes, hätte selbst bei voller Lautstärke die hinteren Reihen nicht mehr erreicht, und er machte auch gar nicht den Versuch dazu.

      Professor Overhoff hielt die Augen starr, mit einem Ausdruck angestrengter Konzentration, auf ihn gerichtet. Er sah zwar das Mienenspiel des Pfarrers, die Bewegungen seiner Lippen, aber er war nicht imstande, den Sinn der Worte aufzunehmen, die wie eine unbarmherzige Flut gegen seine Ohren brandete. Hin und wieder drangen Satzfetzen in sein Bewußtsein: »… ein wahrhaft christliches Leben … eine gute, reine Frau … das höchste Opfer … Gottes Liebe …« Aber die Worte ergaben keinen Sinn, schienen weder etwas mit ihm noch mit dem Schicksal seiner Frau zu tun zu haben. Der Professor befand sich in einem Zustand dumpfer Betäubung. Es war nicht Trauer um seine Frau, was er empfand; es war viel mehr. Ihr Tod hatte ihn wie eine körperliche und seelische Verstümmelung getroffen; wie eine riesige Wunde, an der seine Persönlichkeit verblutete. Er konnte nicht mehr weinen, und er konnte nicht mehr beten. Sein Kopf schmerzte, als habe er ihn gegen eine Mauer von Granit gestoßen.

      Er begriff nicht, wie dies hatte geschehen, wieso gerade ihm dieser Schmerz hatte zugefügt werden können. Obwohl er Arzt war und der Tod zu seinen täglichen Erfahrungen gehörte; obwohl er wußte, welches Risiko die dritte Geburt für seine Frau bedeuten mußte, hatte er es im tiefsten Herzen nicht eine Sekunde lang für möglich gehalten, daß es Susanne treffen könnte. Er glaubte sie und sich selber gefeit durch die lebendige Kraft ihrer Liebe, ihres Glaubens und ihrer Gebete. Doch Gottes Hand, in der sie beide sich so sicher und geborgen gefühlt, hatte sie fallenlassen. Warum? Warum?

      Ein Bild tauchte in Professor Overhoffs Erinnerung auf, das Bild eines jungen Mädchens, an das er seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte, das er völlig vergessen zu haben glaubte. Jetzt plötzlich sah er Sibylle Kalthoff vor sich, so deutlich und greifbar wie damals, als sie zu ihm in die Praxis kam, kurz bevor man ihn mit der Dozentur betraut hatte. Ein blasses Mädchen, Tochter aus gutem Hause, neunzehn Jahre. Sie war im dritten Monat.

      Sie weinte nicht, als er es ihr bestätigte. Nur ganz still wurde sie. »Sie müssen mir helfen, Herr Doktor!« Es war ihm, als höre er noch ihre kleine brüchige Stimme. »Sie müssen!« Und dann hatte sie ihre Geschichte erzählt, die Geschichte einer Vergewaltigung. »Dieses Kind darf nicht zur Welt kommen«, hatte sie gefleht, »meine Eltern … nein, ich könnte es nicht ertragen.« Und er? Er hatte das übliche gesagt, ihr vom Segen der Mutterschaft erzählt und daß alles ganz anders aussehen würde, wenn das Kind erst da wäre; daß sie dann sehr glücklich sein würde und ihre Eltern sich damit abfinden und ihr Enkelkind liebhaben würden.

      »Das Kind einer Bestie?« hatte Sibylle geantwortet. Einer Bestie, ja, er erinnerte sich noch genau an diese Worte. Er war betroffen gewesen. Aber er hatte ihr nicht geholfen. Weil es verboten war? Oder weil er um seinen guten Ruf fürchtete, seine Karriere nicht aufs Spiel setzen wollte? Oder wirklich nur deshalb, weil er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte?

      »Wie unbarmherzig Sie sind«, hatte Sibylle gesagt.

      Das waren ihre letzten Worte gewesen. Er sah sie nie wieder. Ein paar Wochen später erfuhr er von ihrem Tod. Durch eine Anzeige in der Tageszeitung. »Tragischer Unglücksfall«, hatte es dort geheißen. Es kam nie heraus, ob sie sich einem Kurpfuscher in die Hände gegeben und daran gestorben war oder ob sie ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Den Eltern war es gelungen, die Sache zu vertuschen.

      Er, Paul Overhoff, fühlte sich damals von diesem Tod nicht betroffen. Er glaubte, sich keine Vorwürfe machen zu müssen, denn er war sicher, sich richtig entschieden zu haben. Der Sinn des Lebens, der Sinn


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