Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.»Kommen Sie mit, Herr Kaplan?« fragte der Fabrikant.
Paulus Eberle zögerte und schüttelte den Kopf. »Es sind zwei alte Leute hier im Hause«, sagte er. »Im oberen Stock – da ich schon da bin, möchte ich sie gern besuchen!«
»Also auf Wiedersehen! Adieu, Irion!« Der Direktor trat auf die Straße hinaus und der junge Geistliche tastete sich die schmale, ausgetretene Hühnertreppe empor zu der Wohnung des Pilgerle. Er fühlte sich geärgert, beinahe gedemütigt durch den Zusammenstoß mit Benedikt Irion. Er empfand, wie schon so oft seit Gründung der Fabrik: Hier war die Grenze seiner Macht! Hier standen Weltanschauung gegen Weltanschauung, Fanatismus gegen Fanatismus, und eine leise Entmutigung kam über ihn, während er oben an der niederen Kammertüre klopfte.
Es war mehr als Freude – es war angstvolle, zitternde Aufgeregtheit, die sich bei seinem Eintritt des Pilgerle und seines Weibleins bemächtigte. Die beiden alten Leute oben waren eben dabei, ihren Zichorienkaffee zu schlürfen, der mit etwas Brot fast ihre einzige Nahrung ausmachte, als das Unerwartete geschah, als der geistliche Herr in höchst eigener Person in das Giebelstübchen trat. Das war ein Dienern und Hin- und Hertrippeln und Stuhlabwischen und Zurechtstellen, bis der junge Gast in der Priesterkutte endlich dasaß und sich wohlwollend in dem kleinen, unsauberen Zimmer umsah. Hier schaute es anders aus als unten. Die Wände voll von grellgemalten, mit Nägeln befestigten Heiligenbildchen, ein Kruzifix über der Türe, ein geweihter Rosenkranz über dem Bett, das Gebetbuch auf dem Tisch – hier fühlte sich der Kaplan zu Hause. Hier war er unter seinen Leuten. Hier öffneten sich ihm die Herzen und empfingen von ihm Trost und Glauben. Eine Rührung kam über ihn, als er sich nach einer Viertelstunde teilnehmenden Geplauders verabschiedete, den zitterigen, dankbaren Druck der arbeitsharten Greisenhände empfand und die feuchten Augen in den runzeligen, von weißen Haaren umrahmten Kindergesichtern sah. Dies hier waren die Ärmsten unter den Armen. Ihr ganzes Leben war ein langer Frontag, ihr Ende Siechtum in der widerwilligen Armenpflege der Gemeinde. Und doch waren sie zufrieden, waren sie heiter und bescheiden, denn sie konnten noch glauben, sie, die Mühsamen und Beladenen, hofften nicht auf das zwanzigste Jahrhundert wie der schwindsüchtige Fanatiker unter ihnen, sondern auf den Himmel.
Das war die Macht der Kirche! Ein stolzes, Lächeln lief über die harten Bauernzüge des jungen Mannes, während er, sich nach Frauenart den langen schwarzen Rock schürzend, die krachende Hühnersteige hinabstieg, und in seinem Herzen wurde alles weit von der Inbrunst für Rom.
V
In dem Augenblicke, als er aus dem Flur auf die Straße hinaustreten wollte, rauschte ihm etwas, hart um den Türpfosten biegend, entgegen. Beinahe wäre er mit der schlanken Gestalt zusammengestoßen und sprang erschrocken zwei Schritte zurück.
»Verzeihung, Frau Gräfin ...« murmelte er, mit den Augen nach der Gewohnheit Roms den Boden suchend.
Sie bot ihm unbefangen die Hand. »Guten Morgen, Herr Kaplan! Machen Sie nur nicht gleich ein Gesicht, als ob Sie auf eine Natter getreten wären! Was haben Sie denn?«
Der junge, bebrillte Bauer im Priesterrock fühlte zu seinem Unmut, daß er leicht errötete. »O ... nichts, Frau Gräfin«, sagte er mit seiner tiefen Stimme, den Blick auf der Erde. »Und Frau Gräfin befinden sich, wenn ich fragen darf, wohl?«
»Danke! Äußerst! Ich habe einen Auerhahn geschossen.«
»O ... wirklich ... das haben Frau Gräfin?«
»Ja!« Sie streckte ihm wieder die sein behandschuhte Rechte zum Abschied hin. »Schon mein zweiter dies Jahr! Aber jetzt muß ich zu der Kranken! Der Doktor ist bei ihr? Das ist mir lieb, daß ich ihn treffe ... Also auf wiedersehen, Herr Kaplan!«
Sie nickte ihm zu und verschwand im Inneren des Hauses. Nur ein süßer Veilchenduft blieb schmeichelnd über der Stelle schweben, wo sie gestanden.
Und Paulus Eberle, der Kaplan, hatte, während er die Straße entlang ging, wiederum jene seltsame Empfindung wie einst in seiner Seminaristenzeit, als er mit ein paar Genossen aus einem Weinkeller, in dem sie mit Stechhebern den jungen Most aus dem Fasse geschlürft, wieder an das Tageslicht getreten war. Jene süße Benommenheit, jene jäh zu Kopf steigende Glut, jenes rasche, angstvolle Hämmern im Herzen ...
Jedesmal wenn er ihr begegnete! Und nach diesen seltenen Begegnungen teilte er ja nur noch im Inneren sein eintönig sich abspinnendes Dasein ein. Sie waren die leuchtenden Punkte, um die sich alles andere drehte.
»Ein Schrecken ergriff ihn. Ohne sich umzuschauen, ging er mit langen Schritten in seinem fliegenden Gewande dem Dorfe zu. Da fühlte er etwas Feuchtes auf seinem Handrücken. Ein kleines Mädchen, die Tochter eines altbayrischen Erdarbeiters, war herbeigelaufen, um nach heimischer Sitte den geistlichen Herrn mit einem Handkuß zu begrüßen. »Gelobt sei Jesus Christus!« piepste das dünne Stimmchen gläubig zu ihm herauf.
»In Ewigkeit, Amen!« erwiderte er und ging weiter, und sein Blick vermied es, den offenen Kinderaugen zu begegnen.
Benedikt Irions Wohnzimmer war leer. Der Monteur stand im Hof, mit dem Putzen seines Zweirades beschäftigt, und die Krankenschwester hantierte hinten in der Küche, um eine Suppe zu kochen. So merkte niemand den hohen Besuch vom Schlosse, der nach vergeblichem Anklopfen in das Wohnzimmer trat und von da auf den Fußspitzen, leise die angelehnte Tür öffnend, in das Nebengemach schlich.
Der Raum lag der herabgelassenen Vorhänge wegen im Halbdunkel. Wera erkannte nur ganz undeutlich im Bette die Umrisse einer reglosen Gestalt und davor, ihr den Rücken wendend, auf dem Holzschemel den Arzt.
Er hielt den Puls der Patientin zwischen den Fingern, die Uhr in der anderen Hand, »Wer ist denn schon wieder da?« brummte er. »Eine Krankenstube ist doch kein Wirtshaus, in dem man nach Belieben aus und ein läuft.«
»Ich bin da!«
»Ach Sie, Frau Gräfin! Guten Morgen!«
»Guten Morgen! Ist denn wirklich ...?«
»Pscht!« machte er, ohne sich zu rühren, und begann von neuem halblaut zu zählen. Eine Weile war es still.
»So!« sagte er dann aufstehend und steckte die Uhr ein. »Die Kranke ist außer Gefahr. Ich hab' ihr eben noch eine subcutane Injektion gegeben ...«
» ... und jetzt schläft sie?«
» ... und darf nicht gestört werden! Jawohl! Also bitte!« Er öffnete ihr ohne viele Umstände die Türe und folgte hinterher. »Guten Morgen!« wiederholte er dann und schüttelte ihr kameradschaftlich die Hand. »Was wollen Sie denn eigentlich hier?«
»Es ist doch meine frühere Kammerjungfer. Draußen steht der Diener mit einem Korb mit Wein und Wäsche und sonst allerlei! Herrgott ... es wird ja alles naß in dem Regen!«
Der Doktor hüllte sich in seinen Radmantel und Schlapphut und griff nach dem Knotenstock. »Dem fetten Kümmel schadet die Nässe gar nichts. Und den Korb soll er nur der Schwester geben. Dann wollen wir gehen. Ich habe noch viel zu tun! Oder gedenken Sie noch ein paar herablassende Worte an den Irion zu richten? Heute geht's bei dem schon in einem hin. So viel feinen Besuch hintereinander wie heute hat der gottlose Mann zeit seines Lebens noch nicht genossen, wenn er sich jetzt nicht bessert, begreife ich die Welt nicht mehr!«
»Und wenn Sie sich nicht über mich lustig machen können, dann fehlt Ihnen erst recht etwas!« sagte sie und trat mit ihm vor das Haus, dem Diener durch einen Wink mit dem Kopfe die Bestimmung des Korbes anweisend. »Aber heute lassen Sie das! Ich habe Sorgen. Wulfi ist nicht ganz wohl!«
»Ich werde gleich nachher nach ihm sehen!«
»Ja – bitte! Hoffentlich ist es nichts Ernstes!«
»Warum sollt' es denn gleich was Ernstes sein? Jetzt in den stürmischen Märztagen holt sich so ein zartes Kind bald eine Erkältung! Übermorgen springt er wieder herum.«
Sie nickte hoffnungsvoll,