Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Читать онлайн книгу.einer unwandelbaren guten Laune war und die große Stube stets mit seiner Heiterkeit erfüllte.
Indes gingen Jahre dahin. Florent, der die Aufopferungsfähigkeit seiner Mutter geerbt hatte, behielt Quenu in seiner Wohnung wie ein großes, träges Mädchen. Er ersparte ihm selbst die kleinen Sorgen des Hauswesens. Er selbst kaufte den Mundvorrat ein, besorgte Stube und Küche. Das verscheuchte ihm die schlimmen Gedanken, sagte er. Gewöhnlich war er in düsterer Stimmung und hielt sich für schlecht. Wenn er des Abends mit Schmutz bespritzt und von Haß gegen die Kinder der anderen erfüllt heimkehrte, war er gerührt von der Umarmung dieses großen, dicken Jungen, den er auf den Fliesen der Stube mit seinem Brummkreisel spielen fand. Quenu lachte über seine Ungeschicklichkeit in der Zubereitung der Eierkuchen und über den Ernst, mit dem er den Fleischtopf ans Feuer setzte. Wenn die Lampe ausgelöscht war, lag Florent oft mit traurigen Gedanken in seinem Bette. Er gedachte, seine Rechtsstudien wieder aufzunehmen, und erschöpfte sich in Auskunftsmitteln, um seine Zeit so einzuteilen, daß er die Vorlesungen an der Fakultät hören könne. Es gelang ihm auch, und er war vollkommen glücklich. Allein ein Fieberanfall, der ihn acht Tage lang das Zimmer zu hüten nötigte, legte eine solche Bresche in ihren Geldbestand und beunruhigte ihn in dem Maße, daß er jeden Gedanken an die Beendigung seiner Studien aufgab. Sein Kind wuchs heran. Er trat als Lehrer in eine Pension in der Wippstraße ein mit einem Jahresgehalte von achtzehnhundert Franken. Das war ein Vermögen. Bei einiger Sparsamkeit muß es ihm gelingen, Geld zu erübrigen, um Quenu zu unterstützen, wenn er einmal etwas beginnen werde. Mit achtzehn Jahren behandelte er ihn noch als Mädchen, das ausgestattet werden muß.
Während der kurzen Krankheit seines Bruders hatte auch Quenu sich seine Gedanken gemacht. Eines Morgens erklärte er, er wolle arbeiten und sei groß genug, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Florent war tief gerührt. Gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, wohnte ein Uhrmacher, den das Kind den ganzen Tag sah, wie er im hellen Lichte des Fensters über seinen kleinen Tisch gebeugt kleine, zarte Dingerchen handhabte und geduldig durch die Lupe betrachtete. Es gefiel ihm sehr, und er behauptete, er habe Neigung für die Uhrmacherei. Allein nach zwei Wochen ward er unruhig und weinte wie ein zehnjähriger Junge; er fand, die Sache sei zu verwickelt, und er werde nie alle die kleinen »Dummheiten« kennen lernen, aus denen eine Uhr sich zusammensetzt. Er wolle lieber ein Schlosser werden. Allein, die Schlosserei ermüdete ihn bald. Binnen zwei Jahren versuchte er es mit zehn Handwerken. Florent dachte, er habe recht, und man solle nicht mit Unlust einen Stand wählen. Doch die löbliche Hingebung des Quenu, der seinen Lebensunterhalt verdienen wollte, kam dem Haushalte der beiden jungen Leute sehr teuer zu stehen. Seitdem er durch alle Werkstätten kam, gab es immer neue Ausgaben: für Kleider, für außerhalb des Hauses eingenommene Mahlzeiten, für Einstandstränke, die man den neuen Kameraden zahlen mußte. Die achtzehnhundert Franken Florents genügten nicht mehr. Er hatte zwei Lektionen für den Abend annehmen müssen. Seit acht Jahren trug er denselben Rock.
Die beiden Brüder hatten einen Freund gefunden. Das Haus hatte eine Seite auf die Jakobstraße, und auf dieser Seite war darin eine große Ausbraterei, die ein würdiger Mann namens Gavard hielt, dessen Frau inmitten all des fetttriefenden Geflügels an Auszehrung starb. Wenn Florent zu spät heimkehrte, um noch ein Stück Fleisch zu braten, kaufte er unten ein Stück Truthahn- oder Gänsebraten für zwölf Sous. Das gab dann immer ein leckeres Fest. Gavard interessierte sich schließlich für diesen mageren jungen Mann; er erfuhr seine Geschichte und verlangte auch den Kleinen zu sehen. Bald verließ Quenu nicht mehr die Ausbraterei. Sobald sein Bruder ausgegangen war, ging er hinunter und blieb in dem Laden, entzückt von dem Anblicke der vier großen Spieße, die mit einem gedämpften Geräusche sich vor den hohen, hellen Flammen drehten.
Die breiten Kupfergeschirre am Kamin glänzten, das Geflügel rauchte, das Fett brodelte und zischte in der Untersetzpfanne, die Spieße begannen schließlich eine Unterhaltung untereinander und sagten auch Quenu freundliche Worte, der mit einem langstieligen Löffel bewehrt, die runden, braunen Gänse- und Hühnerbrüste sorgfältig mit Fett begoß. Stundenlang blieb er da, ganz rot von den lodernden Flammen, ein wenig dumm, mit einem stillen Lächeln über die fetten Tiere, die da brieten. Er erwachte erst wieder aus seiner Träumerei, wenn die fertigen Braten von den Spießen genommen wurden. Das Geflügel wurde auf Schüsseln gelegt, die rauchenden Spieße aus den Bäuchen gezogen und dann leerten sich die Bäuche und ließen den Saft durch die Löcher am Hintern und am Halse herausrinnen, und der Laden füllte sich mit einem starken Bratengeruche. Der Junge stand dabei, folgte diesem Tun mit den Blicken, klatschte vergnügt in die Hände, redete zu dem Geflügel, sagte, daß der Braten sehr gut sei, daß man ihn verspeisen werde, und daß die Katzen nur die Knochen haben sollten. Er machte einen Luftsprung, wenn Gavard ihm ein Stück Brot reichte, das er dann eine halbe Stunde im Bratenfett schmoren ließ.
Sicherlich hatte Quenu hier Lust zur Küche bekommen. Nachdem er es mit allen Handwerken versucht hatte, kehrte er – als sei es vom Schicksal bestimmt gewesen – wieder zu dem Geflügel zurück, das am Spieße gebraten wird, und zu dem feinen Safte, nach dem man sich die Finger ablecken muß. Anfänglich fürchtete er, seinen Bruder dadurch zu ärgern, der ein bescheidener Esser war und von den leckeren Bissen mit der Mißachtung eines Menschen sprach, der nicht weiß, was gut ist. Als er später sah, wie Florent aufhorchte, wenn er ihm irgendein zusammengesetztes Gericht erläuterte, gestand er ihm seinen Beruf und trat in den Dienst einer Gastwirtschaft. Seither war das Leben der beiden Brüder geregelt. Sie bewohnten weiter die Stube in der Royer-Collard-Straße, wo sie sich jeden Abend fanden, der eine mt fröhlichem, gerötetem Gesichte von seinen Bratöfen heimkehrend, der andere mit der trübseligen Miene eines armen Lehrers. Florent behielt seinen schwarzen Rock und vertiefte sich in die Aufgabenhefte seiner Schüler, während Quenu, um es sich behaglich zu machen, seine Schürze, seine weiße Weste und seine Küchenjungenmütze anlegte und sich damit die Zeit vertrieb, auf dem Zimmerofen irgendeinen Leckerbissen zuzubereiten. Manchmal lachten sie, wenn sie einander so sahen, der eine ganz weiß, der andere ganz schwarz. Die große Stube schien halb traurig und halb lustig von dieser Düsterheit und diesem Frohsinn. Noch niemals hatten zwei so verschieden geartete Leute sich so gut zusammen vertragen. Mochte der eine, von der Fieberglut des Vaters verzehrt, noch so sehr abmagern, und mochte der andere als würdiger Sohn des Normannen noch so dick werden: sie liebten sich in ihrer gemeinsamen Mutter, in dieser Frau, die nichts als liebevolle Hingebung gewesen.
Sie hatten in Paris einen Verwandten, einen Bruder ihrer Mutter namens Gradelle, der in der Pirouette-Straße, nahe bei den Hallen, einen Wurstladen hielt. Er war ein dicker Filz, ein roher Mensch, der sie als Hungerleider empfing, als sie das erstemal bei ihm vorsprachen. Sie kamen selten in sein Haus. Zu seinem Namensfeste brachte Quenu dem Oheim einen Strauß und erhielt dafür ein Zehnsousstück. Florent, von einem krankhaften Stolze erfüllt, litt sehr, wenn Gradelle seinen abgetragenen Rock musterte mit den argwöhnischen Blicken eines Geizhalses, der die Bitte um ein Mittagessen oder um ein Hundertsousstück wittert. Eines Tages beging er den kindlichen Streich, einen Hundertfrankenschein bei dem Onkel zu wechseln. Er erreichte damit, daß dieser weniger erschrak, wenn »die Kleinen« kamen. Aber weiter ging die Freundschaft nicht.
Diese Jahre waren für Florent ein langer, süßer, trauriger Traum. Alle bitteren Freuden der Selbstaufopferung hatte er durchzukosten. Zu Hause in der gemeinsamen Stube war er nur Liebe. Draußen unter den Demütigungen seines Lehrerberufes, auf den Fußwegen von der Menge gestoßen, fühlte er, wie er schlecht wurde. Sein längst erstorbener Ehrgeiz verbitterte ihn. Es währte Monate, bis er sich ergab und sich in das Leidensgeschick eines häßlichen, mittelmäßigen und armen Menschen fügte. Um den Versuchungen der Schlechtigkeit zu entrinnen, stürzte er sich kopfüber in eine ideale Güte, schuf sich einen Zufluchtsort aus eitel Gerechtigkeit und Wahrheit. Zu jener Zeit wurde er Republikaner; er trat in die Republik ein, wie die verzweifelten Mädchen in das Kloster eintreten. Weil er keine Republik fand, die weich und warm genug gewesen wäre, um seine Leiden einzuschläfern, schuf er sich eine solche. An den Büchern fand er kein Gefallen; alles geschwärzte Papier, unter dem er lebte, erinnerte ihn an die mißduftige Schulklasse, an die von den Schuljungen zerkauten Papierkugeln, an die Marter der langen, unfruchtbaren Stunden. Auch redeten die Bücher nur von Aufruhr, drängten ihn zum Stolze; er aber fühlte ein gebieterisches Bedürfnis nach Frieden und Vergessen. Sich wiegen, einschlummern und träumen, daß er vollkommen glücklich sei, daß auch die Welt es werden sollte, die republikanische