Die Erneuerung der Kirche. George Weigel

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Die Erneuerung der Kirche - George Weigel


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mangelnde Bereitschaft, künftige Generationen hervorzubringen, offenbar selbst verurteilt hat, lässt sich als das Ergebnis eines Unbehagens deuten, das am Ende einer Ära, die doch eigentlich eine gereifte und von Vernunft und Wissenschaft geleitete Menschheit hatte hervorbringen wollen, wie ein dicker, drückender Nebel große Teile der westlichen Welt bedeckte.9

      Am 30. April 2000, epochal betrachtet beinahe neun Jahre nach dem Ende des 20. Jahrhunderts, sprach Papst Johannes Paul II. die polnische Ordensschwester Maria Faustyna Kowalska heilig. Sie hatte in den 1930er-Jahren mehrere Visionen von der göttlichen Barmherzigkeit gehabt, die vom Herzen Christi ausstrahlte. Im Heiligen Jahr fiel der 30. April auf den Sonntag nach Ostern und so verfügte der letzte Papst des 20. und erste Papst des 21. Jahrhunderts, dass die Kirche den Sonntag nach Ostern von nun an als den Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit begehen sollte. Denn die göttliche Barmherzigkeit, so der Papst in seiner Predigt während der Heiligsprechung, ist das Antlitz Gottes, das die postmoderne Welt nach allem, was geschehen war, seit Leo XIII. mit der Erhebung des Heiligsten Herzens Jesu auf die vermeintliche Autonomie der weltlichen Moderne reagiert hatte, am dringendsten brauchte.

      Die menschliche Hybris hatte das 20. Jahrhundert in ein Schlachthaus verwandelt, und die Visionen der hl. Faustyna waren Gottes Antwort auf die niederdrückende Last der Schuld, die die Menschheit auf sich geladen hatte. Diese Visionen kleideten die Fakten aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn – das (wie die rembrandtsche Darstellung seines Kulminationspunkts gezeigt hat) eigentlich besser das Gleichnis vom barmherzigen Vater genannt werden sollte – in ein modernes Gewand.10

      Christus, so glaubte Johannes Paul, winkte der Welt zu: Er lud die postmoderne Menschheit zu einem neuen Verständnis ihrer Leiden ein und rief die Kirche zu einer neuen Verkündigung seines Evangeliums auf. Auch in dieser Hinsicht hat Johannes Paul II. eine Reform vollendet, die Leo XIII. in Gang gesetzt hatte.

      Leo XIII. – auf den Punkt gebracht

      Die Herz-Jesu-Verehrung, auf die Leo XIII. solch großen Wert gelegt hatte, war zum einen eine populistische Antwort auf das nach wie vor aktuelle Problem des »Monophysitismus«, wie die Theologen es nennen, also der Tendenz, die Gottheit Christi so sehr zu betonen, dass seine menschliche Natur zu einer bloßen Verkleidung wird – ähnlich wie der behornbrillte Clark Kent, der Superman als Verkleidung diente. Der Monophysitismus hat das Christentum über eineinhalb Jahrtausende lang geplagt und war für den Katholizismus gegenreformatorischer Prägung ein wiederkehrendes theologisches und katechetisches Problem.11 Mit der Förderung der Herz-Jesu-Frömmigkeit und der Weihe der Welt an das Heiligste Herz 1899 setzte Leo XIII. drei interessante Entwicklungen in Gang.

      Erstens setzte er der extrem weltlichen Politik der Moderne einen Schuss vor den Bug. Das Herz Jesu war lange Zeit ein Symbol des Widerstands gegen den postjakobinischen radikalen Säkularismus und die gesetzlich verordnete Privatisierung des Glaubens und der religiösen Praxis gewesen. Die Weihe der Welt an das Heiligste Herz Jesu war mithin eine stillschweigende, aber unmissverständliche Warnung vor den Risiken eines öffentlichen Lebens, das die in diesem Bild der Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit enthaltenen Grundwahrheiten aus dem öffentlichen Bereich verbannte. Unabhängig davon, wie Leos Zeitgenossen darauf reagiert haben, erscheint seine Warnung angesichts der exzessiven Selbstzerstörung des Westens im 20. Jahrhundert bemerkenswert hellsichtig: Dieser Akt des kulturellen Vandalismus und Autogenozids war, wie Alexander Solschenizyn es in seinem berühmten Ausspruch auf den Punkt brachte, das Nebenprodukt einer Welt, die »Gott vergessen« hatte.12

      Zweitens brachte Papst Leo mit der Weihe der Welt an das Heiligste Herz eine Form der Volksfrömmigkeit zur Geltung, die wichtige Themen aus dem Denken des hl. Thomas von Aquin aufgriff: Nach Leos Überzeugung war das Werk des Aquinaten der intellektuelle Dreh- und Angelpunkt einer neuen Auseinandersetzung der Kirche mit der entzauberten Welt. Das Herz Jesu, so schreibt Leo in Annum sacrum, erinnert die Kirche daran, dass Christus, der Pontius Pilatus am Tag seines Todes gesagt hatte, er sei in der Tat ein König (vgl. Joh 18,37), seine einzigartige Souveränität nicht durch Zwang und Gewalt, sondern »durch Wahrheit, durch Gerechtigkeit, am meisten durch Liebe« ausübt.13 In seiner Summa Theologiae, so Leo, habe Thomas von Aquin diese einzigartige Form der souveränen Hoheit hervorgehoben und so dazu beigetragen, einen vornehmeren Begriff von Herrschaft und Autorität in die kulturellen Fundamente des Abendlandes hineinzuschreiben als den bloßen Machtwillen, der unglücklicherweise (heute wie zu Leos Zeiten) viele Ausdrucksformen der politischen Moderne charakterisiert.

      Drittens setzte Leo sein päpstliches Siegel unter einen Entwicklungsprozess im katholischen Selbstverständnis, der letztlich dazu führen sollte, dass das Zweite Vatikanische Konzil das Evangelium wieder in die Lebensmitte der katholischen Kirche rückte. Denn die Kirche wieder auf das Evangelium auszurichten heißt, Jesus Christus und die Freundschaft mit Christus, in dessen Menschennatur das barmherzige Antlitz Gottvaters greifbar wird, wieder ins Zentrum der Kirche zu stellen – ein Punkt, den Johannes Paul II. erneut zur Geltung brachte, indem er, gleichsam als Schlussakkord zu allem, was seit Annum sacrum geschehen war, den Sonntag der Osteroktav zum Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit erklärte.

      Christus, Evangelium, Kirche

      In Weiterführung dieser gedanklichen Linie bietet der evangelikale Katholizismus die Freundschaft mit Jesus Christus und die Unterwerfung unter das sanfte Joch seiner Herrschaft als Antwort auf die Frage an, die sich mit jedem menschlichen Leben neu stellt. Jesus ist, so der evangelikale Katholizismus, der Lehrmeister par excellence und gleichzeitig das Evangelium, das gelehrt wird, er ist der Prediger par excellence und gleichzeitig die Frohbotschaft, die gepredigt wird. Sein Evangelium, das Herzstück der evangelikalen katholischen Verkündigung, ist ein Aufruf, »umzukehren und zu glauben«. Es ist ein Aufruf, anzuerkennen, dass hier und jetzt und mitten unter uns das Himmelreich nahe ist. Es ist eine Einladung, hier und jetzt durch unsere Lebensweise und beständige Herzensumkehr in dieses Himmelreich einzutreten.14

      Das Evangelium ist der Ausgangspunkt und daher betont der evangelikale Katholizismus, dass niemand als Katholik geboren wird und dass es ein Leben lang dauert, »katholisch zu werden«, das heißt, die Verheißungen und Gnaden der Taufe durch ein Leben der radikalen Nachfolge und Übereinstimmung mit den Lehren Christi, wie sie in der Heiligen Schrift und in der apostolischen Tradition der Kirche überliefert sind, umzusetzen. Man ist nicht deshalb im vollen Wortsinn Katholik, weil man eine Großmutter hat, die aus der Grafschaft Cork oder aus Palermo oder aus Guadalajara stammt, und weil man als Säugling von seinen Eltern einem bestimmten religiösen Ritual unterzogen worden ist. Man ist Katholik, weil man Jesus, dem Herrn, begegnet und eine reife Freundschaft mit ihm eingegangen ist. Das heißt, evangelikal katholisch gesprochen, dass die sakramentale Taufgnade (wenn man denn als Kind getauft worden ist) sich im Laufe des menschlichen Reifeprozesses im Muster des eigenen Lebens ausprägt.

      Deshalb predigt der evangelikale Katholizismus keine allgemeine Wahrheit über Gott. Vielmehr verkündet der evangelikale Katholizismus, gestützt auf das Alte und das Neue Testament, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Moses und des fortbestehenden Sinaibundes mit dem Volk Israel ist, sich selbst endgültig und abschließend in Jesus von Nazareth, dem Sohn Gottes und dem Sohn Marias, offenbart hat. Seine Menschwerdung, eines der beiden zentralen Geheimnisse des christlichen Glaubens, offenbart das zweite dieser großen Geheimnisse: dass Gott eine ewige Gemeinschaft, eine Heiligste Dreifaltigkeit der sich selbst verschenkenden und empfangenden Liebe ist. Das Bekenntnis dieser beiden Grundwahrheiten, das durch die Freundschaft mit Jesus Christus ermöglicht wird, ist die Essenz der Quintessenz des christlichen Glaubens. Niemand kommt zum Vater, außer durch die Freundschaft mit Jesus Christus. Und durch die Zugehörigkeit zu ihm empfängt man die Gabe des Heiligen Geistes, der vom Vater und vom Sohn ausgeht, um Feuerzungen über die Erde auszugießen.

      Eines der großen Themen im Pontifikat Benedikts XVI. war, dass die Freundschaft mit Jesus Christus die Daseinsberechtigung der Kirche ist. Die Kirche existiert, um die Möglichkeit der persönlichen Freundschaft mit Jesus, dem Herrn, anzubieten, die alle, die sie annehmen, zur Wahrheit über Gott und zu der denkbar reichsten


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