Die Erneuerung der Kirche. George Weigel

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Die Erneuerung der Kirche - George Weigel


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evangelikale Katholizismus außerdem ein höheres Maß an Stabilität, weil der Aufbau pulsierender evangelikaler Gemeinden Zeit braucht. Und Zeit braucht es auch, die nötigen Beziehungen wachsen zu lassen für jenen Weg der missionarischen Ausformung und Fruchtbarkeit, der, wie der hl. Paulus schreibt, »alles übersteigt« (1 Kor 12,31) – und der schon immer der beschwerlichere Weg gewesen ist.

      Der evangelikale Katholizismus, der sich als ein Ergebnis der katholischen Erneuerung Leos XIII. und seiner Nachfolger abzeichnet, wird eine erhöhte Aufmerksamkeit für die sakramentale Vorbereitung und die Sakramentendisziplin erfordern, weil er sich – ganz im Einklang mit den Vorstellungen der klassischen Liturgischen Bewegung Mitte des 20. Jahrhunderts, die Liturgie und Gottesdienst mit christlicher Bildung und Mission und mit dem christlichen Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt verknüpfte – aus den Sakramenten speisen wird. Der evangelikale Katholizismus wird eine sehr viel größere Aufmerksamkeit für die Verkündigung erfordern, als sie in großen Teilen der Kirche in den entwickelten Ländern zu finden ist, weil Mission aus den Sakramenten und aus dem Wort Gottes lebt. Und das wiederum wird eine tiefgreifende Reform der Priesternachwuchsarbeit und der Priesterausbildung erfordern.

      Der evangelikale Katholizismus wird es ferner erforderlich machen, dass die Bischöfe ihre Rolle als Werkzeuge der Einheit in der Kirche überdenken: Die Bischöfe der katholischen Zukunft müssen einsehen, dass sie nur dann Werkzeuge der Einheit sein können, wenn sie den Seelen helfen, die befreiende Wahrheit des Evangeliums zu bejahen, was wiederum bedeutet, dass diese Seelen der Falschheit und Sünde entsagen müssen. Deshalb wird der evangelikale Katholizismus es zuweilen erforderlich machen, dass die Kirche an ihren Schnittstellen mit dem öffentlichen Leben fest und unzweideutig »Nein« sagt – wie es die deutschen Bischöfe im bismarckschen Kulturkampf tun mussten (als die Hälfte von ihnen im Gefängnis saß); wie es 1953 die polnischen Bischöfe taten, als sie »Nein« sagten zu den Bestrebungen des polnischen Kommunismus, die Kirche zu einem verlängerten Arm der Partei zu machen (auch dies ein kühnes Eintreten für das Evangelium, das einige Nachfolger der Apostel ins Gefängnis brachte); wie es die Bischöfe der westlichen Welt überall dort tun müssen, wo sich der Staat das Recht anmaßt, das Wesen der Ehe zu verändern oder ganze Gruppen von Menschen aus der gemeinsamen Schutz- und Interessengemeinschaft auszuschließen.

      Wenn der evangelikale Katholizismus die Gemeinschaft der Gläubigen aufbaut, dann tut er das nicht um der Gemeinschaft, sondern um der gemeinsamen Teilhabe an den Glaubensgeheimnissen willen. Diese Teilhabe wird ihrerseits zur Quelle der Gnade, aus der die Gemeinschaft schöpft, wenn sie anfängt, die Welt zu bekehren. Die Feuerzungen, die die Kirche formen, werden so zum Feuer der Mission, das die Welt in Brand steckt.

      Der evangelikale Katholizismus ruft die ganze Kirche um ihrer missionarischen Sendung willen zur Heiligkeit auf.14

      Tiefenwachstum

      Der eine oder andere mag einwenden, dass das einfach nicht funktionieren wird: dass eine solche Vision von zutiefst bekehrten, durch und durch katechetisierten, sakramental bereicherten und evangelikal begeisterten Katholiken, die auf den tiefen See der postmodernen Welt hinausfahren, einfach zu anspruchsvoll ist und nur ein beschönigender Name für ein neues katholisches Sektierertum, für eine reinere, aber kleinere Kirche ist. Gewiss, der evangelikale Katholizismus verlangt viel. Und doch war es schon immer genau dieser Ruf nach christlicher Größe – einer Größe aus der Kraft der göttlichen Gnade, die die Herzen emporhebt, und des Heiligen Geistes, der unseren Bemühungen sein Feuer eingießt –, die den katholischen Glauben hat wachsen lassen.

      Genau dieser Glaube hatte die heidnische Welt erobert und die frühen Märtyrer in ihren Prüfungen gestärkt.

      Genau dieser Glaube, vereint mit einer mystagogischen Sicht auf die Sakramente, hatte Fischhändler und Bäcker in Konstantinopel dazu gebracht, über das Verhältnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur in Jesus Christus zu debattieren. Und wenn byzantinische Kaufleute über die hypostatische Union debattieren konnten, dann sollte es doch auch möglich sein, dass die mit Sicherheit am besten ausgebildeten Katholiken der Kirchengeschichte unter Anleitung ihrer Seelsorger, die meisterhafte Prediger sind, die Tiefen dessen erkunden, was sie Sonntag für Sonntag im Glaubensbekenntnis aussprechen, nämlich dass Jesus, der Herr, »eines Wesens mit dem Vater« ist, und dass sie sodann aus dieser Betrachtung neue Einsicht, Kraft und Leidenschaft für ihre missionarische Sendung gewinnen.

      Genau dieser Glaube – ein zutiefst biblischer und im sakramentalen Sinne reicher Glaube, in dem die göttliche Gegenwart eine greifbare Realität des alltäglichen Lebens ist – hat das enorme Wachstum des Katholizismus im Afrika des 20. und 21. Jahrhunderts herbeigeführt, als Millionen von Afrikanern aus einer Welt der Geister und Mächte in die Wahrheit des einen und wahren Gottes, seines Sohnes und des Heiligen Geistes geführt wurden.

      Ein evangelikaler Katholizismus ist auch dort am Werk, wo aus den vermeintlichen Ruinen des einstmals bedeutsamen westlichen Katholizismus neues Leben wächst. Überall auf der Welt blühen an den unwahrscheinlichsten Orten katholische Pfarreien (Soho im Londoner West End; Greenville, South Carolina, im Herzen des amerikanischen Bible Belt; Manhattan Zentrum) und Studentengemeinden (an der A&M University in Texas, in Princeton und an der katholischen Universität Lemberg, die von der ehemals illegalen Untergrundkirche der griechischen Katholiken in der Ukraine betrieben wird), weil Seelsorger ohne Kompromisse das Evangelium verkünden, die Sakramente mit Würde und Gnade feiern, den Ausgegrenzten dienen und auf diese Weise »die Heiligen für die Mission rüsten« (vgl. Eph 4,12). Es ist kein Zufall, dass diese und ähnliche Pfarreien, Studentengemeinden und höhere katholische Bildungseinrichtungen in einer ansonsten eher trockenen Periode eine große Menge an Priester- und Ordensberufungen hervorbringen.

      Von Yonkers, New York, über Alma, Michigan, bis hin nach Nashville, Tennessee, von Pluscarden Abbey im schottischen Hochland bis hin zum Kloster Our Lady of the Annunciation in Clear Creek, Oklahoma, schießen Frauen- und Männerorden aus dem Boden, die ein geweihtes Leben nach dem Modell des evangelikalen Katholizismus führen, in einer Zeit, in der andere Orden zur Bedeutungslosigkeit verkümmern, weil sie in sich nicht plausibel sind.

      Erneuerungsbewegungen und neue katholische Gemeinschaften, die die evangelikale Essenz des II. Vaticanums begriffen haben und ein Leben der missionarischen Jüngerschaft führen, sind die lebendigsten Saatfelder der Kirche in einst so durch und durch katholischen Ländern wie Frankreich oder Argentinien.

      Seminare, die evangelikale katholische Priester für das 21. Jahrhundert ausbilden, verzeichnen wachsende Mitgliederzahlen (und sind in einigen wenigen Fällen sogar ausgelastet), während Seminare, die noch immer in den tief ausgefahrenen Furchen eines entweder progressiven oder traditionalistischen Katholizismus feststecken, auf der Stelle treten oder langsam dahinsiechen.

      In der ganzen westlichen katholischen Welt inspiriert der evangelikale Katholizismus kreative intellektuelle Leistungen, was zu einem nicht geringen Teil daran liegt, dass der Glaube von vornherein nicht als irgendein Objekt betrachtet wird, das nach allen Regeln der postmodernen Skepsis und Strukturlosigkeit zerpflückt werden muss, sondern als ein kostbares Offenbarungsgeschenk, das den Verstand herausfordert und seine ganze Wertschätzung verdient.

      Selbst in den Künsten sind die Anfänge einer evangelikalen katholischen Renaissance zu erkennen – etwa in den Werken des britischen Komponisten James MacMillan, des amerikanischen Architekten Duncan Stroik, der in Russland gebürtigen Malerin Natalia Tsarkova, des irischen Bildhauers Dony MacManus, der niederländischen Bildhauerin Daphné Du Barry und der in Rom ansässigen Kunsthistorikerin Elizabeth Lev.

      Vor diesem Hintergrund mag man versucht sein, G. K. Chestertons berühmte Bemerkung zu zitieren, wonach »das christliche Ideal nicht erprobt und für zu leicht befunden, sondern für zu schwer befunden und gar nicht erst erprobt wurde«. Doch das wäre jenen gegenüber unfair, denen der evangelikale Katholizismus nie vorgeschlagen worden ist – den dürftig Katechetisierten, den liturgisch Gelangweilten, den moralisch Verwirrten. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist der evangelikale Katholizismus nach einem mehr als hundertjährigen Ringen darum, wie genau man diese neue Art, in der Welt katholisch zu sein, definieren soll –


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