Wer baut die Bahn?. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.mit Läden, in denen alles Spielzeug der Welt liegt. Wer kann solche Süssigkeiten herstellen wie die Franzosen, unsere Freunde?“
„Paris . . .“ Die Prinzessin fing versonnen das Wort auf. Sie schaute, ein abgenagtes Hammelrippchen zierlich zwischen den Fingern, in ewig unerfüllter Sehnsucht gen Westen. Die Froidure beugte sich ehrerbietig vor.
„Eure Hoheit werden die Lichtstadt, den Mittelpunkt der Welt, mit eigenen erlauchten Augen sehen“, sagte sie durch die Marseiller Matrosenflüche eines geiergrossen Kakadus in der Ecke, „sobald es der Weisheit Seiner Exzellenz gefällt, die französische Eisenbahnkonzession zu bewilligen!“
Ein gewitterschweres Schweigen Münireh Sultanehs als Antwort.
„Denn dann wird sich Frankreich nicht nehmen lassen, seinen erhabenen Gönner in Paris zu begrüssen, wo er noch von früher her so viele Freunde und Bewunderer besitzt. Eure Hoheit werden die Reise des Herrn Marschalls durch Ihre erlauchte Gegenwart verschönern und Paris sehen und lieben. Denn in Paris tragen die Frauen keinen Schleier. In diesem Tempel des Glückes können sie sich frei bewegen. Sie sind Menschen wie die Männer!“
„Welch ein Paradies!“ rief leidenschaftlich die jüngere der beiden Paschagattinnen. Die dunkeln Gazellenaugen der Prinzessin leuchteten. Sie wiederholte mit leise zitternder Stimme:
„Paris . . .“
„Vive la France!“ schrie aus der Ecke der Kakadu.
Die Froidure hatte um den runden, kleinen französischen Mund ein unterwürfiges, aber rätselhaftes Lächeln — ein Wissen um das Letzte in der Seele der Hanums. Sie war sicher: jetzt traf sie den wunden Punkt aller vornehmen Türkinnen zu beiden Seiten des Goldenen Horns.
„Dort in Paris, Eure Hoheit“, sagte sie, „ist es nicht Brauch, dass der Hausherr abends, seinen Harem verlässt, um in Pera beim Diner eines Botschafters mit Europäerinnen zusammenzusitzen!“
„Ah — es ist eine Schande!“ rief die Jungtürkin.
„Dort in Paris verbirgt kein Mann seine eigene Gattin vor fremden Blicken, wie etwas, dessen man sich schämen muss, und sieht dabei draussen in den Zirkeln der Diplomatie die unverhüllten Gesichter fremder Frauen!“
„Die Christen haben es besser!“
„Wer zählt die Tränen hilfloser Eifersucht, die in den Frauengemächern Stambuls fliessen!“ sprach die kleine Gouvernante. „In Paris steht die Hanum neben dem Pascha, von der Menschheit umkniet. Alle seine Ehren fallen auch auf sie. Der Allmächtige krönt sie mit Glanz und Glück. Es handelt sich nur um dies bisschen Eisenbahnbau durch öde asiatische Steppen.“
Die Prinzessin Münireh schwieg. Uber der Ausdruck ihres blassen, schmalen Gesichts war gefährlich in seiner verhaltenen Leidenschaft. Auch die Froidure verstummte. Für heute schien es ihr genug. Sie wusste: Ehe noch die Sonne drüben über der Säule von San Stefano sank, hatte Schükri Pascha, der Löwe des Balkans, in seinem Hause, unter vier Augen, einen neuen Ansturm auszuhalten, wilder als vor einigen Jahren im Russenkrieg das Urraha der Kosaken.
Die Besucherinnen der Prinzessinnen brachen auf. Sie vermummten sich noch im Harem, ehe der schwarze Obereunuch ihnen die Tür zur Welt öffnete, mit Hilfe der weissen und braunen Sklavinnen in Mäntel von Orange- und Lapislazulifarbe. Die grauhaarige Matrone wickelte zum Schutz gegen Männeraugen das runzelige Antlitz in eine undurchdringliche Stoffhülle. Die hübsche, junge türkische Exzellenz begnügte sich mit einem bisschen hauchdünnen Batist um Mund und Nase. Es gab Schleier und Schleier in Stambul. Dorthin fuhren die beiden grossen Damen in ihren geschlossenen schwarzen Kaleschen zurück. Goldgleissende Haremsneger ritten schreiend weit voraus und galoppierten alles nieder, was nicht rechtzeitig auswich.
Dem Marschall Schükri war gemeldet worden, dass keine Pantoffeln am Eingang, als Zeichen der Anwesenheit fremder Frauen, ihm den Zutritt zu seinem Harem hemmten. An der Schwelle ihres Saals kam ihm seine Gemahlin, die Prinzessin Münireh, in der Haltung ehrerbietiger Unterwürfigkeit, entgegen. Er sagte zu ihr auf französisch:
„Bitte — nehmen Sie Platz, Madame!“
Und sie:
„Nie werde ich mich in Ihrer Gegenwart setzen!“
„Und wenn ich Sie darum bitte . . .“
„. . . dann gehorche ich!“
Nach Austausch dieser hergebrachten Höflichkeitsformen wurde das Gespräch des hohen Ehepaars lebhafter. Es steigerte sich von seiten der Prinzessin zum Sturm.
Im Nebengemach erzählte Claire Froidure, die Gouvernante, wieder dem kleinen Stammhalter und seinen bezopften und behosten schwarzäugigen Schwesterchen von Paris. Von dem weissen weissbärtigen Sultan, Jules Grévy genannt, der Frankreich regierte, von den Kindern dort, die, sobald sie sprechen konnten, für das Wohl der Türken beteten, von diesem tapferen, edelmütigen Volk der Franken.
Dazwischen horchte sie auf die schrille, leidenschaftliche Stimme der Prinzessin Münireh nebenan. Alle blutarme Ergebung in Allah war aus der Kehle der hohen Hanum entschwunden. Ein Blitz und Donner von atemlosem Französisch entlud sich über den scharlachroten Militärfes des Marschalls, und aus dem Wolkenbruch der Worte immer wieder das Wort der Worte: Paris . . .
Und die sorgsam von leitenden Kreisen ausgesuchte Pariser Sendbotin nebenan — nicht die einzige ihrer Art, sondern eine unter einem Dutzend und mehr in den Kinderstuben der Grossen von Konstantinopel — Claire Froidure — die kleine Conciergetochter vom Montmartre, wusste: Ehe Münireh Sultaneh nicht Paris gesehen, hatte der bärtige Sieger im Glauben drüben nicht mehr eine ruhige Stunde in seinem Haus.
Und endlich hörte sie einen bedächtigen, jeder Übereilung orientalisch abholden Bass:
„Bei abnehmendem Mond, in acht Tagen, werde ich diesen Herrn Buddenhaus empfangen! Guten Abend, Madame!“
Als der Marschall gegangen war, trat Fräulein Froidure mit fromm niedergeschlagenen Augen und gefalteten Fingerspitzen vor die Prinzessin.
„Sind mir ein paar Stunden Ausgang gestattet, Hoheit? Ich möchte gern bei den hochwürdigen Franziskanern in der französischen Gesandtschaftskirche in Pera beichten!“
„Gern, mein Kind!“ Die blasse, schmale Marschallin war rosiger Laune.
„Ich danke untertänigst!“
Die Froidure verbeugte sich. Sie hüllte sich eilig in ihrem Zimmer in einen dunklen Schleierhut und Mantel und flatterte wie eine Fledermaus hinaus in die Abenddämmerung Konstantinopels.
8
Vom Landungssteg am Dorfe Ortaköi sprang, nach viertelstündigem Dahingehusche, Claire Froidure leichtfüssig mitten in die nach Knoblauch, Schweiss, Leder und kleinen Kindern dünstende morgenländische Menschheit auf dem Vorderdeck des Uferdampfers. Die Seitenräder der schmutzstarrenden Nussschale schaufelten. Die Gouvernante fuhr an den im Abendrot lohenden, schneeweissen Zauberschlössern aus Tausendundeiner Nacht vorbei, die sich im tiefblauen Wellengezitter des Bosporus spiegelten — an dem Tschiragan-Palast — an Dolmabagtsche.
Am Goldenen Horn stieg sie aus. Wie eine Mücke im Meer versank sie in dem betäubendem Gewühl und Gezeter Galatas. Sie arbeitete sich durch das Gebrüll der Eseltreiber und Zeitungsbengel, die gellen Rufe der Reiter, das Warnungsgestöhne der Lastträger, das Almofengeheul der Derwische, das Gedudel der blinden Geigenzupfer, das langgezogene Geschrei der Strassenhändler, das Gewinsel der Bettler. In dem kotigen Gassenschacht, durch den sie aufwärtsstieg, stank es nach heissem Öl und Hammelfett und abendmüden Fischen aus schwarzen Ladenhöhlen. Aus Lasterhöhlen torkelten betrunkene Matrosen. Verschleierte Frauen schoben rücksichtslos die Männer wie Stücke einer Herde beiseite. Dirnen kreischten aus den Fenstern der zahllosen Hafenspelunken. Von der Reede unten brüllten die Dampfer: Galata! . . . Galata!
Die Froidure machte halt und schlüpfte in eines der hohen, in italienischer Art gebauten Häuser. Sie stieg die von üblen Dünsten erfüllte, stockdunkle Steintreppe empor und stand in einem Stückchen Frankreich — einem Zimmer, wie man es in Avignon