Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz

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Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays - Rudolf Stratz


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war das Gedächtnis an jene Zeit geschwunden, da hier flachsmähnige riesige Germanen zum erstenmal ihren ungeschlachten Ringwall aus Feldsteinen aufgetürmt, da später die siegreichen römischen Legionen daraus eines ihrer festen Kastelle geschaffen hatten – Wunderwerke in Sumpf und Wald, vor denen die Barbaren in düsterem Grauen standen. Dann waren die Mannen des Cäsar im Staub verweht, die Völker wanderten, wieder hausten in dem verwüsteten Gemäuer gleich gierigen Wölfen alemannische Edelinge, die sich der Abstammung von Wodan, dem Herrn des Wodenwaldes, rühmten. Und mählich entstanden neue Türme und Mauern. Welsche Männer in härenen Kutten wiesen dem Häuptling Plan und Maß und führten ihn eines Tages hinab zum Bach, daß er sich taufen lasse und dem Kloster Lorsch an der Bergstraße für immer Treue und Lehnspflicht gelobe.

      Und weiter rollten die Zeiten. Sie sahen die Herren von Wodenstein aus dem immer fester gediehenen Schlosse mit andächtig erhobenen Armen zum Kreuzzug in das gelobte Land reiten und ihre Nachkommen in endlosem Schädelspalten mit ihresgleichen und den Städtern mit Trunk und Sauhatz ihre Tage vertun, sie sahen das Geschlecht sich immer über neue Schlösser und Burgen im Odenwald ausbreiten, bis der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges alles zu Asche brannte und seine Kraft und Größe für immer brach; sie sahen es seitdem immer matter und schlaffer werden und endlich still und wunschlos dahinträumen, von einem Jahrhundert in das andere, im gleichgültigen Rollen der Generationen durch den efeuumsponnenen, weltverlorenen Bergsitz.

      Bis dann endlich doch die neue Zeit kam ...

      Erst wenige Männer in Wasserstiefeln und Schlapphüten, von lattentragenden Gehilfen begleitet, die an den Hängen auf und nieder stiegen und maßen und rechneten, daß die Hirschkühe in dröhnenden Sprüngen bergaufwärts flohen und die Wildkatze sich mißtrauisch im Buchenwipfel verbarg – dann Arbeiter zu Dutzenden und zu Hunderten, derbe, rauflustige Bayern, kauderwelschende Italiener, selbst Polen und anderes Volk, das man nie in diesem Erdenwinkel geschaut. Da ward es lebendig in der stillen Waldwelt. Die Axt krachte und würgte unter den Baumriesen, Schutt und Geröll häuften sich auf dem sammetgrünen Grund des Wiesentals, es dröhnte dumpf in den Eingeweiden der Berge, und Pulverdampf quoll aus ihrem geöffneten Schlund. Allüberall begann es zu hämmern und zu pochen. Zwei schmale Eisenstreifen auf einem endlos sich schlängelnden Erdkörper, um den, wie um eine tote Natter die Ameisen, geschäftig das schwarze Gewimmel der Arbeiter wogte, drangen unerbittlich vor. Sie glitten durch die Wälder hin, sie wühlten sich wie Maulwürfe durch das Innere des Sandsteins, sie flogen auf Steinpfeilern frei über die Schluchten. Nun waren sie bis dicht unter das Schloß gekommen, und von unten her sandte im Pfiff der Lokomotive das zwanzigste Jahrhundert seinen Gruß zu der ewigen Burg empor ...

      Der schrille Laut weckte die Jägerin aus ihrem Nachdenken. Sie richtete sich auf und schritt weiter, aber langsamer und weniger elastisch wie bisher. Sie wußte selbst nicht, warum seit einiger Zeit der Anblick des vermorschten Gemäuers von Wodenstein in ihr eine seltsame Schwermut erzeugte, ein Gefühl von Altern und Sterben und dann wieder eine Schwalbensehnsucht: Hinaus – hinaus in blaue Weite – solang' es Zeit ist! Hinaus in ein Land, wo die Sonne scheint, und die Menschen lachen und jung sind und leben!

      Von den Erkerzimmern da oben hatten wohl schon viele Schloßfrauen vor ihr hinuntergeschaut in das Tal, ob nicht endlich um die Ecke das Glück geritten kam – junge Edeldamen in schweren altdeutschen Gewändern, blasse Nonnen unter schwarzem Kopftuch, müde Greisinnen in der Witwenhaube; sie alle hatten nun, wenn nicht das Glück, doch den Frieden gefunden und lagen still in der Gruft unter steinernen Platten, auf denen die Fußtritte späterer Geschlechter schon halb die eingemeißelten Wappenzeichen, die verschnörkelten Tiere, die Balken und Streifen, die Sterne und Schwerter verwischt hatten.

      Wera war ernst geworden. Das immer gewaltiger aufsteigende Schloß kam ihr wie ein Kerker vor, der mit seinen dicken Quadern im Leben wie im Tod alles, was darin war, festhielt. Mit gesenktem Kopf eilte sie zwischen den alten Ulmen des Parks hin der Eingangspforte zu und trat in die dämmerige, mit Hirschgeweihen und verdunkelten Bildern geschmückte Treppenhalle.

      Und da verklärte plötzlich ein sonniges Mutterlächeln ihre Züge. »Wulfi!« jauchzte sie dem kleinen Blondkopf zu, der oben auf den Stufen stand, und stürmte hinauf, um ihn zu umfangen. »Wulfi, was machst du denn, mein Herz?«

      Der Kleine antwortete nichts und nahm auch nur wenig Anteil an den Liebkosungen seiner Mutter, die, in ihren nassen Jagdkleidern neben ihm kniend, die Flinte noch über der Schulter, nicht müde wurde, das blasse Gesichtchen zu küssen und die langen goldseidenen Locken zu streicheln. Seines stillen Wesens gewohnt, war sie eine Weile ganz in die Bewunderung ihres zweiten Selbst vertieft. Aber dann wurde sie doch etwas unruhig.

      »Was hat denn Wulfi heute?« fragte sie vom Boden aus das hinter ihr stehende Kinderfräulein. »Ich finde, Elise, er ist heute ganz besonders in sich gekehrt. Es fehlt ihm doch nichts?«

      Die Bonne, eine zarte hübsche Person mit feinen Zügen, fühlte sich, aus einem Lehrerhause stammend und von den Nonnen drüben im Taubergrund sorgfältig erzogen, als etwas »Besseres« und sprach im Verkehr mit ihrer Herrschaft immer ein leidliches Hochdeutsch. »Ich weiß nicht, Frau Gräfin!« sagte sie. »Mir gefällt der Kleine heute auch gar nicht.«

      »Hat er denn Appetit gehabt?«

      »Nein, Frau Gräfin. Er hat nicht einmal seine Milch trinken wollen. Und spielen auch nicht. Ich fürchte, er fiebert ein wenig.«

      Wera sprang auf und legte ihre Hand wie schützend um das Kind. »Ist schon nach dem Doktor geschickt?« fragte sie rasch.

      »Nein, Frau Gräfin.«

      »Aber, Elise – wie können Sie das unterlassen?«

      »Ich hab' ja schicken wollen, Frau Gräfin. Aber der Herr Graf hat gesagt: Nein! Man brauche den Doktor nicht immer für nichts und wieder nichts heraufholen zu lassen. Er liebe das nicht!«

      »So – das hat mein Mann gesagt?« Sie wandte sich ab, um vor der Dienerin den Ausdruck von Trotz und Hohn zu verbergen, der rasch wie eine Wolke über ihre Züge flog.

      »Ja – und dann hat der Herr Graf noch gesagt: Er glaube gar nicht, daß der Herr Doktor überhaupt was verstände. So ein Kassenarzt aus der Fabrik bringe höchstens die Leute um, und wenn es nötig sei, müsse man lieber anspannen lassen und über den Neckar herüber den Kreisphysikus aus der Stadt holen! – Jetzt, Frau Gräfin, wenn ich reden darf – ich meine, daß der Doktor unten viel mehr versteht wie der alte Physikus. Das meint jeder hier. Es kommt jeder zu ihm. Er hat doch eben erst ausgelernt, und der andere ist schon seit vierzig Jahren aus der Lehr' und sitzt im Wirtshaus und trinkt einen Schoppen übern andern aus ...«

      Ihre Herrin unterbrach den Redeschwall. Sie war wieder ganz ruhig. »Ich werde selbst mit meinem Manne reden!« sagte sie. »Ist er schon beim Frühstück?«

      »Jawohl! Auch die drei alten Herren sind da. Aber wissen denn Frau Gräfin schon von gestern abend – unten in der Fabrik?«

      »Hat es da wieder ein Unglück gegeben?«

      »Ja – die Frau von dem Maschinenmonteur ist in eine Luke gefallen ...«

      »Meine frühere Kammerjungfer?«

      »Jawohl, Frau Gräfin – und hat sich innerlich verletzt. Man hat sie gleich nach Hause gebracht, und der Doktor ist zu ihr.«

      »Und was sagt er denn?«

      »Es wäre nicht lebensgefährlich – aber fest liegen müsse sie ein paar Wochen.«

      Sie zog ihr Kind an sich und schüttelte mißmutig den Kopf. »Das kommt nun von den Liebesheiraten ...« sagte sie. »Eine Kammerjungfer bei mir hat es doch gut genug. Nein – da muß sie diesen Menschen, den Irion, heiraten – einen Menschen, der sicher noch im Gefängnis enden wird...«

      »Ach ja, Frau Gräfin – das ist einer von den ganz Roten. Mit dem ist's ein Kreuz! Aus dem Kriegerverein hat er auch herausgemußt. Jedesmal, wenn der Gendarm ins Dorf kommt, fragt er zuerst nach dem Irion...«

      »Nun eben! Und die arme Frau muß den ganzen Tag in der Fabrik an irgendeiner Maschine stehen! Das kommt davon! Übrigens, Elise – da fällt mir ein –« sie drehte sich


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