Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Gipfeln Europas, mit Monte Rosa, Dom und Matterhorn, befanden.
Plötzlich blieb der Prinz stehen, und die andern machten notgedrungen auch halt.
»Jetzt habe ich eine Idee!« sagte er düster und blickte zur Seite nieder, wo in der Höhe seines linken Knies ihm unter der weißen Gaze undeutlich ihr Gesicht entgegenschimmerte. »Eine Idee, Frau Angela!«
Ein Sturmstoß erfaßte sie. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung und kam mit dem einen Fuß aus dem Gleichgewicht. Franklin Moore, dessen Brust sich gerade vor ihrem Bergschuh befand, packte rasch zu, drehte den Absatz herum und stellte ihn wieder richtig in die Stufe.
»Vorwärts, Prinz!« schrie er durch den Wind an Angela vorbei in die Höhe. »Vorwärts, in drei Teufels Namen! Hier ist doch nicht der Ort, sich Geschichten zu erzählen!«
Aber wenn dem Hünen einmal etwas im Kopf saß, hätte man es ebensogut einem Bullen durch gütliches Zureden austreiben können wie ihm. Er regte keinen Fuß.
»Hier ist der Ort,« verkündete er düster und schaute, auf seine Eisaxt gestützt, herab, »der Ort für meine Idee. Kurz und gut, Frau Angela – wollen Sie meine Frau werden?«
Die weiße Gestalt an seinem Knie sah schweigend zu ihm auf.
»Diese Frage ist an dieser Stelle und in dieser Höhe noch nie von einem Mann an ein Weib gerichtet worden«, fuhr der Riese befriedigt fort und bog sich wie die andern blinzelnd weit über den schmalen Grat, um einem Anprall des Windes zu begegnen. »Sie ist durchaus neu! Also müssen Sie ja sagen! Nein sagen können Sie nicht. Dieser glattrasierte Massenmörder aus Transvaal, den ich da hinter Ihnen am Seile schleppe, hat mich selbst gestern abend darauf aufmerksam gemacht, daß ich, wenn ich falle. Sie beide mit mir nehme ... nach dem Gesetz der Schwere, Frau Angela!«
Die unter ihm blieb stumm. Aber unwillkürlich klammerte sie sich mit einer Hand an seinem Knie fest.
»Wenn Sie jetzt trotzdem nein sagen, dann gerate ich in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Dann trete ich aus reinem Gram plötzlich links daneben ...«
»Well!« Franklin Moore lachte unten herzlich los. »Passen Sie auf, Frau Angela! Im selben Augenblick treten wir beide rechts daneben! Dann ist das Gleichgewicht wieder hergestellt. Die eine Hälfte der Partie hängt rechts in Italien, die andere links in Frankreich!«
»Lachen Sie nicht!« gebot der Hüne zornig. »Die Sache ist Ernst!«
Aber der Yankee faßte sie heiter auf. »Zwicken Sie sie ihn ein bißchen ins Bein, daß er weitergeht!« riet er. »Es ist zwar eine sonderbare Antwort auf einen Heiratsantrag, aber wer Ort und Zeit so wunderlich wählt, darf sich nicht beklagen, wenn man auf seine Eigenart eingeht.«
»Frau Angela ...«, begann der Recke von neuem. »Es gibt ein Unglück ...«
»Es gibt kein Unglück!« schrie der Yankee von unten fröhlich im Winde. »Keine Angst! Glauben Sie, dieser Koloß von Mensch hätte die Nerven, absichtlich fehlzutreten? Das kann ich nicht einmal! Das kann keiner von uns! Vorwärts, Frau Angela ...«
Jetzt lachte es auch unter den Gazeschleiern leise auf. Der Prinz zuckte zusammen und machte ein wütendes Gesicht.
»Er hat eine Idee!« sagte der Yankee trocken. »Zum ersten- und letztenmal in seinem Dasein. Das bekommt solchen Fossilien nicht. Wenn Sie ihn nicht zwicken wollen, Frau Angela, so setzen Sie einfach Ihren Fuß in seine Stufe. Für zwei Schuhe ist nicht Raum. Also muß er als Gentleman Ihnen Platz machen. Sehen Sie ... es hilft. Da steigt er ganz artig weiter. Wie geht's, Herr? Ist der Anfall vorüber?«
Aber der andere antwortete nicht, sondern klomm zornmütig in so raschen Schritten empor, daß ihn die beiden Genossen am Seil zurückhalten mußten. Er wandte sich nicht nach ihnen um, sondern zuckte nur mißmutig die Achseln, und seine langen Schnurrbartenden flatterten zu beiden Seiten des Kopfes in dem jetzt von der Höhe herabstürmenden eisigen Winde, der die Tränen in die Augen trieb und die Finger erstarrte.
Nun hatten sie diese Höhe erreicht. Vor ihnen lag, in immer neuen Schneehügeln und Firndächern sich übereinanderwölbend, ein zerrissenes, wie von Riesenhand hingeschleudertes weißes Chaos, das letzte Gebiet des Montblanc. Wo es endete, war nicht zu erkennen. Immer neue blendende Wälle, glitzernde Schluchten, spiegelnde Eisflächen tauchten hinter den erklommenen Punkten empor und erstreckten sich weiterhin in dem weißlichen Nebeldampf des Himmels.
Vorsichtig, auf den Eispickel und das linke Knie gestützt, den rechten Fuß tastend in dem Schnee abwärts geschoben und mit dem ganzen Körpergewicht auf der Bergseite ruhend, schoben sie sich an der Flanke des zweiten, des »kleinen« Dromedarhöckers hart unter dem Kamm an einer schmalen Schneewand hin, die sich wenige Fuß unter ihnen in das Unermeßliche verlor. Weitere Schwierigkeiten gab es jetzt bis zur Spitze nicht mehr. Ohne Gefahr suchte der geübte Fuß in der frosterstarrten Hügel- und Tälerwelt des breit sich auftürmenden Montblancrückens seinen Weg aufwärts, immer weiter aufwärts in der Kette von Eiswällen, die, des Wanderers spottend, rastlos neu vor ihm aus dem Firn zu wachsen schienen, wenn er sie eben erst keuchend überwunden.
Die Atemlosigkeit – das war das Schlimme! Es war keine Luft mehr, was die lechzenden Lungen einzogen, es war etwas eisig Dünnes, etwas, was die Brust zugleich leer ließ und erkältete. Etwas Feindseliges, das dem ganzen Leib die Spannkraft nahm. Die Muskeln begannen zu trotzen. Sie taten nur noch widerwillig, zögernd ihre Pflicht, und immer häufiger mußten die Touristen, im Schnee liegend, rasten und warten, bis wieder etwas Luft im Brustkasten und Federstärke in den Beinen sich einstellte.
Kampflustig sprangen sie dann auf. Aber nach wenigen Schritten war die bleierne Müdigkeit, das Lechzen nach Luft wieder da. Wieder mußte haltgemacht werden, wieder hoben und senkten sich die breiten Rippen des Prinzen wie eine mächtig arbeitende Dampfmaschine, wieder zitterte es vor Ermattung unter den weißen Schleiern und trocknete sich der Yankee mit mephistophelischem Lächeln das aus Nase und Ohren tretende Blut – dann wieder ein Ruck am Seil – weiter – weiter! Sie wußten es ja: wenn die Muskeln sich noch so widerspenstig weigern, ihre Kraft herzugeben, so haben sie doch noch jeden, der wollen konnte, bis zum Ziel getragen.
Und da vor ihnen lief, über Schneehalden und Firndächer, zwischen Eistrümmern und frostigen Tälern die Fußspur ihres Vorgängers und zeigte ihnen den Weg, den er, der einzelne, zäh und rastlos verfolgte.
25.
Der da oben wandelte schon im Licht. Die dämmernden Sonnenwellen grüßten ihn mit ihrem schmeichelnd warmen Gold, und allgemach hob sich rings um ihn Europa aus der Nacht des Schlafes, aus Nebel und Grauen empor zum Morgenglanz. Sonnenaufgang auf dem Gipfel des Montblanc ...
Schon waren die Sterne oben am Firmament erloschen, dessen Aschfarbe immer mehr in einem unergründlichen schmelzenden Blaßblau verschwamm. Nur der Morgenstern funkelte noch trotzig nieder, ein goldenes Juwel, aus dessen Rändern in unruhigem Spiel die Lichtzacken schossen und zurückzuckten. Aber bald erstarb auch er, der Tag war Sieger.
Noch stand die Sonne tief im Osten, hinter dem Engadin. Aber es wurde hell von Österreich her, von Deutschland und der Schweiz. Hell wie in dem Chaos, von dem das Bibelwort spricht: »Und die Erde war wüst und leer!« Ein unermeßliches Nebelmeer, so weit das Auge reichte – eine graue leblose Sintflut, wie wenn auf hoher See Windstille ein Schiff umfängt und die Nußschale still daliegt, über sich den Himmel, ringsum die ungeheure Weite.
Aber hier waren Inseln ringsumher! In trotzigen Zacken schoß es überall in der Runde aus dem wesenlosen Schweigen zum Licht empor, in wildgeformten, schneegeströmten Klippen und firnüberpuderten Wellenlinien, deren reines Weiß sich allmählich, der grauen Grämlichkeit der Täler spottend, mit einem heiter lächelnden Rosenrot übergoß.
Die Sonne war nah! Auf den höchsten Gipfeln Europas entzündete sie ihr Licht, auflodernde Strahlenbüschel, die der Hochwelt das Kommen der Gebieterin meldeten. Überall blitzte es auf. Es legte sich in glühenden Leisten von