Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.jener liebliche Lenz, von dem die Lieder singen, mit Blaublümelein und Lämmergehüpfe auf grünen Wiesen – nein, als das unheimliche, gewaltige Rätsel, das jedes Jahr sich erneut, wenn die Erde ihre Opfer zurückgibt, wenn der Tod lebendig wird, wenn überall ein unbegreifliches Leben, eine grimme, rücksichtslose Daseinsfreude sich lachend aus dem Schoß der Tiefen nach Luft und Licht emporringt.
Der Sturm, der da donnernd durch den Bergwald ging, hier eine Rieseneiche vor sich niederkrachen ließ, dort einen Abhang von Stangenholz gleichgültig wie ein Spielzeug umwarf, das Schäumen der Wildwasser, die in langen Silberstreifen niederschossen und da und dort in milchig kochenden Strudeln wie zurückgebliebene Schneeflecken durch das laublose Geäst des Hochwalds blinkten, die eilends am Himmel fliegenden Wolken, klagender Raubvogelschrei aus unbekannten Höhen – das alles war ein einziges brünstiges Aufschauern der Natur, ein Wehen und Werden, ein Drängen und Treiben zu neuem Leben und zu neuem Tode.
Sie atmete tief auf. In ihrer Seele schwang das alles mit, Sturm, Bangen und Ringen der erwachenden Erde.
»Welchen Tag haben wir heute, Wegmann?« fragte sie plötzlich.
»Den einundzwanzigsten März, Frau Gräfin!«
Die Tag- und Nachtgleiche! Frühlings Anfang! Sie blieb einen Augenblick stehen und schaute um sich. Es war jetzt, während sie auf einem beschwerlichen Holzpfad langsam bergabwärts stiegen, voller Tag geworden. Grau und warm. Der Regen sprühte unregelmäßig, wie der Südwest ihn trieb, über den rauschenden Wald. Rings dampfte alles von Feuchtigkeit und spann sich in weißem Spinngewebe von einem kahlen Baum zum anderen. Auf jedem Zweig, auf jedem Grashalm perlte das befruchtende Naß und immer neue Wolken zogen fern von der unsichtbaren Rheinebene her, um neue Fluten auszugießen.
»Was hat denn mein Mann heute mit Ihnen vor?«
»Ich denk', der Herr Graf geht uff'n Mittag mit mir 'naus, 's Damwild und die Karpfe im Park zu füttere! Sell macht dem Herrn Grafe so viel Bläsier!«
»Sagen Sie 'mal: schießt er denn wirklich niemals auf ein Tier?«
»Ah bah, Frau Gräfin! Dees widersteht dem Herrn Grafen. M'r hawwe ja die Gewehre mit, damit wir net ausgelacht werre, aber gelade sin sie net. Der Herr Graf hot's verbotte! Wie oft hawwe m'r uns scho an e Hersch angebürscht oder die Rehböck' beim Blatte anschpringe lasse und hawwe se uns angeschaut und nach 'ere Weil' in die Händ' geklatscht. Do hawwe se gemacht, daß se wegkumme sind. Awwer ich mein', sie kenne uns bald schon und bleibe stehe und denke sich: ›Du klatschst mir lang gut!‹ ...«
Sie ging weiter und betrachtete mit verstohlenem Triumph den Auerhahn, der auf dem Rücken des vorausschreitenden Jägers schaukelte. »Glauben sie denn auch, Wegmann,« fragte sie, »daß es nicht recht ist, solch einen Vogel zu schießen?«
Der schwarze Jäger räusperte sich. »Do möcht' ich net dischkoriere, Frau Gräfin!« sagte er nach kurzem Überlegen diplomatisch. »Ich schieß' und ich schieß' net, wie mir's geheiße wird.«
»Und wenn Sie die Wahl hätten?«
Da drehte er den Kopf herum und zeigte die Zähne. »Zehn Auerhähn' tät' ich schieße, Frau Gräfin, fuffzig. Soviel 's 'ere hot. Dazu sind die Schoote da!«
Sie stimmte unwillkürlich in seine Heiterkeit ein, mit einem hellen kraftvollen Lachen, das gut zu den kühnen Linien ihres Gesichtes stand. Aber dann fiel ihr ein, daß sie sich ja eigentlich mit dem Büchsenspanner gegen die Meinung ihres eigenen Gatten verbündete, und sie wurde wieder ernst, wenn es auch zuweilen noch um ihre Mundwinkel zuckte.
»Ja, wir sind nun einmal die einzigen Mörder hier im Walde, Wegmann!« sagte sie nach längerem Schweigen in zerknirschtem Ton.
»Ja, wenn dees wär', Frau Gräfin! Awwer 's is net. Die Wilderer treibe 's bees. Do möcht' m'r zehn Füß' hawwe, um hinner dene herzusein.«
»Da sind natürlich wieder die Leute vom Grenzhof an der Spitze?«
»Dees sind die Aergschte, Frau Gräfin. Besonders der hergeloffene Franzos, der Bazaine! Die denke: ›Wenn der Herr Graf net schießt, no schieße wir!‹ Ich haww's dem Herrn Grafe schon oft gesagt. Heut will er jetzt 'mal hin uff den Grenzhof und mit 'em Stabhalter redde. Awwer ob's helfe werd ...?«
»Selber muß man sich helfen, Wegmann!« sagte die junge Jägerin, warf mit einem energischen Ruck das Gewehr auf die andere Schulter und verdoppelte, sich wohlig im Regen schüttelnd, ihren Schritt. »Wenn ich ein Mann wäre, ... Herrgott ... ich legte denen am Grenzhof das Handwerk. Und überhaupt ...«
»Jo ... überhaupt ...« sprach der schwarze Jäger vor sich hin. Aber er wagte den Satz nicht zu vollenden.
Wieder gingen sie eine Weile stumm durch den immer stärker strömenden Regen.
»Also morgen wird die Eisenbahn unten eröffnet?« fragte sie endlich, um die Langeweile des Wegs zu kürzen.
»Morge um zehn Uhr, Frau Gräfin! 's is e großes Fescht! Die Fawrik gibt auch frei.«
»Die Eisenbahn ist von Nutzen für die Fabrik – was?«
»Dees will ich meine, Frau Gräfin. Die Fawrik is ja norr desweege hierher gebaut worre. Und dees rentiert sich, Frau Gräfin. Dees sieht m'r jetzt schon!«
»Und sagen Sie mal – ich verstehe davon nichts – könnten nicht auch wir – ich meine die Gutsverwaltung auf dem Schloß, das doch jetzt dicht an der Eisenbahn liegt, daraus Nutzen ziehen?«
»Aus der Eisebahn? – Sell wohl, Frau Gräfin! Ich hör' ja, was so die Leut' hin und her redde – im Wirtshaus oder annerswo ... M'r muß bloß die Holzhändler höre, Frau Gräfin! Was schteckt e Geld in dene Wälder – sage die. Wann m'r jetzt den Hochwald schlägt und Eichenschälung anpflanzt – für die Gerbereien, ... awwer's gehört halt Lust dazu. Wann ich jetzt mit dem Herrn Grafe ginge, do derft' ich gar net von so was zu redde anfange. Der Herr Graf und die alte Herre – die möge von der Fawrik und von der Eisenbahn nix höre und sehe.«
»Ja – ich weiß«, sagte sie kurz, und nach einer Weile setzte sie, als bereue sie es, über diese geschäftlichen Fragen mit dem Büchsenspanner gesprochen zu haben, hinzu: »Und die Herren haben ganz recht. Das alles mag anderswo passen! Aber hier bei uns nicht!«
»Jo, Frau Gräfin!« Der Jäger wechselte sofort seine Meinung. »Dees macht bloß Schmutz und Arweit – m'r sieht's ja do unne in der Fawrik – und die Auerhähn' – die sagte bald Adje, wann 'emol die Wirtschaft im Wald losgehn tät'.«
Sie erwiderte nichts. Die beiden waren jetzt aus dem Forst getreten. Vor ihnen öffnete sich das Tal mit seinen zerstreuten, weithingestreckten Hütten und Häusern des Dorfes und an dessen Endpunkt dem Sandsteinbau der Fabrik, die als ein rotleuchtender, ganz unwahrscheinlicher Riesenkasten funkelnagelneu in dem verlorenen Waldwinkel stand. Ihr hoher Schlot dünstete und ließ eine schwarze qualmende Rauchwolke sich schwer durch die Luft hinwälzen, dem ebenfalls wie aus der Schachtel gepackten blitzblanken Stationsgebäude zu, dem vorläufigen Endpunkte der Seitenbahn durch den Odenwald, deren Weiterführung durch einen Tunnel neben der Burg erst beginnen konnte, wenn der schwebende Prozeß mit dem Schloßherrn entschieden war.
Starr und ungefüg, ein grauer Riese, mit seinem verwetterten Turmgewirr der Zeit trotzend, mit seinen zerbröckelnden Mauern wie mit langen Spinnenarmen den Raum weithin umklammernd, stand da oben hoch über dem Tal und seinem Treiben Schloß Wodenstein.
Der Efeu umstrickte es von unten bis oben. Sein Zischeln und Surren im Winde war die ewige Musik für die Insassen wie für die Bewohner einer Insel das Rauschen der Wellen. Er war der bleibende Herr der Burg. Ihre Besitzer, die Grafen von Wodenstein, kamen und gingen. Oben in der Kapelle taufte man beim zitternden Klang des Glöckchens den Neugeborenen, unten in der Gruft bettete man bei dem gleichen, frommen Klagen vom Turm den müden Kämpen zur letzten Ruhe in den Steinsarg und meißelte immer wieder auf die Grabplatte: » Hic jacet Pius ab Wodenstein miles.« Der Efeu aber wucherte weiter. Mit seinen knotigen, haarigen Armen klammerte er sich von einer Fuge der altersmorschen Quadern in die andere und kroch immer höher empor, bis sein finsteres Grün alles umher, Türme, Zinnen und Mauern, umkleidete.