Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

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Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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er für gefährlich hielt.

      Warten Sie, sagte er; ich will nachsehen, ob Ihr Bruder allein ist. Wenn ich in die Hände klatsche, treten Sie ein.

      Er öffnete eine Türe im Hintergrunde des Ganges. Doch als Florent die Stimme seines Bruders hinter dieser Türe vernahm, war er mit einem Satze im Hause. Quenu, der ihn sehr liebte, warf sich ihm an den Hals. Sie küßten sich wie Kinder.

      Bist du es wirklich? stammelte Quenu. Wer hätte das erwartet? ... Ich hielt dich für tot ... Ich sagte gestern erst zu Lisa: »Der arme Florent ...«

      Er hielt inne, steckte den Kopf zur Ladentür hinein und rief:

      Lisa! He, Lisa!

      Dann wandte er sich zu einem kleinen Mädchen, das sich in einen Winkel geflüchtet hatte, und sagte:

      Pauline, rufe deine Mutter!

      Doch die Kleine rührte sich nicht. Es war ein prächtiges Kind von fünf Jahren mit einem großen, runden Gesichte, der schönen Wursthändlerin sehr ähnlich. Sie hielt in den Armen eine große, gelbe Katze, die sich mit hängenden Beinen ihrem Behagen überließ. Das Kind drückte mit seinen kleinen Händen das Tier, unter dessen Last es sich beugte, fest an sich, als fürchte es, daß der schlecht gekleidete Fremde ihr die Katze stehlen könne.

      Lisa kam langsam herbei.

      Das ist Florent, mein Bruder, sagte Quenu.

      Sie nannte ihn »mein Herr!« und benahm sich sehr freundlich. Sie betrachtete ihn ruhig vom Kopf bis zu den Füßen, ohne eine verletzende Überraschung zu verraten. Nur ihre Lippen waren leicht verzogen. Sie blieb da stehen und lächelte schließlich über die Umarmungen ihres Gatten. Dieser schien sich indes zu beruhigen. Jetzt erst bemerkte er die Magerkeit und Dürftigkeit seines Bruders.

      Ach, armer Kerl! Du bist in fernen Landen nicht schöner geworden ... Ich habe dagegen Fett angesetzt ... Was will man machen?

      Er war in der Tat fett, zu fett für seine dreißig Jahre. Er strotzte von Fülle in seinem Hemde, in seiner Schürze, in diesen weißen Linnen, die ihn einhüllten wie eine riesige Puppe. Sein rasiertes Antlitz hatte sich verlängert und hatte mit der Zeit eine ferne Ähnlichkeit mit dem Rüssel seiner Schweine angenommen, mit diesem Fleische, in dem seine Hände den ganzen Tag herumwühlten und lebten. Florent erkannte ihn kaum wieder. Er hatte sich gesetzt und betrachtete nacheinander seinen Bruder, die schöne Lisa und die kleine Pauline. Sie alle schwitzten sozusagen von Gesundheit; sie waren schön, kräftig und strahlend; sie betrachteten ihn mit dem Erstaunen sehr fetter Leute, die beim Anblick eines Mageren von einer unbestimmten Unruhe ergriffen werden. Und selbst die Katze, deren Haut vom Fett zu platzen drohte, riß die gelben Augen auf und betrachtete ihn argwöhnisch.

      Du wartest bis zum zweiten Frühstück, nicht wahr? fragte Quenu. Wir essen früh, um zehn Uhr.

      Ein starker Geruch drang aus der Küche herein. Florent sah seine furchtbare Nacht wieder, seine Ankunft mit den Gemüsewagen, seine Marter in den Hallen, diese unaufhörliche Anhäufung von Lebensmitteln, der er eben entronnen war. Da sagte er mit leiser Stimme und einem sanften Lächeln:

      Nein, ich bin hungrig.

      Zweites Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Florent hatte eben in Paris sein Rechtsstudium begonnen, als seine Mutter starb. Sie wohnte zu Vigon, in der Gard-Gegend. Sie hatte in zweiter Ehe einen aus Yvetot in der Normandie stammenden Mann namens Quenu geheiratet. Diesen Mann hatte ein Unterpräfekt nach dem Süden gebracht und dort vergessen. Er war Beamter in der Unterpräfektur geblieben; denn er fand die Gegend reizend, den Wein gut, die Frauen liebenswürdig. Nach dreijähriger Ehe starb er an den Folgen einer schlechten Verdauung. Als einziges Erbe hatte er seiner Frau einen dicken Jungen zurückgelassen, der ihm ganz ähnlich sah. Es fiel der Mutter schon schwer, die Schulgelder für ihren älteren Sohn Florent, der aus ihrer ersten Ehe stammte, zu bezahlen. Sie hatte große Ursache, mit diesem Sohne zufrieden zu sein; er war von sanfter Gemütsart, arbeitete fleißig und erlangte stets die ersten Preise. Ihm wandte sie ihre ganze Liebe, alle ihre Hoffnungen zu. In der Zärtlichkeit für diesen blassen, schmächtigen Jungen kam vielleicht der Vorzug für ihren ersten Gatten zum Ausdruck, einen Provençalen von liebkosend weichlichem Charakter, der sie zum Sterben lieb gehabt hatte. Quenu, dessen gute Laune sie anfänglich verführt, hatte sich vielleicht zu dick, zu selbstgefällig, zu sehr als Mensch gezeigt, der aus sich selbst die besten Freuden zu schöpfen sicher war. Sie entschied denn, daß ihr Zweitgeborner, der Jüngste, der in den Familien des Südens oft geopfert wird, niemals etwas Rechtes werden solle. Sie begnügte sich, ihn in eine Schule zu schicken, die ihre Nachbarin, ein altes Mädchen hielt, und wo der Junge nichts anderes lernte, als sich herumtreiben. So wuchsen die beiden Brüder fern voneinander als Fremde heran.

      Als Florent nach Vigon zurückkehrte, war seine Mutter begraben. Sie hatte verlangt, daß man ihm ihre Krankheit bis zum letzten Augenblick verheimliche, um ihn nicht in seinen Studien zu stören. Er fand den kleinen zwölfjährigen Quenu in der Küche an einem Tische sitzen und weinen. Ein benachbarter Möbelhändler schilderte ihm die Krankheit und den Tod der armen Frau. Sie war bei ihren letzten Mitteln angelangt und hatte sich in schwerer Arbeit aufgerieben, damit ihr Sohn sein Rechtsstudium beenden könne. Außer einem kleinen Bandhandel, der wenig einbrachte, mußte sie sich noch mit verschiedenen anderen Arbeiten beschäftigen, die sie bis in die späte Nacht in Anspruch nahmen. Die fixe Idee, ihren Florent als einen angesehenen Advokaten der Stadt zu sehen, machte sie schließlich hartherzig, geizig, erbarmungslos gegen sich selbst und gegen andere. Der kleine Quenu lief mit zerrissenen Höschen umher und hatte Löcher in den Rockärmeln. Bei Tische durfte er sich nichts nehmen und mußte warten, bis seine Mutter ihm sein Teil Brot gab; allerdings schnitt sie für sich selbst ebenso dünne Scheiben wie für ihn. Bei dieser Lebensweise war sie zugrunde gegangen mit dem unsäglichen Schmerze, ihre Aufgabe nicht beendet zu sehen.

      Diese Mitteilung machte auf den weichen Charakter Florents einen schrecklichen Eindruck. Die Tränen erstickten ihn schier. Er nahm den kleinen Bruder in seine Arme, schloß ihn an seine Brust und küßte ihn, wie um ihm alle die Liebe zu vergelten, deren er ihn beraubt hatte. Er betrachtete seine zerrissenen Schuhe, seine löcherigen Rockärmel, seine schmutzigen Hände, dieses ganze Elend eines verlassenen Kindes. Er wiederholte ihm, daß er ihn mitnehmen wolle und daß er bei ihm glücklich sein solle. Als er am nächsten Tage die Lage prüfte, fürchtete er, es werde ihm nicht soviel bleiben, um nach Paris zurückzukehren. Um keinen Preis wollte er in Vigon bleiben. Es gelang ihm glücklicherweise, einen Abnehmer für den Bandkramladen zu finden; dadurch ward es ihm möglich, die Schulden zu bezahlen, die seine Mutter, in Geldsachen sonst sehr streng, nach und nach zu machen genötigt gewesen. Da ihm nichts übrig blieb, bot ihm sein Nachbar, der Möbelhändler, fünfhundert Franken für die Einrichtung und die Wäsche der Verstorbenen. Der Möbelhändler machte dabei ein gutes Geschäft. Der junge Mann dankte ihm mit Tränen in den Augen. Er kleidete seinen Bruder ganz neu und nahm ihn noch am selben Abend mit sich.

      In Paris konnte nicht mehr die Rede davon sein, das Rechtsstudium fortzusetzen. Florent gab jeden Ehrgeiz für später auf. Er fand einige Unterrichtsstunden und mietete sich mit dem kleinen Quenu in der Royer-Collard-Straße, an der Ecke der Jakobstraße, in einer großen Stube ein, die er mit zwei eisernen Betten, einem Schrank, einem Tische und vier Stühlen ausstattete. Von da ab hatte er ein Kind. Seine Vaterschaft entzückte ihn. In der ersten Zeit versuchte er, wenn er abends nach Hause kam, dem Kleinen Unterricht zu geben. Doch dieser hörte nicht zu; er hatte einen harten Schädel und wollte nichts lernen; schluchzend sehnte er die Zeit zurück, da seine Mutter ihm erlaubte, in den Straßen herumzulaufen. Florent war darob in Verzweiflung, brach den Unterricht ab, tröstete den Jungen und versprach ihm endlose Ferien. Um seine Schwäche in seinen Augen zu rechtfertigen, sagte er sich, daß er das liebe Kind nicht mitgenommen habe, um es zu ärgern. Seine Verhaltungsregel war, es in Frohsinn heranwachsen zu sehen. Er liebte den Jungen, war entzückt von seinem hellen Lachen und fand seine selige Wonne daran, ihn gesund und sorglos um sich zu haben. Florent blieb mager in seinen abgenützten schwarzen Röcken, und sein Gesicht


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