Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Vorsichtig, um nicht abzustürzen, trat sie vor die Hütte und blickte ihnen nach.
Es dämmerte schon. Gegen die Täler zu schwammen dunkle, schwarze Luftmassen. Weiter nach oben wurden sie dünner. Unheimlich bleigraue Dunststreifen spannen sich da aus, und als Elisabeth auf sie hinabschaute, sah sie ein fahles Leuchten durch die Wolkenwände dahinhuschen. Sie achtete nicht darauf. Es war alles wie erstarrt in ihr.
Wird er leben? Wird er sterben? Eintönig, unerbittlich wälzte sich die Frage durch ihr Hirn. In ihren hastigen Pulsschlägen, in ihren schweren Atemzügen glaubte sie taktmäßig die drei Worte zu hören.
Und wenn er starb?
Sie schloß schaudernd die Augen. Die Angst krampfte ihr das Herz zusammen. Sie konnte den Gedanken nicht ausdenken.
Nein, sie wollte nicht daran glauben. Er mußte am Leben bleiben.
Aber dann? Wieder umfing sie das ratlose, quälende Bangen. Dann begann ja erst der Kampf, der schwerste von allen, der Kampf mit sich selbst. Oder eigentlich ... es war kein Kampf mehr ... Sie fühlte, sie würde unterliegen. Sie würde alles im Stich lassen ... alles ... um seinetwillen ...
Es war beinahe finster geworden. Ein dumpfes, die Luft erschütterndes Rollen erhob sich unter ihr in der Tiefe. Es begann mit leisem Dröhnen, es steigerte sich bis zum Donner und verklang dann wieder in finsterem Murmeln.
Sie erschrak. Mit bebenden Händen stieß sie die Tür auf und trat in das Innere der Hütte.
»Ist das ein Erdbeben?« fragte sie hastig.
Der eine Führer, ein alter Franzose aus einem welschen Ort des Wallis, war aufgestanden. »Ein Gewitter geht unten im Tal nieder, Madame! Das ist für uns nicht gefährlich, aber ...«
Ein Schmettern ... ein Flammenschein, der einen Augenblick alles taghell erleuchtete, ein unterirdisches Brüllen, als wankten die Berge ... der Führer sprang und schloß die Holzläden. »Der Blitz ist nach oben gegangen, statt nach unten!« stieß er hervor, »das ist oft schlimm! Im Oberland hat's einmal die Frau von einem englischen Lord auf dem Platz erschlagen!«
Elisabeth hörte ihn nicht. Sie kniete vor dem Strohlager nieder! Ein lautloses Schluchzen erschütterte ihren schlanken Leib: Er lebte! Der Donnerschlag hatte ihn geweckt. Mit offenen, ruhigen Augen sah er suchend umher, und seine Hände bewegten sich tastend über der Decke.
Sie ergriff die Rechte und preßte sie in krampfhaftem Druck. »Ich bin da!« murmelte sie, »ich bin da ... und es wird alles gut. Die Wunde ist nicht schwer.«
Er nickte und legte mit leisem Stöhnen den Kopf wieder zurück.
»Wo bin ich denn?« fragte er nach einer Pause.
»In der Cabane, Herr!« sagte der Führer dazutretend, »aber Sie sollen ruhig liegen und wenig reden ... hat der Doktor gesagt ...«
Der Donner draußen ließ ihm lange Zeit zur Antwort.
»Und der Professor?« hub er dann an und starrte zur Decke auf, »habt ihr ihn gefunden?«
Der Führer schwieg. »Ja«, sagte Elisabeth und bemühte sich zu lächeln, »er wird sich hoffentlich auch erholen ...«
Der Baron machte eine halb ärgerliche, halb belustigte Bewegung. »Warum lügen S' denn?« murmelte er, »ich weiß doch, daß er tot ist. Hat's verdient. Ich auch. Ein Wunder, daß ich noch leb' ...«
Wer so klar und ruhig sprach, konnte nicht schwer verletzt sein. Elisabeth beugte sich über ihn. Ihre Stimme zitterte vor jubelnder Erregung.
»Sie werden leben«, flüsterte sie, »und bald wieder ganz gesund sein.«
Er schaute zu dem schönen blassen Haupte empor, um das wie ein Heiligenschein das krause Goldhaar im Kerzenglanz flimmerte. Ein Ausdruck wilder Zärtlichkeit erschien auf seinem Gesicht.
»Das ist schön, daß Sie da sind«, sprach er, und ein verzehrendes Lächeln umspielte seine Lippen, »recht schön ist's! ... das macht mich bald gesund ...«
Sie löste unwillkürlich ihre Hand aus der seinen. »Sehen Sie mich nicht so an ...« sagte sie gepreßt und stand langsam auf, »... am besten ist's, Sie schließen die Augen und schlafen wieder ein.«
Er tat es. »Ich tu' alles, was Sie befehlen«, meinte er, und seine Stimme klang träumerisch und weich, »alles ... alles ... 's ist ja so schön, noch einmal zu leben und nicht allein zu sein ...«
Seine Gedanken schienen zu wandern. Er murmelte noch einige unverständliche Worte. Dann zeigten tiefe Atemzüge, daß er wieder entschlummert war.
Entschlummert trotz des Donners, der in immer gewaltigeren Schlägen draußen rollte. Es litt Elisabeth nicht in der engen Hütte. Ein jubelndes Glücksgefühl trieb sie hinaus in die Nacht, in den Donner, wo sie allein mit sich war und ihrer in stürmischem Dank aufwogenden Leidenschaft.
»Nicht zu weit, Madame!« schrie warnend der Führer.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich geh nicht weit! Ich bleib dicht an der Hütte!« An die niedere Steinmauer der Hütte mit dem Rücken angepreßt stand sie draußen im Dunkeln. Der Nachtsturm umrauschte sie in lauen, stöhnenden Wogen. Sie atmete ihn in tiefen, wonnevollen Zügen ein, sie beugte sich ihm entgegen, um sich von seinen gewaltigen kraftvollen Armen umfangen zu lassen, und schloß demütig lächelnd die Augen, wenn er sie in allzu ungestümer Zärtlichkeit mit sich reißen wollte.
Dann wanderte der Wind weiter. Sie schlug die feuchten Wimpern auf und schaute wieder in die nächtliche Tiefe zu ihren Füßen.
Jäh flammte es da unten auf. Wie aus Feuerschein gewebt leuchteten unter ihr die ganzen Wolkenmassen in durchsichtig glühendem Rot. Ein betäubendes Schmettern und Prasseln fuhr durch den blutig lohenden, abenteuerlich geballten Dunst, der sofort wieder im Dunkel verschwand. Aber schon zuckte es von neuem zur Seite in blendendem Zickzack durch die Nacht ... ein andrer Blitz dort drüben ... wiederum stieg für einen Augenblick das unheimlich schimmernde Märchenreich aus der Finsternis, als habe sich die Erde gespalten und werfe die Flammenwelt ihres Innern hinaus in die Lüfte, wiederum vergeht es wie ein Hauch, während der Donner, von allen Seiten niederrollend, sich zu einem einzigen, unendlichen, mächtig schwellenden und sinkenden Gebrüll vereinigt.
Sie hätte aufjauchzen mögen, hinausjubeln in diese herrliche, ungeheuerliche Welt. Das Wetter unter ihr ... unter ihr die Wolken, aus denen die Blitze über den Erdball sprühen und der Donnerschlag die zitternden Menschen im Tale schreckt – und sie hier oben auf sturmumbrandeter Felsklippe über all dem thronend, erhaben über den Tod und die Vernichtung, über Angst und Wehe, das jetzt im Wirbelsturm durch die stöhnenden Täler und Ebenen geht – so mußte einem Gott zumute sein.
Der lachte über die Menschen da unten, über ihre Satzungen, ihre engen Schranken. Der empfand nicht wie jene. Der glaubte an die Kraft, die da den Sturmwind als Herrn und Gebieter jauchzend durch die Hochwelt rasen ließ, er glaubte an die Leidenschaft, die sich glutatmend in flammenden Schlägen da unten entlud, gleichviel, wen das Verderben traf, der glaubte an sich und an sein Glück. Der schmiedete sich sein Glück in der feuersprühenden Esse da unten ... erbarmungslos und schonungslos. Warum auch Mitleid mit den Schwachen? Unten im Tal mögen sie sich zusammenscharen und ihres armen Daseins freuen ... hier oben ist die Kraft. Hier ist die Größe ...
Ein neuer Blitz zuckte dahin, und jetzt sah sie erst, wie in seinem Schein die Bergketten aufleuchteten! Glutüberrieselt standen einen Augenblick die schneeweißen Ungeheuer reglos in der schwarzen Nacht, mit phantastischen blendenden Zacken und Zinnen sich scharf vom Dunkel abhebend, das plötzlich wieder wie ein wogendes Meer von beiden Seiten über ihnen zusammenschlug. Unermüdlich wiederholte sich bei jedem Wetterschlag das gewaltige Schauspiel. Die Riesen stiegen, Hand an Hand gereiht, in leuchtendem Donner hervor, das schwarze Nichts verschlang sie gierig, und zu dem rastlosen Titanenkampf sang die Windsbraut über Schlünde und Höhen ihr gewaltiges Lied. Es war zu viel für Menschenaugen. Halb geblendet tastete sich Elisabeth zur Tür zurück und in die Hütte hinein. Dort setzte sie sich auf den harten Holzschemel dem Schlafenden gegenüber und sah ihn an ... lange, unermüdlich lange. Finstere Entschlossenheit