Die Erneuerung der Kirche. George Weigel

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Die Erneuerung der Kirche - George Weigel


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für die tiefgreifende Reform der katholischen Kirche.

      Alles, was wir bisher erörtert haben, ist in Dei verbum bereits enthalten. In Dei verbum erklärt die katholische Kirche unmissverständlich, dass die göttliche Offenbarung kein frommer Mythos, sondern eine Tatsache ist. Und im Zuge dieser Offenbarung beschloss Gott, nicht mehr nur Aussagen über sich, sondern sich selbst zu offenbaren. Die Worte und Taten, mit denen er dies getan hat, sind sowohl im Alten Testament, das für die katholische Kirche immer ein heiliger Text bleiben wird, als auch im Neuen Testament verzeichnet, das, wie sein hebräischer Vorgänger, ein glaubwürdiges Zeugnis dieser Wahrheit ist, die Gott zum Heil der Menschheit hat offenbaren wollen.18 Seinen entscheidenden Moment hat dieser Prozess der göttlichen Selbstoffenbarung mit dem Leben, dem Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth erreicht: des Gesalbten Gottes, dessen Paschamysterium (das die Kirche alljährlich von Gründonnerstag bis Ostersonntag nacherlebt) die göttliche Offenbarung vollendet und besiegelt.

      Dieses Paschamysterium offenbart die Wahrheit: nicht nur die Wahrheit der Christen, sondern die Wahrheit der Welt. Mit dieser Wahrheit in Berührung zu kommen heißt, die Gelegenheit zu etwas zu erhalten, das der hl. Paulus den »Gehorsam des Glaubens« nennt (Röm 1,5; 16,26). Dieser Gehorsam wird möglich durch die Gnade Gottes, die der Heilige Geist über der Welt ausgießt, und er ist nicht etwa eine Last, sondern eine freudige Befreiung zur Wahrheit des eigenen Menschseins: eine Befreiung, die aus einer sicheren Erkenntnis Gottes und seiner Liebe erwächst.

      Der Herr selber, so Dei verbum weiter, gebot den Aposteln Christi, »das Evangelium, das er als die Erfüllung der früher ergangenen prophetischen Verheißung selbst gebracht und persönlich öffentlich verkündet hat, allen zu predigen«. So erhielten die Apostel den Auftrag, allen Menschen »göttliche Gaben zu übermitteln«, denn das Evangelium war »die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre«. Dadurch, dass die Apostel und ihre Nachfolger in Erfüllung dieses Auftrags »die Botschaft vom Heil niederschrieben«, brachten sie das Neue Testament hervor.19 Besagte Nachfolger setzten die apostolische Verkündigung mit derselben Autorität fort, die Christus den Aposteln verliehen hatte. Geleitet vom Heiligen Geist, schufen sie so das einheitliche, evangelikale Zeugnis der katholischen Kirche.

      Das eine Zeugnis

      Über alle Generationen der Kirche hinweg formen also die Schrift, die apostolische Überlieferung und das Lehramt der Kirche (wie es sich in den Bischöfen als den Nachfolgern der Apostel kundtut) das eine Zeugnis des Evangeliums. Dieses Zeugnis ist »gleichsam ein Spiegel, in dem die Kirche Gott, von dem sie alles empfängt, auf ihrer irdischen Pilgerschaft anschaut, bis sie hingeführt wird, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so wie er ist (vgl. 1 Joh 3,2)«.20 Mithin bilden die Schrift und die kirchliche Tradition »den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes«, den diese aber nicht wie einen Preis an sich reißen, sondern als Geschenk annehmen und durch Verkündigung und Bekenntnis weitergeben soll.21 Die primäre Aufgabe des kirchlichen Lehramts besteht folglich darin, diese Verkündigung unversehrt zu bewahren und so die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die ganze Kirche ihre evangelisierende und dienende Aufgabe erfüllen kann.

      Der evangelikale Katholizismus fußt auf der festen Überzeugung, dass dies alles wahr ist, und er hält diese Wahrheit hoch, ohne sich in den technischen Niederungen der Diskussionen über die »Irrtumslosigkeit« der Bibel zu verirren. Was in der Schrift und der authentischen apostolischen Überlieferung gelehrt wird, ist keine Metapher oder »Erzählung«, sondern die Wahrheit. Die Bibel ist im Verständnis des evangelikalen Katholizismus eine komplexe, aber einheitliche Erzähltradition, die gelegentlich auf eine metaphorische Sprache zurückgreift, weil keine andere Form der menschlichen Sprache die Wahrheit vermitteln kann, die Gott zu unserem Heil offenbart hat. Diese Überzeugung, dass das, was die Kirche lehrt, wahr ist, macht die Theologie keineswegs überflüssig. Vielmehr appelliert sie an die Theologen, anzuerkennen, dass, wie Dei verbum es formuliert, die Theologie »auf dem geschriebenen Wort Gottes, zusammen mit der apostolischen Tradition, wie auf einem bleibenden Fundament« ruht.22 Das heißt, die Theologie ist aus evangelikaler katholischer Sicht nicht nur und nicht einmal in erster Linie eine Sache der menschlichen Klugheit. Die Aufgabe – besser gesagt: das Privileg – der Theologie besteht darin, mit den Mitteln der menschlichen Intelligenz über die von Gott offenbarten und vom Lehramt der Kirche behüteten Grundwahrheiten nachzudenken.

      Damit gibt uns Dei verbum ein wichtiges Kriterium für die tiefgreifende Reform der katholischen Kirche an die Hand. Mit ihrer Lehre über die göttliche Offenbarung (die durch die Form einer »dogmatischen Konstitution« höchste Autorität genießt) haben die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils vor der Kirche und der Welt einen großen Akt des Glaubens in Bezug auf das Faktum der Offenbarung vollzogen. Dieser Glaubensakt enthält ein implizites Kriterium für eine tiefgreifende und echte katholische Reform: das Kriterium der Wahrheit. Dieses Kriterium lässt sich ganz ohne Umschweife auf eine einfache Frage reduzieren: Glauben Sie – ganz gleich, ob Sie nun Diakon, Priester oder Bischof, Mitglied einer theologischen Fakultät oder ausgewiesener katholischer Intellektueller sind, ob Sie die Ordensgelübde abgelegt haben oder als Laie »in der Welt« leben und arbeiten –, glauben Sie, dass das Evangelium (also alles, was Gott zu unserem Heil in der Heiligen Schrift und in der apostolischen Überlieferung offenbart hat) ein übernatürliches Geschenk der göttlichen Offenbarung ist, das sich nicht nach dem Maßstab Ihres Lebens zu richten hat, sondern selbst der Maßstab Ihres Lebens ist? Glauben Sie, dass nicht das Evangelium sich an der Begeisterung des Augenblicks, sondern diese Begeisterung sich am Evangelium messen lassen muss?

      Wie die gesamte zweitausendjährige Erfahrung der Kirche bezeugt, ist das Evangelium immer ein Zeichen, dem widersprochen wird. Je nach umgebender Kultur ist dieser Widerspruch entweder heftig – dann kann er bis zum Martyrium führen – oder eher mild. Doch in jedem Zeitalter – einschließlich unserer gegenwärtigen Ära der »Neuevangelisierung«, wie sie der hl. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in Reaktion auf das Zweite Vatikanische Konzil ausgerufen haben – ist das Evangelium eine Frage der Überzeugung und nicht der Übereinkunft. Deshalb ist der evangelikale Katholizismus, dessen Zentrum das Evangelium ist, keine Sekte innerhalb des Katholizismus und auch keine katholische Bewegung, sondern ein bestimmtes Verständnis der Berufung eines jeden Christen, ein treuer Jünger und gläubiger missionarischer Zeuge Jesu, des Herrn, zu sein, der selbst das verkündigte Evangelium und das Ur-Sakrament der Begegnung zwischen Gott und den Menschen ist.

      Wort und Sakrament, Evangelium und Berufung

      Eine der wichtigeren Publikationen, die die Überlegungen des Zweiten Vatikanischen Konzils prägten, war das Buch, Christ the Sacrament of the Encounter with God (»Christus, Sakrament der Gottbegegnung«), des flämischen Dominikanerpaters Edward Schillebeeckx.23 Pater Schillebeeckx’ spätere Auseinandersetzungen mit dem kirchlichen Lehramt sollten niemanden daran hindern, die tiefe Erkenntnis zu würdigen, die er in diesem Frühwerk darlegt: dass nämlich Jesus Christus das grundlegende oder das »Ur-Sakrament« ist. Denn als Ganzes genommen sind Leben, Lehre, Dienst, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi das definitive »äußere Zeichen« (wie der Baltimore-Katechismus es wohl formulieren würde), durch das die Christen die Wahrheit sowohl über Gott als auch über sich selbst – dass sie von Gott geliebt und von Gottes Sohn erlöst worden sind – erkennen. Die Sakramente der Kirche sind weit mehr als nur sieben Rituale, mit denen die Kirche verschiedene Schlüsselmomente des Lebens markiert. Die sieben Sakramente – Taufe, Firmung, Beichte (Versöhnung), Eucharistie, Priesterweihe, Ehe und Krankensalbung – sind sieben privilegierte Begegnungen mit Christus, der seinerseits der sakramentale Ausdruck des lebendigen Gottes in der Welt und in der Geschichte ist.

      Jesus ist kein »achtes Sakrament«. Jesus, der Herr, dem wir im Evangelium begegnen, ist die sakramentale Wirklichkeit Gottes, der sich selbst seiner Schöpfung offenbart. Durch diese »Sakramentalität« des Mensch gewordenen Gottessohnes macht Christus die Gottesbegegnung in den Sakramenten der Kirche überhaupt erst möglich. »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«, sagt Jesus beim Letzten


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