Die Erneuerung der Kirche. George Weigel

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Die Erneuerung der Kirche - George Weigel


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wo der evangelikale Katholizismus angeboten wird, ist die Begeisterung größer als die Ablehnung. So lehrt es die Erfahrung der eben erwähnten Pfarreien, Studentengemeinden, Ordensgemeinschaften, Seminare, Erneuerungsbewegungen und intellektuellen Zentren.

      Doch er muss angeboten werden. Dieses Angebot detaillierter zu entwerfen ist der nächste Punkt auf unserer Tagesordnung.

      KAPITEL ZWEI

      Wahrheit mit Konsequenzen

      Hat das Zweite Vatikanische Konzil einen grundlegenden Wandel im katholischen Selbstverständnis und damit letztlich einen Bruch mit der Vergangenheit herbeigeführt? War das Konzil ein furchtbarer Fehler? Hat es eine Horde Dämonen losgelassen, die man andernfalls hätte im Zaum halten können? Oder war das II. Vaticanum ein Triumph und wurde in der Folgezeit von Männern vereinnahmt, die entschlossen waren, die Kirche zu den Gewissheiten und der Sicherheit der 1950er-Jahre zurückzuführen? Ist das Konzil in Fragen wie der nach dem richtigen Verhältnis zwischen Kirche und Staat, dem Verhältnis der Kirche zum Judentum der Gegenwart, den Bemühungen um die Einheit des Christentums, dem interreligiösen Dialog und der Religionsfreiheit der bestehenden katholischen Lehre untreu geworden?

      Jahrzehntelang hat die katholische Kirche in diesen und anderen grundlegenden Aspekten über die korrekte Interpretation eines Ereignisses debattiert, das – darin sind sich alle streitenden Parteien einig – im katholischen Leben einen Wendepunkt markiert: das II. Vaticanum. Diese Debatten haben einiges an interessanter historischer und einiges an ernst zu nehmender theologischer Arbeit hervorgebracht – und außerdem gegenseitige Anathemata (die meist eher im Stillen als offiziell ausgesprochen wurden), ein nicht geringes Maß an Groll sowie ein formelles Schisma (die kleine Abspaltung der Lefebvre-Anhänger) auf der rechten und ein weitaus folgenschwereres psychologisches Schisma auf der linken Seite (nämlich insofern, als zahlreiche Katholiken schon lange nicht mehr das glauben und bekennen, was die katholische Kirche glaubt und bekennt, ihr aber im formalen oder kirchenrechtlichen Sinne nach wie vor angehören). Diese Debatten waren nicht umsonst.

      Dennoch haben sie tendenziell dazu beigetragen, die wahrhaft radikale Zielsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils und sein tiefgreifendes katholisches Reformprogramm zu verdunkeln.

      Diese Zielsetzung bestand darin, das Evangelium in die Mitte des katholischen Lebens zu stellen und um diese Mitte herum einen reformierten Katholizismus aufzubauen: einen evangelikalen Katholizismus, der imstande sein würde, einer entzauberten Welt die Frohbotschaft von Jesus Christus zu verkünden und so auch unter den entschieden veränderten Bedingungen des dritten Jahrtausends der christlichen Geschichte den Missionsauftrag des Herrn zu erfüllen.

      Keine »Spiritualität«

      Zu den Kuriositäten der spätmodernen und postmodernen Kultur gehört die Ausbreitung von »Spiritualitäten« aller Art. Auf den entsprechenden Regalen der Buchläden kann ihr Angebot Regal um Regal bestaunt werden: Produkte, die Zeugnis davon ablegen, dass – so »entzaubert« die westliche Welt des 21. Jahrhunderts nach den Worten Max Webers auch sein mag – die alten Bedürfnisse des Homo religiosus doch nach wie vor der Befriedigung harren. Im Großen und Ganzen handelt es sich bei diesen »Spiritualitäten« um zahllose Variationen über das Thema der menschlichen Suche nach Gott – mit dem Ergebnis, dass die Welt (und sogar die Kirche) jemanden, der den Kontakt mit dem Göttlichen anstrebt, heute ganz selbstverständlich als Seeker, als »Suchenden«, bezeichnet.

      Diese anthropozentrische und zutiefst subjektive Suche nach dem Göttlichen ist genau das Gegenteil dessen, was der evangelikale Katholizismus will und was das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt hat. Diese Lehre ist in dem zentralen theologischen Konzilsdokument der dogmatischen Konstitution Dei verbum über die göttliche Offenbarung präzise umrissen:

      »Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1,9): dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur (vgl. Eph 2,18; 2 Petr 1,4). In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1,15; 1 Tim 1,17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33,11; Joh 15,14–15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3,38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen. Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind: Die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten; die Worte verkündigen die Werke und lassen das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten. Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist.«1

      »Spiritualität« ist so, wie die postmoderne Welt sie versteht, die menschliche Suche nach dem Göttlichen. Das Christentum dagegen ist die Suche Gottes nach uns und der Prozess, durch den wir lernen, auf Gottes Wegen durch die Geschichte zu gehen. Diese Vorstellung vom Christentum ist es, die den evangelikalen Katholizismus trägt, und diese Vorstellung stimmt voll und ganz mit dem überein, was die christliche Orthodoxie seit Jahrhunderten lehrt – und worin sich wiederum die Dynamik der göttlichen Offenbarung gegenüber Abraham und seinen Nachkommen, dem jüdischen Volk, spiegelt.

      Außerdem ist – und auch das lehrt die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung – diese Suche Gottes nach uns und unsere Glaubensantwort eine Wahrheit mit denkbar schwerwiegenden Folgen. Die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils wollten diese Folgen gleich zu Anfang des Konzils unmissverständlich darlegen:

      »Gottes Wort voll Ehrfurcht hörend und voll Zuversicht verkündigend, folgt die Heilige Synode den Worten des heiligen Johannes: ›Wir künden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschien. Was wir gesehen und gehört haben, künden wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Wir haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus‹ (1 Joh 1,2–3). Darum will die Synode in Nachfolge des Trienter und des Ersten Vatikanischen Konzils die echte Lehre über die göttliche Offenbarung und deren Weitergabe vorlegen, damit die ganze Welt im Hören auf die Botschaft des Heiles glaubt, im Glauben hofft und in der Hoffnung liebt.«2

      »Spiritualität« im postmodernen Sinne ist etwas für Suchende. Evangelikaler Katholizismus ist etwas für Finder. Den Finder aber – besser gesagt den, der von der Gnade gefunden wird und seine »Gefundenheit« akzeptiert – erkennt man daran, dass er die Welt bekehrt, und zwar in den herausfordernden kulturellen Gegebenheiten des je besonderen historischen Augenblicks.3

      Die Herausforderung annehmen

      Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Evangelium – alles, was Gott zu unserem Heil in der Heiligen Schrift und der apostolischen Tradition offenbart hat – ins Zentrum der Kirche gestellt und so den Fehdehandschuh der Moderne und aller eventuellen Folgeepochen aufgenommen. Moderne und Postmoderne leugnen, dass es so etwas wie Offenbarung überhaupt gibt. Der evangelikale Katholizismus nimmt die Herausforderung an und räumt ein, dass das Christentum entweder eine Offenbarungsreligion oder eine falsche Religion ist. Im nächsten Schritt aber sagt er, dass das Christentum nicht vom Menschen, sondern von Gott stammt.

      Mithin ist die Überzeugung, dass das Christentum eine Offenbarungsreligion ist, die Grundlage des evangelikalen Katholizismus: Den Menschen, Männern und Frauen, wird das übernatürliche Geschenk der göttlichen Offenbarung (also die Tatsache, dass Gott kommt, um nach uns zu suchen) zuteil, sodass sie durch einen Akt des Glaubens, der seinerseits wieder durch die übernatürliche Gabe der Gnade ermöglicht wird, den Weg des Heils einschlagen können, an dessen Ende die Verherrlichung der menschlichen Person im Licht und Leben des dreifaltigen Gottes steht (das heißt, dass wir


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