Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz

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Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays - Rudolf Stratz


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lag halb oder ganz in Trümmern, seit es erst im großen Bauernaufstand, dann wieder im Dreißigjährigen Krieg zweimal eingeäschert worden war und lange Zeit hindurch der Umgegend als Steinbruch gedient hatte. War doch drüben im Grenzhof noch ein Quaderblock mit dem alten Wappen der Wodenstein, den drei grimmen Wisentköpfen, eingemauert. Und noch jetzt tönte in stürmischen Nächten, zumal bei eintretendem Tauwetter, von irgendwoher wohl ein dumpfes Poltern und Kollern und verriet, daß wieder ein Stück des ewigen Schlosses in sich niedergebrochen war. Ja, es galt schon für gefährlich, den seit undenklichen Zeiten ragenden Riesenbau des Bergfrieds zu besteigen.

      Die Erben der Vergangenheit hatten auch so gut wie nichts getan, um die Zerstörung aufzuhalten. Nur der Zopfbau aus dem vorigen Jahrhundert, der jetzt, mit beiden Flügeln an die zerfallene Burgfeste sich lehnend, allein als Wohnung diente, war ihr Werk, Sonst ging ringsum langsam, unerbittlich, im Rollen der Jahre und Jahrhunderte der Zerfall seinen Gang, kein jäher Eingriff mehr durch Blitzschlag oder Feindeshand, nein, ein müdes Modern, wie das Geschlecht selbst immer schattenhafter wurde und abstarb – dies Geschlecht der kriegerischen Abenteurer, der Kirchenfürsten und messalinenhaft lächelnden gepuderten Schönheiten oben an den Wänden, dessen jetziger Vertreter seine Hauptbeschäftigung während des Tages darin fand, die Damkühe und Karpfen zu füttern, in seinem Briefmarkenalbum zu kramen und des Abends auf der Zither den letzten Straußschen Walzer zu klimpern.

      Der Regen rauschte stärker. Der Roué fröstelte. Er hemmte plötzlich seinen Gang. »Genug jetzt!« sagte er. »Ich steige hinauf ins Archiv. An einem so trüben Tag wie heute muß ich zeitig anfangen. Denn sowie es dämmert, können meine alten Augen diese Krakelfüße aus dem sechzehnten Jahrhundert doch nicht mehr entziffern.«

      Der Militär lächelte. Er nahm die Studien des gelangweilten Lebemannes nicht recht ernst. »Also im sechzehnten Jahrhundert bist du doch schon?« fragte er zerstreut.

      »Ja. Bei dem Bericht Eitelwolfs IV. über die Erstürmung Roms durch den Connetable. Du weißt ... Eitelwolf führte einen Teil der deutschen Landsknechte und wurde dabei schwer verwundet.«

      »Und kurz darauf starb er am Fieber«, brummte der General. »Beim Zuge Karls V. nach Algier.«

      »Das war doch sein zweiter Sohn!« Der Lebemann wurde eifrig. »Er selbst blieb doch schließlich in Rom tot und liegt da auch begraben. Und ebenso der älteste Sohn, der schwerkrank aus Palästina zurückkam. Ich glaube, daß ich noch Näheres darüber in der Zimmernschen Chronik finden werde.«

      »Lieber Gott ... wer kann das alles auseinander halten?« sagte der alte General, und ein gewisser Familienstolz klang jetzt doch durch seine hüstelnde und zitternde Stimme. »Ich glaube, es gibt überhaupt kein Schlachtfeld – von den Hohenstaufen bis Mars-la-Tour – wo nicht wenigstens ein bißchen von unserem Blut vergossen worden ist.«

      Der Pariser nickte und zog die gefärbten Augenbrauen hoch. »Kannst du dir vorstellen,« fragte er leise und eindringlich, »daß allein vom fünfzehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts siebzehn Wodenstein vor dem Feinde gefallen sind? Fast alles Marschälle, Landsknechtsführer, später Generale – kurz, stets in hohen Stellungen. Und zugleich haben wir in der Zeit noch zwei regierende geistliche Fürsten geliefert – einen in Speier und einen in Trier, von den Äbten und Prälaten gar nicht zu reden, und außerdem noch Gesandte des Heiligen Reichs in Venedig, Konstantinopel und Gott weiß wo.«

      Die beiden anderen Brüder lächelten still. Dem Soldaten wie dem Geistlichen schien es seltsam, daß gerade in diesem verwelschten Wüstling der Boulevards neben ihnen allein noch die Erinnerung und das Sicheinsfühlen mit dem ehrwürdigen Helden- und Priestergeschlecht lebendig war.

      »Du hast wohl recht!« sagte der Römer endlich, und man merkte wieder an dem weichen Tonfall und dem stockenden Fluß der Worte, wie schwer er sich, des Italienischen und Lateinischen gewohnt, in seine fremdartige Muttersprache fand. »Die Mauern hier haben ein Jahrtausend Weltgeschichte gesehen. Aber es ist vorbei. Für immer!«

      »Wieso? Ist unser Geschlecht etwa schon ausgestorben? Da gehen wir doch noch zu dritt spazieren, und da drinnen...«

      Der hagere Mann aus dem Vatikan blieb stehen und richtete sein geistvoll-müdes, bebrilltes Antlitz auf den Bruder. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

      »Wir gehen hier spazieren!« sagte er halblaut, in der schmeichelnden, beinahe singenden Klangfarbe des Romanischen. »Aber wie die Gespenster am Mittag. Eigentlich leben wir – ich meine die ehemaligen Grafen von Wodenstein – nicht mehr, sondern die drei Männer hier sind eben ein Militär, ein geistlicher Herr und ein ... ein ... Privatmann, die zufällig diesen Namen führen!«

      Der Lebemann überhörte absichtlich die letzte, gegen ihn gerichtete Spitze. Er war zu erregt über die allgemeine, paradoxe Behauptung seines Bruders. Die Röte stieg in seine welken Wangen ..

      »Dies Geschlecht ...« begann er. »Lieber Bruder ... verzeihe ... aber du leugnest da etwas, was uns allen heilig sein sollte ... Dies Geschlecht ...«

      Der Priester machte eine leichte Handbewegung, mit der er ihm, als sei das ganz selbstverständlich, Schweigen gebot. »Dies Geschlecht ist tot«, sagte er noch einmal. »Es hat keine Daseinsberechtigung mehr. Wir sind mit dem alten Reich zugrunde gegangen, wir von der Reichsritterschaft so gut wie die Mediatisierten, und hausen wie Mumien in der lebendigen Gegenwart. Die Generale und Priester, von denen du sprichst – die waren hier freie Herren. Sie erhoben die Steuern und Zölle und regierten ihr Land. Jetzt aber kommt in dies Schloß der Steuerbote so gut wie in die Hütte unten, der Gendarm auf der Straße kann uns arretieren wie jeden Handwerksburschen, denn wir sind vor dem Gesetze gleich. Wege-, Brücken-, Landespolizei hat man uns abgenommen, die besorgt der Kreisrat oder Oberamtmann, und unser einstiges Gebiet vertritt im neuen Reichstag zu Berlin, wie du weißt, ein antisemitischer Schneidermeister, der uns nie gesehen hat und sich den Kuckuck um uns kümmert!«

      »Ja – wenn du das so auffaßt!« sagte der Lebemann. Aber der andere ließ ihn nicht zu Worte kommen. Es war, als wolle er den Anlaß benutzen, um sich vor sich selbst wegen seiner Entfremdung gegenüber dem deutschen Vaterland und der engeren Stammesheimat zu rechtfertigen.

      »Wir haben keine Pflichten mehr!« fuhr er fort. »Ja, früher, wo wir Hunderte von Hörigen und Zinsbauern gegen Feinde, gegen Hungersnot und Seuchen schützen mußten –! Und weil wir keine Pflichten mehr gegen die Allgemeinheit haben, haben wir auch keine Rechte mehr, und wenn in dem Gebiet, wo wir einst Herren waren, der eben genannte Schneidermeister in den Reichstag gewählt wird, so gilt deine Stimme genau so viel oder so wenig wie die eines Stallknechts oder eines beliebigen Dorfidioten unten. Mit einem Worte: Unser Geschlecht ist ein Fossil. Es sitzt in einem Glaskasten, wie ein seltenes Geschöpf aus der Urzeit, und ist ebenso unnütz und tatenlos. Und darum,« schloß er und sah starr vor sich hin, daß die kalten Augen durch die Brillengläser funkelten ... »darum bin ich nach Rom gegangen.«

      »Und ich nach Potsdam!« ergänzte kurz der General.

      »Und ich nach Paris? Das gehört wohl auch noch dazu?« sagte der Lebemann frivol. Er wußte nicht recht, was er erwidern sollte. »Du ... du wirst doch nicht leugnen, daß wir immer noch eine Art Sonderstellung einnehmen ...«

      »Ich habe im Gefängnis gesessen«, sagte der Römer gleichgültig, und dem anderen fiel es ein, daß allerdings zur Zeit des heftigsten Kulturkampfs Gregorius Wodenstein wie andere widerspenstige Priester sechs Monate in Haft gewesen war. Der Gedanke erschreckte ihn doch, und er schwieg.

      Ein Windstoß umbrauste sie, daß der Mann aus dem Vatikan sich fröstelnd in seinen schwarzen Mantel hüllte. Er hatte heute mehr geredet als sonst in Wochen. Nun versank er wieder in seine gewöhnliche Schweigsamkeit. »Es ist vorbei!« wiederholte er nur noch einmal mit einem Lächeln um die schmalen Lippen. »Es ist vorbei! Wir sind tot!«

      Die anderen waren mit ihm stehen geblieben und schauten über die bröcklige Mauer hinab ins Tal. Ein heller, herrischer Laut klang von unten – die Fabrikglocke, die die Frühstücksstunde anzeigte. Das Gebäude selbst konnte man von hier nicht sehen. Ein in Trümmer gefallenes Vorwerk des Schlosses lag auf halber Berghöhe dazwischen, ein zur Flankierung etwaiger Angreifer dienender dicker, runder Turm, den die Wodensteiner bei einer


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