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jedem, wer sie hören wollte, die Geschichte von dem Vetter. Er lebte fortan in dem Wurstladen, saß stundenlang in Gedanken vertieft auf einem Sessel in der Küche und kam dann wieder in den Laden, um sich da an eine Marmorwand zu lehnen. Bei Tische fütterte ihn Quenu, regte sich auf, weil Florent ein schwacher Esser war und die Hälfte der Fleischspeisen, die man ihm vorlegte, auf dem Teller liegen ließ. Lisa hatte ihr bedächtiges und behagliches Benehmen wieder angenommen; sie duldete ihn selbst am Vormittag, wenn er bei der Bedienung der Kunden im Wege war; sie vergaß seiner; wenn sie ihn ganz schwarz vor sich sah, fuhr sie wohl ein wenig zusammen, fand aber dennoch ein Lächeln, um ihn nicht zu kränken. Die Uneigennützigkeit dieses mageren Mannes hatte sie überrascht. Sie empfand vor ihm eine gewisse Achtung, gemischt mit einer unbestimmten Furcht. Florent sah sich von großer Liebe umgeben.

      Wenn Schlafenszeit kam, ging er – ganz müde von seinem in Untätigkeit verbrachten Tage – mit den zwei Metzgerburschen hinauf, die die Dachstuben neben ihm bewohnten. Der Lehrling, Léon mit Namen, war erst fünfzehn Jahre alt; er war noch ein Kind, schmächtig, sehr still, und stahl die Abschnitzel von den Schinken und Würsten, die er unter seinem Kopfpolster verbarg und des Nachts ohne Brot verzehrte. Mehrmals glaubte Florent zu vernehmen, daß Leon gegen ein Uhr nachts jemandem ein Nachtessen gebe; verhaltene Stimmen flüsterten, dann kam ein Geräusch wie von kauenden Kinnbacken und zerknittertem Papier und es gab ein, perlendes Lachen, das Lachen eines Kindes, das in der tiefen Stille des schlafenden Hauses einem leisen Flötentriller glich. Der andere Bursche, August Landois, war von Troyes; obgleich erst achtundzwanzig Jahre alt, war er einer gesunden Verfettung verfallen und hatte einen unnatürlich großen, schon kahlen Kopf. Gleich am ersten Abend, während sie hinaufgingen, erzählte er Florent seine Geschichte in sehr weitschweifiger und verworrener Weise. Er sei zuerst nur nach Paris gekommen, um sich in seinem Handwerk zu vervollkommnen und dann in Troyes, wo seine Base namens Augustine Landois seiner harrte, einen Metzger laden zu eröffnen. Sie hatten denselben Paten gehabt und führten denselben Taufnamen. Später habe ihn der Ehrgeiz erfaßt; er träumte davon, sich in Paris selbständig zu machen. Die Mittel dazu werde ihm sein mütterliches Erbe bieten, das er, bevor er die Champagne verlassen, bei einem Notar hinterlegt hatte. Im fünften Stockwerk hielt August Florent noch eine Weile zurück, um ihm viel Gutes von Frau Quenu zu sagen. Sie hatte Auguste Landois kommen lassen und sie zur Ladenmamsell genommen statt der früheren, die sich einem schlechten Lebenswandel ergeben. Er kannte jetzt sein Handwerk, während sie sich in der Geschäftsführung vervollkommnete. In einem Jahre oder anderthalb Jahren wollten sie heiraten und in irgendeiner volkreichen Vorstadt von Paris einen Metzgerladen auftun. Sie haben sich nicht beeilt mit dem Heiraten, weil dieses Jahr der Speck nicht gut geraten war. Er erzählte weiter, daß sie bei einem Kirchweihfeste in Saint-Quen sich zusammen haben photographieren lassen. Dann trat er in das Mansardenstübchen ein, weil er neugierig war, die Photographie wiederzusehen, die sie auf dem Kaminsims gelassen, damit der Vetter Quenus ein schönes Zimmer habe. Er verweilte da in Gedanken eine kurze Zeit, ganz fahl im gelben Lichte seiner Kerze, sah sich im Zimmer um, das noch des Mädchens ganz voll war, näherte sich dem Bette und fragte Florent, ob er gut schlafe. Augustine schlafe jetzt unten; sie sei dort besser untergebracht, denn die Dachstuben seien im Winter sehr kalt. Endlich ging er, Florent mit dem Bett und der Photographie allein lassend ... August war ein bleicher Quenu, Augustine eine unreife Lisa.

      Florent, mit den Metzgerburschen befreundet, von seinem Bruder verhätschelt, von Lisa gut aufgenommen, langweilte sich am Ende furchtbar. Er hatte Unterrichtsstunden gesucht, aber keine gefunden. Er vermied es übrigens, in das Schulenviertel zu gehen, wo er erkannt zu werden fürchtete. Lisa bemerkte ihm ruhig, er tue gut, sich an die Handlungshäuser zu wenden, er könne die Bücher und die Korrespondenz führen. Sie kam immer wieder auf diesen Gedanken zurück und machte sich schließlich erbötig, einen Platz zu finden. Es verdroß sie allmählich, ihn immer wieder müßig und unbeholfen auf ihrem Wege zu finden. Anfänglich war es nur der begründete Haß gegen Leute, die die Hände in den Schoß legen und essen; sie dachte noch nicht daran, ihm vorzuwerfen, daß er bei ihr esse. Sie sagte ihm:

      Ich könnte nicht so den Tag verträumen. Sie können am Abend keinen rechten Hunger haben ... Man muß etwas tun, sich abmühen ...

      Auch Gavard suchte einen Platz für Florent; aber er suchte in einer ganz absonderlichen, durchaus geheimen Weise. Er suchte ein Amt von dramatischer Bedeutung, oder ein Amt, in dem ein »bitterer Hohn« lag, wie es sich für einen »Geächteten« paßt. Gavard war ein Oppositionsmann. Er hatte die Fünfzig überschritten und rühmte sich, schon vier Regierungen seine Meinung gesagt zu haben. Karl X., die Priester, die Adeligen, dieses ganze Gesindel, das er an die Luft gesetzt, tat er mit einem Achselzucken ab. Ludwig Philipp mit seinen Spießern war ein Tölpel, und er erzählte die Geschichte von den wollenen Strümpfen, in denen der Bürgerkönig seine Taler versteckt hielt. Die Republik vom Jahre 1848 war eine Komödie; die Arbeiter hatten sie betrogen; aber er gestand nicht mehr, daß er dem 2. Dezember Beifall geklatscht, denn er betrachtete jetzt Napoleon III. als seinen persönlichen Feind, als einen Hundsfott, der sich mit Morny und den anderen einschließt, um zu schmausen. Mit diesem Kapitel konnte er gar nie fertig werden; er dämpfte ein wenig die Stimme und versicherte, daß jeden Abend geschlossene Wagen Frauen nach den Tuilerien bringen und daß er – er, der da mit dir spricht – eines Nachts vom Karussellplatz den Lärm der Gelage gehört habe. Gavards Glaubensbekenntnis lautete: der Regierung so unangenehm wie möglich zu werden. Er spielte ihr grausame Streiche, über die er Monatelang im geheimen lachte. Vor allem stimmte er für den Abgeordneten, der im gesetzgebenden Körper den Ministern das Leben sauer machen sollte. Wenn er den Fiskus bestehlen, die Polizei irreführen, irgendeinen Krawall hervorrufen konnte, trachtete er das »Abenteuer« so aufrührerisch wie möglich zu machen. Er log übrigens, spielte sich auf den gefährlichen Mann auf und redete so, als ob »dieser Troß in den Tuilerien« ihn gekannt und vor ihm gezittert habe; er sagte, die Hälfte dieser Halunken müsse geköpft, die andere Hälfte »mit dem nächsten Schinderkarren« verbrannt werden. So war seine ganze geschwätzige und heftige Politik voll Großsprechereien, fabelhaften Geschichten in dem Bedürfnis nach Lärm und Spaß, das den Pariser kleinen Geschäftsmann dazu treibt, bei Straßenkämpfen den Fensterflügel zu öffnen, um die Toten zu sehen. Als Florent von Cayenne zurückkam, witterte unser Gavard einen Hauptspaß und sann darüber nach, wie er in einer ganz besonders findigen Weise sich über den Kaiser, das Ministerium und die Beamten, bis hinab zum letzten Polizisten, lustig machen könnte.

      Das Betragen Gavards Florent gegenüber war das eines Mannes, der verbotene Freuden genießt. Er betrachtete ihn mit geheimnisvoll zwinkernden Augen, sprach im Flüstertone, um ihm die einfachsten Dinge von der Welt zu sagen und legte in seine Händedrücke eine freimauererische Heimlichkeit. Endlich hatte er ein Abenteuer gefunden, endlich hatte er einen wirklich bloßgestellten Kameraden und konnte, ohne allzustark zu lügen, von den Gefahren reden, die er lief. Er fühlte ohne Zweifel eine uneingestandene Furcht angesichts dieses Menschen, der aus dem Sklavenhause zurückkam und dessen Magerkeit seine langen Leiden kündete; aber diese köstliche Furcht hob ihn in den eigenen Augen und brachte ihm die Überzeugung bei, daß er etwas sehr Erstaunliches tue, wenn er diesen sehr gefährlichen Menschen als Freund aufnehme. Florent ward ihm heilig; er schwor nur mehr bei Florent und er nannte Florent, wenn ihm die Gründe ausgingen und er die Regierung ein für allemal vernichten wollte.

      Gavard hatte in der Jakobstraße einige Monate nach dem Staatsstreiche seine Frau verloren. Er behielt die Ausbraterei bis zum Jahre 1856. Zu jener Zeit erzählte man sich, er habe ansehnliche Summen gewonnen, indem er in Gemeinschaft mit einem Gewürzkrämer trockene Gemüse für die Orientarmee lieferte. Die Wahrheit war, daß er die Ausbraterei verkauft und ein Jahr lang von seinen Renten gelebt hatte. Aber er sprach nicht gern von dem Ursprung seines Vermögens; dies hinderte ihn, rundheraus seine Meinung über den Krimkrieg zu sagen, den er »ein abenteuerliches Unternehmen« nannte, »nur in Szene gesetzt, um den Thron zu festigen und gewissen Leuten die Taschen zu füllen«. Nach Verlauf eines Jahres langweilte er sich tödlich in seiner Junggesellenwohnung. Da er dem Ehepaar Quenu-Gradelle fast täglich seinen Besuch machte, zog er näher zu ihnen in die Cossonnerie-Straße. Da verlockten ihn die Markthallen mit ihrem Lärm und ihrem riesigen Getratsche. Er entschloß sich, einen Verkaufsplatz in der Geflügelabteilung zu mieten, bloß um sich zu zerstreuen, um seine müßigen Tage mit dem Marktgetriebe auszufüllen. Nun lebte er in endlosem Klatsch auf dem laufenden


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