Die Erneuerung der Kirche. George Weigel

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Die Erneuerung der Kirche - George Weigel


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Antwort des evangelikalen Katholizismus auf die »Entzauberung der Welt« ist keine stoische Tugendhaftigkeit und keine ehrenhafte Resignation, wie sie Albert Camus und andere aufrechte Nichtgläubige der Moderne vorschlagen. Der evangelikale Katholizismus glaubt vielmehr – und er folgt darin der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erfolgten radikalen Wiederausrichtung der Kirche auf das Evangelium –, dass man der modernen Unruhe und dem postmodernen Unbehagen am besten mit der Verkündigung der Frohbotschaft der biblischen Offenbarung begegnet: dass unsere Welt eine Schöpfung ist, deren Fenster, Türen und Dachluken von Gott selbst geöffnet worden sind, um das Licht hereinzulassen: Gott selbst tritt in die Geschichte ein, um die Schöpfung, die er ins Dasein gerufen hat, zu erlösen. Und durch dieses Licht der göttlichen Offenbarung wird die Dunkelheit im Hier und Jetzt – die zum Teil von der menschlichen Neigung zum Bösen und zum Teil von der Erkenntnis herrührt, dass der Tod unvermeidlich ist – durch die tiefste Wahrheit des Menschseins erhellt: dass wir durch Taten der göttlichen Liebe, die der Zeit vorangehen, sie definieren und über sie hinausreichen, von Gott geschaffen und für Gott bestimmt sind.

      In seiner 1847 erschienenen Erzählung Loss and Gain (»Verlust und Gewinn«) hat John Henry Newman die wesentlichen Grundzüge der evangelikalen katholischen Überzeugung erfasst, wonach der Akt des Glaubens auf die göttliche Offenbarung hingeordnet ist. Die genau abgewogenen Worte über den Unterschied zwischen einer lauen, kulturell vermittelten Religiosität und dem echten christlichen Glauben, die der Erzähler Newman einem seiner Charaktere in den Mund legt, beleuchten die Situation im 21. Jahrhundert ebenso gut wie die viktorianischen Verhältnisse, auf die sie eigentlich gemünzt waren:

      »Persönlich mögen sich viele in rührender Weise dienstbeflissen erzeigen oder eine Gewissenhaftigkeit an den Tag legen, die unsere Hochachtung verdient; immer aber fehlt es ihnen, bis sie erst den Glauben haben, an dem festen Grunde, und was sie aufbauen, wird in sich zusammenstürzen. In religiösen Dingen wird kein Segen mit ihnen, wird all ihr Tun vergeblich sein, bis sie den rechten Anfang machen mit einem tatkräftigen, rückhaltlosen Glauben an Gottes Wort […]; bis sie über sich selbst hinausgehen; bis sie aufhören, irgendwie in sich selbst einen höchsten Richterstuhl zu finden; bis sie ihren Willen vollenden heißen, was die Vernunft genügend zwar, aber doch immer nicht zwingend, an Beweisen liefert.«4

      Die Kirche des 21. Jahrhunderts kann die Männer und Frauen unserer Zeit jedoch nicht auf der Grundlage ihrer Autorität zum Glauben einladen. Sie muss kühnere, evangelikalere Impulse setzen. Sie muss die Sache anders anpacken.

      Neue Vorgaben

      Fünfzig Jahre nach dem II. Vaticanum fällt die Autorität der Kirche kaum mehr ins Gewicht. Der Satz »Die Kirche lehrt …« hat außerhalb der Kirche keinerlei Bedeutung. Und auch innerhalb der Kirche hat er weniger Bedeutung, als er haben sollte – das beweisen die unzähligen Beispiele von Katholiken, die eine Art selbstgestrickten Katholizismus praktizieren. Die katholische Lehre mag darin durchaus noch eine Bezugsgröße darstellen, aber auf die Lebensgestaltung hat sie keinen nennenswerten Einfluss mehr. Und doch haben – wie die Amerikaner in den Debatten über Themen wie das Recht auf Leben oder die Bedeutung der Ehe feststellen mussten – diese Lehren sehr wohl Einfluss auf die Lebensgestaltung: Das liegt in ihrer Natur. Und deshalb wird sich der Ausgang dieser Debatten ganz konkret auf das auswirken, was die Welt »das richtige Leben« nennt. Gleichwohl bleibt die harte Tatsache bestehen, dass der Satzanfang »Die Kirche lehrt …« im 21. Jahrhundert auf taube Ohren stößt, denn es dominiert die Kultur der radikalen Subjektivität und die höchste Autorität gebührt dem alles beherrschenden autonomen Selbst.

      Anders verhält es sich mit dem Satzanfang »Das Evangelium offenbart …« – »Das Evangelium offenbart …« ist eine herausfordernde Antwort auf den Zweifel an der schieren Idee einer »Offenbarung«, wie ihn die Hochkulturen des Westens in den letzten zwei Jahrhunderten geäußert haben. »Das Evangelium offenbart …« ist eine ähnliche Herausforderung wie die, vor die Jesus seine Jünger auf dem Weg nach Cäsarea Philippi gestellt hat: »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« (Mk 8,29). »Das Evangelium offenbart …« ist wie ein Handschuh, den man dem anderen vor die Füße wirft und der eine Reaktion erzwingt. Diese Reaktion kann zunächst skeptisch oder sogar feindselig, wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gleichgültig sein. Ja, mehr noch, wenn die Wahrheit klar und furchtlos genug verkündet wird und ihre eigene Kraft entfaltet, dann kann »Das Evangelium offenbart …« – und das belegen zwei Jahrtausende christliche Geschichte – zumindest ein Anfang sein, ein Einstieg ins Gespräch, während bei den Worten »Die Kirche lehrt …« in den Köpfen und Herzen der von ihrer westlichen Umgebungskultur geprägten Menschen des 21. Jahrhunderts sämtliche modernen, postmodernen und antiautoritären Alarmglocken läuten.

      Dem evangelikalen Katholizismus ist durchaus bewusst, dass es eine innere Verbindung zwischen der göttlichen Offenbarung und der Kirche gibt: »Das Evangelium offenbart …« führt letztlich zu der Aussage »Die Kirche lehrt …« Doch der Ausgangspunkt ist ein anderer. Der evangelikale Katholizismus beginnt mit einem unmissverständlichen Bekenntnis des christlichen Glaubens als eines Offenbarungsglaubens an »das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde« (1 Joh 1,2).5 Dieses ewige Leben, dieses Wort Gottes, das in die Geschichte gekommen ist, um nach uns zu suchen, ist das, »was wir gesehen und gehört haben« (1 Joh 1,3).

      Das, und nichts weniger und nichts anderes als das, ist der Ausgangspunkt des evangelikalen Katholizismus, seiner Verkündigung und der Reformen, die er in der Kirche herbeiführen wird. Ein zugegeben dramatisches, aber vielleicht nicht völlig unwahrscheinliches Beispiel kann helfen, die Sache auf den Punkt zu bringen. Nehmen wir einmal an, irgendein Bistum wäre durch Skandale, Kirchenaustritte und Bankrott so heftig erschüttert worden, dass am Ende nur noch der Bischof übrig bliebe, und nehmen wir weiter an, dieser Bischof säße, nachdem er seine Sonntagsmesse gelesen hätte, auf einer Parkbank und spräche die Passanten an: »Hallo, ich bin Bischof _______. Darf ich Ihnen von Jesus Christus erzählen?« Das Evangelium als die wesentliche Natur und Sendung der katholischen Kirche wäre in diesem Bistum, trotz seines vermeintlichen institutionellen Totalschadens, noch immer lebendig.

      Denn im Zentrum des evangelikalen Katholizismus steht die Freundschaft mit Christus.

      Freundschaft mit Christus

      Am 25. Mai 1899, am Ende eines Jahrhunderts, das nach allgemeiner Überzeugung den Grundstein zu einer Ära des grenzenlosen menschlichen Fortschritts gelegt hat, promulgierte Papst Leo XIII. die Enzyklika Annum sacrum. Darin verfügte er, dass die Bischöfe der Kirche an drei besonderen Gebetstagen im darauffolgenden Monat die Weihe der Welt an das Heiligste Herz Jesu – das »Bild der unbegrenzten Liebe Jesu Christi […], die uns zur gegenseitigen Liebe bewegt«6 – vollziehen sollten.

      Die Ära des 19. Jahrhunderts endete, ungeachtet des kalendarischen Diktats, tatsächlich erst eineinhalb Jahrzehnte später, nämlich im August 1914 mit jenen Gewehrschüssen, die den Beginn des 20. Jahrhunderts markierten: Eröffnungssalven zu einer siebenundsiebzig Jahre währenden Zivilisationskatastrophe, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion am 15. August 1991 endete (was gleichzeitig, epochal gesprochen, auch das Ende des 20. Jahrhunderts war). In diesen acht Jahrzehnten wurden um ein Vielfaches mehr Menschen aus politischen Gründen hingeschlachtet als in jeder anderen vergleichbaren Periode. So grauenvoll der Dreißigjährige Krieg auch gewesen sein mag – und er war in der Tat grauenvoll –, die siebenundsiebzig Jahre dauernde Katastrophe war grauenvoller.7 Diese siebenundsiebzig Jahre waren das Zeitalter der flandrischen Schützengräben, des Niemandslands und des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs, der Gulags, des Holodomors in der Ukraine, der Lager von Auschwitz-Birkenau, Majdanek und Sobibor, der Bombardierungen von Rotterdam und London, Hamburg und Dresden, Tokio und Hiroshima und Nagasaki, der bewussten Hungertötung hunderttausender Kriegsgefangener; eines Kalten Krieges, der jederzeit in einem globalen Desaster hätte enden können, und der größten Kirchenverfolgung der Menschheitsgeschichte.8 Die mittel- und langfristigen Auswirkungen dieser Katastrophe sind heute noch zu sehen. Ihre unmittelbare Folge aber war, dass Europa seine Rolle als zentraler Akteur des globalen Zivilisationsprojekts


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