Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz

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Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays - Rudolf Stratz


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die Augenbrauen hoch. »Lieber Doktor, manchmal sind Sie merkwürdig naiv! Wissen Sie nicht, daß das letzte bemerkenswerte Ereignis bei uns oben die Sündflut war? Seitdem ist nichts von Belang mehr vorgefallen. Sogar die Ahnfrau ist pikiert und verkehrt nicht mehr mit uns. Auch der ist's auf die Dauer zu langweilig geworden!«

      Er lachte. »Was mögen die Herrschaften auf dem Schlosse dann aber alle die Jahrhunderte getrieben haben?«

      »Nichts. Und wenn sie gar keinen Rat mehr wußten, spalteten sie sich in zwei Linien. Aber auch dieser Zeitvertreib ist neuerdings vorbei. Die drei alten Herren haben ja alle keine Kinder. Wulfi ist der letzte des Stammes!«

      »Und wer war eigentlich – verzeihen Sie meine Neugier – der Erste?«

      »Wodan! Höchstselbst! Im sechzehnten Jahrhundert hat Eusebius Höllendampf, ein grundgelehrter Magister aus Heidelberg, haarscharf nachgewiesen, daß das Geschlecht unmittelbar von Wodan, dem Herrn des Odenwaldes, abstammt, und dafür sechs Frankfurter Goldgulden und Tuch zu einem Feiertagsgewand erhalten. Oben im Archiv können Sie's nachlesen!«

      »Und Sie glauben das natürlich!«

      »Und wie! Schon um Sie zu ärgern! Aber im Ernst: Ich glaube nur an ein Ding im Schloß! An die Langeweile. Das ist unsere eigentliche Ahnfrau. Die geht jetzt noch dort um wie seit Jahrhunderten, pünktlich wie meine Uhr. Vom Morgen bis zum Abend. Ich seh' sie manchmal förmlich vor mir, und dann fang' ich an zu gähnen ... zu gähnen, sag' ich Ihnen! Sie vielgeplagter Mann wissen ja gar nicht, was man an einem Tage zusammengähnen kann. Ich bin überzeugt, wenn das Schloß 'mal ausstirbt, endet's am Kinnbackenkrampf.«

      »Da hätte das schon lange geschehen müssen!«

      »Vielleicht ist's schon geschehen! Wer weiß! Vielleicht sind wir schon längst tot, und man sagt es uns bloß nicht, um uns nicht unnütz aufzuregen! Manchmal in letzter Zeit – seit ich Sie kenne – kommt es mir so vor.«

      Er lachte. »Und wie freigeistig erscheint sich nun die Frau Gräfin, wenn Sie all die ängstlich behüteten Familiengeheimnisse auf einmal ganz offen ausplaudert! Aber damit ist nichts gewonnen, daß man nur das alte Gerümpel über Bord wirft, vorher muß man anderen festen Boden unter den Füßen haben. Neuland! Darauf kommt's an.«

      »Ich geb' mir ja auch alle Mühe!«

      »Wirklich?« Er schaute sie von der Seite an. »Was haben Sie zum Beispiel heute morgen schon getan?«

      Sie zögerte ein Weilchen. »Ich hab' einen Auerhahn geschossen!« sagte sie endlich mit verlegenem Stolz.

      Da lachte er laut auf. »Na also! Da haben wir die Bescherung! Ich hab's nämlich schon gehört! Solch ein frohes Ereignis wie die Ermordung eines Auerhahns durch hohe Hand spricht sich ja rasch herum. Liebe Gräfin: Also das nennen Sie Ihren inneren Menschen entwickeln, wenn Sie sich vor Tag und Tau im Wald den Schnupfen holen und nach harmlosen Vögeln knallen? Das haben Ihre Vorfahren auch gekonnt – schon zur Zeit Hildebrands und seines Sohnes Hadubrand und anderer ungewaschener Herrschaften – und das können Ihre Standesgenossen heute noch! Und Sie sind gerade solch ein Junker! Ein ganz flotter, unverbesserlicher Junker in langem Haar und langem Rock – sogar den Jagdanzug haben Sie noch an. Wo ist denn nur die Flinte? Die braucht man doch auch, wenn man Krankenbesuche macht!«

      Sie war gar nicht gekränkt. »Poltern Sie nur!« sagte sie unbekümmert. »Deswegen schieße ich doch Auerhähne. Weil mir's Spaß macht! Ich lass' mich nicht so gängeln! Auch von Ihnen nicht! Den nächsten kriegen Sie extra von mir ausgestopft ins Haus geschickt. Aber wenn Sie heute in das Schloß kommen, werden Sie sich wundern, was ich alles in den letzten drei Tagen nach Ihren Angaben wieder gearbeitet hab'. Zwei

      Kapitel im Darwin ...«

      »Im Häckel?«

      »Nein. Mit der ›Natürlichen Schöpfungsgeschichte‹ bin ich durch. Jetzt bin ich schon im dritten

      Kapitel von der ›Entstehung der Arten‹, und in Taines ›Geschichte der Revolution‹ geht es auch tüchtig vorwärts.«

      »Und sonst noch im Englischen?«

      »Da hab' ich jetzt Buckles ›Story of Civilisation‹ – das ist schwer, aber sehr interessant. Gestern sind auch die neuen historischen Werke gekommen, die ich mir nach Ihrem Verzeichnis aus Heidelberg bestellt hab'! Ich hab' mir auch schon damit eine Reihenfolge für die nächsten Monate gemacht. Erst Treitschke, der liest sich, wie ich so darin herumgeblättert hab', wie ein Roman. Dann Ranke und dann Sybel. Vor dem fürchte ich mich noch ein bißchen. Der macht einen strohtrockenen Eindruck. Aber es wird auch gehen!«

      »Ja – wenn Sie nicht in den Büchern herumblättern, sondern vernünftig lesen! Sonst schaut nichts dabei heraus!«

      »Das tue ich ja! Ich wollt' es Ihnen nicht zeigen, bis ich nicht ein bißchen damit vorwärts gekommen bin, aber ich habe mir Hefte angelegt, für jedes Buch – da schreibe ich die Auszüge hinein und meine Eindrücke, wie ich die Sache persönlich verstanden und aufgefaßt habe. Ein paar von den Heften sind jetzt schon voll. Die müssen wir jetzt, sowie Sie Zeit haben, miteinander durchsehen, und Sie korrigieren mir, was falsch ist. Wissen Sie, was auch wundervoll ist: Humboldts ›Ansichten der Natur‹! Überhaupt – ich glaube, Sie haben mir die Bücher ausgezeichnet aufgeschrieben!«

      »Ich habe Ihnen das Beste aufgeschrieben, was es gibt, um einen Menschen aus dem Schlafe aufzuwecken!«

      Sie seufzte. »Ja, wirklich, ich habe geschlafen. Oder vielmehr: man hat mich ruhig schlafen lassen. Ich hab's ja nicht so wissen können – oder war's auch bei mir Faulheit, Gleichgültigkeit – ich weiß nicht – Dummheit jedenfalls nicht. Denn ich verstehe die Bücher ganz gut!«

      »Nein – dumm sind Sie wahrhaftig nicht, Gräfin!« sagte der Doktor trocken. »Im Gegenteil. Sie haben eine ganz merkwürdige Art, sich die Dinge blitzschnell anzueignen. Eine weibliche Art. Rein intuitiv! Ohne all den schwerfälligen Apparat von Überlegung und Prüfung, den wir mattstudierten Männer dazu nötig haben.«

      »Aber ich will noch viel mehr lernen!« sagte sie eifrig. »Alles. Es ist hohe Zeit. Ich hab' so und so viel unnütz vergähnte Jahre nachzuholen. Sie hatten ja ganz recht, wie Sie neulich riefen: ›Ist es nicht unglaublich: da unten pfeift nächstens die Lokomotive, und da oben sitzt die Herrin des Schlosses und weiß nicht mehr, als daß eine Lokomotive ein großer, schwarzer, mit Wasser gefüllter Kessel ist.‹ Und wenn man sie fragt: ›Warum setzt sich dieser Kessel plötzlich in Bewegung?‹, so antwortet sie ganz treuherzig: ›Weil's im Fahrplan steht!‹ ... Nein, lieber Freund ... es ist eine Schande! Von Elektrizität weiß ich erst recht nichts ... oder von Chemie. Das galt ja wohl alles für Teufelswerk in dem belgischen Nonnenkloster, wo ich erzogen worden bin. Immer nur Beten, Klavierklimpern ... Beten ... Französisch ... Englisch ... wieder Beten und dann noch einmal ... aber jetzt studiere ich das alles mit doppeltem Eifer!«

      »Nur immer langsam! Eins nach dem anderen. Sie sollen doch kein konfuser Blaustrumpf werden, dem der ganze Geist der Zeit unverdaut im Magen liegt.«

      Sie lachte fröhlich. »Zum Blaustrumpf habe ich kein Talent. Sehen Sie, Doktor ... dafür sind die Auerhähne da. Die Auerhähne bilden das Gegengewicht! Da bleibt man hübsch in der Mitte. Frisch und gesund.«

      »Eigentlich haben Sie recht. Schießen Sie nur, was Ihnen vor die Büchse kommt. Vom Karnickel bis zum Schulmeister!«

      »Ich danke Ihnen für die Erlaubnis! Aber die Tiere, die mich jetzt am meisten interessieren, sind die Bazillen. Ich will etwas von den Bazillen verstehen, damit ich doch endlich eine Ahnung gewinne, was Sie eigentlich hier in diesem Erdenwinkel sinnen und treiben. Denn deswegen sind Sie doch hier!«

      »Wenn man's so nimmt, ja! Irgendwo mußt' ich Kassenarzt werden. Denn ich hab' kein Geld, mich erst lange hinzusetzen und zu warten, ob 'mal übers Jahr Patienten zu mir kommen. Und wie nun mein Universitätsfreund die Fabrik da begründet hat, hab' ich die Stelle gern angenommen. Sie bringt mir so viel, daß ich leben kann, und läßt mir doch ein bißchen freie Zeit.«

      »Wann denn nur, um Gottes willen?« Sie schlang die Hände ineinander und sah ihn ungläubig an. »Frühmorgens


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