Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz

Читать онлайн книгу.

Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays - Rudolf Stratz


Скачать книгу
Nur die drei Zeitungen rascheln einander zornig an, draußen stöhnt der Wind, eintönig tickt die Wanduhr, und der hagere Schotte schleicht vorsichtig wie in einem Sterbezimmer am Büfett hin und her. Was sollten sich die drei Greise auch sagen – der alte Priester, der alte General, der alte Roué? Mochte sich auch der eine als Römer, der andere als Preuße, der dritte als Pariser fühlen, sie kannten sich doch zu genau und zu lange. Ja, sie wußten, daß sie sogar in diesem Augenblick des Schweigens miteinander eins waren, in einer Art Herbststimmung, einer tiefen Melancholie am Abschluß des Lebens.

      Von den Wänden schauten die Toten auf die Lebenden, viele Generationen im Laufe der Jahrhunderte. Trotzige krummstabbewehrte Kirchenfürsten, langgelockte gravitätische Abenteurer des dreißigjährigen Kriegs und wohlwollend lächelnde feiste Duodeztyrannen und Wüstlinge aus der Jammerzeit des achtzehnten Jahrhunderts. Frauen dazwischen, jung und alt, schön und häßlich, viele mit einem rätselhaften Messalinalächeln trotz Reifrock und gepudertem Haarturm, dem Zeichen des unbändigen, durch alle die Jahrhunderte kochenden und siedenden Bluts.

      Das Blut lebte auch noch in ihnen. Das wußte der Priester, der es in beinahe übermenschlicher Askese bezwungen, der Offizier, den es warm und rot bis zu den Sporen hinab bei Mars-la-Tour umrieselt, der Lebemann, der jetzt noch, siech und alt, plötzlich, wenn draußen der warme Frühlingssturm stöhnte, einen unbändigen Drang empfand, sich von neuem in ein Leben voll toller Genüsse und Ausschweifungen zu stürzen.

      Jawohl, die Toten da oben, die Lebenden da unten waren eins. Sie kamen und gingen, immer neu und immer doch gleich, wie eine Eiche immer wieder Frühlingssprossen treibt, wenn ihre letzten Winterblätter fallen. Aber innen in der Eiche sitzt ein Wurm. Der heißt die Zeit und nagt und bohrt, bis alles Mark in Moder sich gelöst hat. Wohl steht der Baum noch starr und unversehrt. Aber plötzlich bricht er, der die Stürme der Jahrhunderte überdauert, vor einem spielenden Sommerlüftchen zusammen. Seine Zeit ist um. Er hat ausgegeben, was an Lebenskraft und Mark in ihm war.

      Unten am Tisch saß Graf Pius, der Herr des Schlosses, und frühstückte, schweigsam und zerstreut lächelnd, wie das seine Art war, besonders in Gegenwart der drei Greise, in der er sich gedrückt und befangen fühlte. Er hatte die Empfindung, als sähen sie ihn zuweilen mißbilligend, mit trüben Blicken an, und war sich doch keiner Schuld bewußt. Er hatte nie jemand etwas zuleide getan, selten überhaupt das Schloß, wo Mutter und Tanten zärtlich seine Kindheit gehegt, verlassen. Hier fühlte er sich am wohlsten, in einem träumerischen Behagen, wie ein Knabe, der zur Ferienzeit durch die Wälder streift, Käfer sammelt und dem fernen Kuckucksschlage horcht. Und doch wußte er, daß er hier einsam war und die Bewohner des Schlosses ihm fremd, wie die grimmen Kriegsmänner, die schlangenklugen Priester, die gottverlassenen Abenteurer oben an den Wänden, denen er auch äußerlich nicht ähnelte. Wohlgebaut, mit kleinem Schnurrbart, offenen Zügen und freundlichem Blick, war er das Bild eines bescheidenen und dienstfertigen jungen Mannes, eher von untergeordneter Stellung als gräflicher Förster etwa oder Verwalter denn als Besitzer und Gebieter der weitausgedehnten Herrschaft.

      Früher hatte er wohl mit seinen Oheimen gestritten, wenn ihm einer in leisem Vorwurf andeutete, daß er sein Leben tatenlos im Schlosse verträume. Es könne doch nicht jeder eine Eminenz im roten Kleid werden oder ein General oder ein ganz wilder, verlorener Geselle, den schließlich bei den Cowboys oder Goldgräbern eine Revolverkugel ereile, wie das alles schon in der Familiengeschichte dagewesen. Er wolle einfach seine Ruhe, wie er auch die anderen Leute in Ruhe lasse, und die finde er hier und habe keine Lust, sich im Staatsdienst abzumühen, sich auf dem Exerzierplatz schuhriegeln zu lassen oder in fremden Ländern und Meeren herumzutreiben.

      Die Alten pflegten darauf wenig zu antworten. Sie lächelten nur seltsam vor sich hin. Er hätte ihre Wehmut ja doch nicht verstanden, daß dies alte Helden- und Priestergeschlecht in solch einem blassen blonden Dutzendmenschen auslief. Seit seiner Ehe war überhaupt von derlei nicht mehr die Rede. Die alte und die neue Generation gingen stumm nebeneinander her.

      Stille ringsum. Nur der Roué pfiff leise vor sich hin und lächelte, ein greiser, müde gewordener Mephisto. Wozu sich auch aufregen und ärgern und sorgen? » Pas de zèle!« hatte ihm Talleyrand aus dem Herzen gesprochen. Es ging ja alles hin, die ganze Erde wie dies kleine, seit Jahrhunderten in Wodensteins Mauern absterbende und sich erneuernde Häuflein wappentragender Menschen. Draußen raschelte der Efeu, die Wanduhr tickte, und in ihren Schlägen klang dem verwelkten Boulevardier immer wieder eintönig das alte Wort: » Tout passe – tout lasse – tout casse...«

      Auch dies Geschlecht! Der alte Stamm hatte seine Kräfte aufgezehrt. Was jetzt noch von ihm fiel, war taube Frucht.

      Aber schließlich – noch war das Ende ja nicht da!

      Es klopfte ungestüm mit dem Fuß an die Türe, der Diener flog, sie zu öffnen, und die drei Grauköpfe schauten gleichzeitig mit einem neugierigen, nachsichtigen Lächeln nach dem Eingang, der jungen Jägerin zu, die lachend, mit geröteten Wangen, ihr Kind in beiden Armen hoch emporhaltend, über die Schwelle trat.

      »Guten Morgen!« rief sie. »Seid ihr wirklich schon alle auf? Ich bin seit zwei Uhr aus dem Bett und draußen in den Bergen und habe einen Auerhahn geschossen, einen Kerl von gewiß zehn Pfund...«

      »Bei dem Wetter?« fragte aufstehend der General.

      »Herrlich war's draußen! Ich hab' den Sturm gern. Einen schönen Gruß vom Frühling, und er wär' unterwegs!«

      Sie setzte den Kleinen zu Boden und schüttelte sich, daß die Wassertropfen sprühten. Ein kalter frischer Waldhauch ging von ihr aus, und an der Stelle, wo sie stand, lagen ein paar welke Blätter und Tannennadeln am Boden.

      »Da!« sagte sie herausfordernd und deutete auf den Fichtenzweig an ihrer Mütze, die sie unbekümmert auf dem Kopf behielt. »Das Siegeszeichen! Wegmann hat es mir ritterlich überreicht und behauptet, ich gäbe einen kompletten Wilderer ab! Muffig ist's bei euch im Zimmer, wenn man so von draußen kommt! Komm, Wulfi – geh herum und sag Guten Tag! Nachher wirst du gleich ins Bett spediert, mein Schatz!«

      Sie führte den Kleinen herum. Der alte Roué zog ihn vorsichtig, wie einen kostbaren unbekannten Gegenstand, zu sich heran und tätschelte ihm das seidene Haar, während ein gutmütiges Lächeln um die ausgemergelten, von dem schwarzglänzenden Schnurrbart beschatteten Lippen bis hinauf zu den Krähenfüßen an den ergrauten Schläfen zwinkerte. Weib und Kind! Ihm, dem Pariser Klubmann, war das Zeit seines Lebens eine Art Schreckgespenst, das unvermeidliche Anhängsel der »guten Partie«, mit der man seine zerrütteten Finanzen schließlich ordnet. Gottlob, daß er diesem Schicksal entgangen! Aber im tiefsten Herzen regte sich in ihm doch jetzt, wo er siech und alt war, eine ärgerliche Reue, wenn durch die toten Schloßräume das zärtliche Lallen und die kosenden, kindischen Mutterworte klangen – das gähnende, öde Gefühl eines verlorenen Gebens.

      Weib und Kind! – Dem alten Priester neben ihm war das ein leerer Schall. Er hatte es nie anders aus der Nähe gesehen als auf dem Bilde der Madonna mit dem Knäblein, und etwas von dieser ewigen allgegenwärtigen Schönheit schien ihm menschgeworden in der schlanken jungfräulichen Gestalt da drüben und dem Blondkopf, den ihre weißen Hände mütterlich geleiteten.

      Weib und Kind – der dritte der Brüder, der General, sah stumm vor sich auf das Band des Eisernen Kreuzes in der Klappe seines schlichten schwarzen Rockes nieder. Tausende und Abertausende hatte an jenen blutigen Augusttagen von 1870 der Tod dahingerafft. Doch an ihm war er vorbeigegangen – an ihm, der ihn suchte, weil ihn nach dem Verlust seiner Lieben nichts mehr an die Welt fesselte, und hatte ihn dem langen, einsamen Leben überlassen.

      Nun war Vera mit dem Kleinen bei ihrem Mann angelangt. Graf Pius strich zerstreut mit der Linken über das Haupt des Kindes. Die beiden sahen sich schweigend an. Dann stand er auf.

      »Gehst du schon auf die Tigerjagd?« fragte sie, und ein kaum versteckter Spott kräuselte ihre Lippen. Der trotzige Ausdruck, den ihr Antlitz vor dem Betreten des Zimmers getragen, trat wieder kampfbereit hervor.

      Er errötete leicht, wie immer, wenn sie ihn in letzter Zeit fest anschaute.

      »Ich gehe das Damwild füttern,« sagte er. »Wegmann ist doch da?«

      »Ja. Übrigens ...


Скачать книгу