Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Читать онлайн книгу.war feucht geworden, obgleich trockenes Wetter war; Artischockenstengel, Krautblätter, Pflanzenabfälle allerart bedeckten den Boden und gefährdeten die Sicherheit der Fußgänger. Er strauchelte bei jedem Schritte. In der Vauvillers-Straße verlor er Lacaille. Auf der Seite der Getreidehalle waren die Eingänge der Straßen ebenfalls mit Wagen und Karren verlegt. Er versuchte nicht mehr zu kämpfen; die Hallen hatten ihn wieder, die Flut trug ihn zurück, er befand sich wieder auf dem Sankt-Eustach-Platze.
Er vernahm jetzt das anhaltende Getöse, das aus den Hallen kam. Paris kaute die Bissen für seine zwei Millionen Einwohner. Es war gleichsam ein großes Zentralorgan, das aus voller Kraft arbeitete und das Blut, den Lebenssaft, in alle Adern sandte; das Geräusch ungeheurer Kinnladen, der Lärm, den die Verpflegung der Riesenstadt verursachte, angefangen von dem Peitschenknallen der Großverkäufer, die nach den Märkten der verschiedenen Stadtviertel aufbrachen, bis zu dem Pantoffelschlürfen der armen Weiber, die mit ihren Handkörben von Tür zu Tür wandern, um einige Salatköpfe zu verkaufen.
Er betrat einen gedeckten Gang links in der Gruppe der vier Pavillons, deren große, stille Schatten er in der Nacht gesehen hatte. Er gedachte sich hierher zu flüchten, hier einen Schlupfwinkel zu finden. Allein um diese Stunde waren auch diese Pavillons erwacht wie die anderen. Er schritt bis ans Ende des Ganges. Lastwagen fuhren im Trab herein und füllten den Geflügelmarkt mit Käfigen voll lebenden Geflügels und viereckigen Körben, in denen geschlachtetes Geflügel hoch aufgeschichtet lag. Auf dem entgegengesetzten Fußwege luden andere Fuhrwerke ganze Kälber ab, die, in Tücher eingehüllt, der ganzen Länge nach – wie Kinder – in Körben lagen, aus denen nur die blutigen Fußstümpfe herausragten. Es gab auch ganze Hammel, Ochsenviertel, Keulen und Schulterstücke. Die mit großen weißen Schürzen versehenen Metzger versahen das Fleisch mit einem Stempel, ließen es auf Handkarren herbeiführen, wogen es und hängten es auf den Querbalken des Ausrufeplatzes aus, während Florent, das Gesicht an die Eisenstäbe der Gittertür gedrückt, diese Reihen toter Tiere betrachtete, diese blutigen Ochsen und Hammel, die blasseren Kälber, die mit geöffnetem Bauche dahingen und an denen das Fett und die Sehnen gelbe Flecke bildeten. Er ging dann zu dem Kaldaunenmarkte, wo es blasse Kalbsköpfe und Kalbsfüße gab, säuberlich zusammengerollte Kaldaunen in Büchsen, auf platten Körben ausgelegte Gehirne, blutige Lebern, violettfarbene Nieren. Er verweilte bei den langen, zweiräderigen, mit runden Decken verhüllten Karren, die halbe Schweine, auf einer Strohschichte gelagert, zu beiden Seiten an die Wagenleiter gehängt, herbeiführten; und auf dem Strohlager standen Büchsen von Weißblech voll Schweineblut. Da ward Florent von einer dumpfen Wut erfaßt; der fade Geruch des Fleisches, der scharfe Geruch der Kaldaunen erbitterte ihn. Er verließ den gedeckten Gang und zog es vor, noch einmal zum Fußweg der Pont-Neuf-Straße zurückzukehren.
Er war bis zum Äußersten erschöpft; es fror ihn in der Kühle des Morgens, seine Zähne klapperten und er fürchtete hinzufallen und am Boden liegen zu bleiben. Er suchte vergebens ein leeres Plätzchen auf einer Bank; er würde da geschlafen haben auf die Gefahr hin, von den Polizisten geweckt zu werden. Als ihm schwarz vor den Augen wurde, lehnte er sich an einen Baum; die Augen fielen ihm zu, und es summte ihm in den Ohren. Die rohe Möhre, die er verschlungen hatte, ohne sie zu kauen, zerriß ihm den Magen; der Punsch, den er getrunken, hatte ihn berauscht. Er war betäubt von Elend, Ermüdung und Hunger. Ein verzehrendes Feuer brannte abermals in seinem Innern; er preßte zeitweilig beide Hände an die Brust, wie um ein Loch zu verstopfen, durch das er sein Leben dahinschwinden zu fühlen glaubte. Ihm war, als schwanke der Bürgersteig um ihn her; sein Leiden ward dermaßen unerträglich, daß er lieber wieder gehen wollte, um es zum Schweigen zu bringen. Er ging also geradeaus vor sich hin und kam so wieder unter die Gemüse, wo er sich alsbald verirrte. Er betrat einen schmalen Weg, bog dann in einen andern ein, mußte wieder umkehren, verirrte sich von neuem und befand sich wieder mitten im Grünzeug. Manche Haufen waren so hoch, daß die Leute zwischen zwei Mauern, aus Paketen und Büchsen aufgebaut, dahinschritten. Nur die Köpfe ragten heraus, und man sah den weißen oder schwarzen Fleck der Kopfbedeckung vorüberziehen; und die großen, in wiegendem Schritte vorüber getragenen Butten glichen kleinen Kähnen von Weidengeflecht; die auf einem moosgrünen Teiche schaukeln. Florent stieß auf tausend Hindernisse, auf Träger, die sich mit ihrer Last beluden, auf Händlerinnen, die mit ihren rauhen Stimmen stritten. Er glitt aus auf der dicken Lage von Blättern und Strünken, die die Straße bedeckte; er erstickte schier in dem durchdringenden Geruch der zertretenen Abfälle. Völlig blöde blieb er schließlich auf einem Platze stehen und überließ sich den Stößen der einen, den Schmähworten der anderen; er war nur mehr eine Sache, die gedrängt und gestoßen, willenlos auf der steigenden Flut dahintrieb.
Er ward jetzt von einem Gefühl großer Feigheit ergriffen: er wollte betteln. Sein dummer Stolz in der vergangenen Nacht erbitterte ihn jetzt. Hätte er das Geschenk der Frau François angenommen, hätte er nicht vor Claude eine alberne Angst gehabt, er müßte jetzt nicht inmitten all dieser Lebensmittel nach Nahrung lechzen. Es verdroß ihn besonders, daß er den Maler in der Pirouette-Straße nicht um Hilfe angesprochen. Jetzt war er allein und konnte auf dem Straßenpflaster verenden wie ein verlaufener Hund.
Zum letztenmal erhob er die Blicke und betrachtete die Hallen. Sie flammten jetzt im Sonnenlichte. Ein breiter Strahl fiel hinten am Ende des gedeckten Ganges hinein und riß gleichsam ein Tor von Licht in die Masse der Pavillons; auch von den Dachfeldern rieselte die Helligkeit hernieder. Das ungeheure Gebälk von Gußeisen war in bläulichen Schatten getaucht und erschien nur mehr wie ein dunkles Profil in den lodernden Flammen der aufgehenden Sonne. Oben glühte ein Glasfenster auf, und ein Lichtstrahl ergoß sich bis zu den Dachrinnen längs der breit abfallenden Zinkplatten. Das Ganze glich einer geräuschvollen Stadt, die in eine Wolke von Goldstaub gehüllt ist. Immer lauter äußerte sich das erwachende Leben, angefangen von dem Schnarchen der in ihre Mäntel gehüllten Gemüsegärtner bis zu dem lebhafteren Rollen der Marktwagen. Die ganze Stadt erschloß jetzt ihre Torgitter; es summte und brummte auf den Verkaufsplätzen und in den Pavillons; alle Stimmen tönten, und es war gleichsam eine mächtige Entfaltung jenes Satzes, den Florent seit vier Uhr morgens im Dunkel dahinziehen und immer mehr anschwellen hörte. Rechts und links, auf allen Seiten, mengte das Geschrei der Ausrufer hohe Pickelflötentöne in das tiefe Gebrumme der Menge, es war bei den Seefischen, auf dem Buttermarkte, in der Geflügelabteilung, auf dem Fleischmarkte. Von Zeit zu Zeit ertönte eine Glocke, und dem Klang folgte der Lärm eines Marktes, dessen Eröffnung sie ankündete. Rings um ihn her tauchte die Sonne die Gemüsehaufen in die Fluten ihres Lichts. Er erkannte nicht mehr die zarte Aquarellfarbe der Dämmerung. Die erschlossenen Kelche der Salate brannten im Lichte, das Grün schimmerte prächtig, die roten Rüben schienen zu bluten, die weißen Rüben glühten in diesem sieghaften Glutofen. Zu seiner Linken schütteten noch immer Kohlkarren ihren Inhalt aus. Er wandte die Blicke und sah in der Ferne noch immer neue Fuhrwerke aus der Turbigo-Straße hervorkommen. Die Meeresflut stieg immer höher. Er hatte sie an seinen Knöcheln, dann an seinem Bauche gefühlt, jetzt drohte sie über seinem Haupte zusammenzuschlagen. Geblendet, ertränkt, mit klingenden Ohren, der Magen erdrückt von allem, was er gesehen, neue, unaufhörliche Massen von Nahrungsmitteln ahnend, flehte er um Gnade, und ein wahnsinniges Verlangen erfaßte ihn, Hungers zu sterben inmitten des strotzenden Paris, in diesem flammenden Erwachen der Hallen. Große, heiße Zähren rollten über seine Wangen.
Er war jetzt bei einem breiteren Gange angelangt. Zwei Frauen, eine kleine Alte und ein große Hagere, gingen plaudernd an ihm vorüber und lenkten ihre Schritte nach den Hallen.
Sie kommen, um Ihren Einkauf zu machen, Fräulein Saget? fragte die große Hagere.
Ach, Frau Lecoeur, mein Einkauf!... Sie wissen ja, eine allein stehende Frau; ich lebe sozusagen von nichts... Ich wollte eine Rose Blumenkohl kaufen, aber es ist alles so teuer ... Was ist denn heut der Preis der Butter?
Vierunddreißig Sous... Ich habe sehr gute, wenn Sie zu mir kommen wollen...
Schön, schön; ich weiß noch nicht; ich habe noch etwas Fett zu Hause...
Florent machte eine letzte Anstrengung und folgte den beiden Frauen. Er erinnerte sich, den Namen der kleinen Alten von Claude in der Pirouette-Straße nennen gehört zu haben, und er faßte den Vorsatz, sie anzusprechen, wenn sie die große Hagere verlassen hatte.
Und Ihre Nichte? fragte Fräulein Saget.