Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein

Читать онлайн книгу.

Geheimnis Fussball - Christoph Bausenwein


Скачать книгу
war alles etwas verwirrend. Den Mittelläufer konnte man noch identifizieren. „Der meint halt den Libero“, machte man sich klar – auch wenn das Team damals nicht eigentlich mit einem Libero spielte, sondern mit einem Ausputzer, der die Bälle hinten rausschlug und nie die Mittellinie überschritt; aber das war eben die Position Beckenbauers und der spielte „Libero“. Schwieriger war es mit den „Halbstürmern“. Rechts gab es einen Verteidiger, einen Läufer, einen Außenstürmer. Auch die Position des Spielmachers im zentralen Mittelfeld war bereits besetzt. Mir war ziemlich unklar, wo nun ich meinen Platz finden sollte, und ich lief daher mit dem unbestimmten Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, auf den Platz.

      Heute kann ich mir klarmachen, was passiert war. Der Trainer hatte die in den 1970er Jahren übliche Aufstellung des 4-3-3 überlappt mit dem traditionellen 2-3-5-„Pyramiden“-System und dabei Positionen aus beiden Systemen verteilt. Mit diesem alten System war der traditionsreiche Arbeiterverein SpVg (damals TuS) Nürnberg-Ost im Jahr 1932 vor 30.000 Zuschauern in Nürnberg mit einem 4:1 über Cottbus 1893 letzter Meister des Arbeiter-Turn- und Sportbundes geworden. Beim englischen Cupfinale von 1933, als die Spieler erstmals mit Rückennummern aufgelaufen waren, hatte man sie von hinten rechts bis vorne links so durchnummeriert: 2 (rechter Verteidiger), 3 (linker Verteidiger), 4 (rechter Läufer), 5 (Mittelläufer), 6 (linker Läufer), 7 (Rechtsaußen), 8 (Halbstürmer rechts), 9 (Mittelstürmer), 10 (Halbstürmer links), 11 (Linksaußen).

      Damit die Aufstellung des Trainers hätte funktionieren können, hätten wir mit zwölf statt mit zehn Feldspielern antreten müssen: Eben mit allen Positionen des 4-3-3 plus zwei Halbstürmern. Es ist davon aus-zugehen, dass unser Systemtheoretiker zwei Spielern doppelte Positionen gegeben oder aber zwei Positionen schlicht vergessen hat. Da relativ unwahrscheinlich ist, dass zwei Spieler ohne Murren sich auf „Doppelpositionen“ haben aufstellen lassen, muss er wohl zwei Positionen unbesetzt gelassen haben. Welche das waren, kann ich heute nicht mehr sagen. Ganz offensichtlich ist nur, sofern man regulär mit zehn Feldspielern antritt: Man kann nur entweder mit Läufern oder mit Halbstürmern spielen, wenn man zugleich vier Leute in der Abwehr haben will.

      Damals war mir das allerdings nicht auf Anhieb klar. So lief ich also, ein starker Läufer (im leichtathletischen Sinne), auf den Platz und suchte meine Position in Abstimmung mit dem nominierten Läufer. Das Problem löste sich dann überraschend schnell, als der Gegner im Angriff war. Jeder suchte sich einfach seinen Mann, und so kamen wir in der Defensive dann ganz gut zurecht. Wenn wir selbst in Ballbesitz waren, wurde es komplizierter. Da musste man sich von seinem Mann lösen, sich freilaufen, bestimmte Wege gehen, sich anbieten. Und wenn einer vorging, musste er sich mit dem Nachbarn absprechen, damit der sich dann zurückfallen ließ. Wir haben also immer aufeinander geachtet und sind viel gelaufen. Ich weiß nicht mehr, wie das Spiel ausging; nur so viel, dass wir uns jedenfalls nicht dramatisch blamiert haben.

      Eine der Erfahrungen, die ich aus diesem Spiel hätte mitnehmen können, ließe sich so formulieren: Das System ist nicht alles; es kommt vor allem darauf an, wie man sich auf dem Platz bewegt. Das war auch früher schon so, als man nicht, wie die Jugendmannschaft der SpVg Nürnberg Ost, in einem zwei-, sondern in einem eindeutigen System zu spielen pflegte. Der allseits geachtete Experte Willy Meisl formulierte 1928 die Ansicht, dass die „Passpyramide“ das „letztgültige“ System sei: Die Aufstellung des 2-3-5, so seine Meinung, „ist nicht vorgeschrieben und könnte daher durchaus geändert werden; aber sie wird es nicht, weil sie … sich als die zweckmäßigste erwiesen hat.“ Tatsächlich spielten noch in den 1930er Jahren fast alle mitteleuropäischen Teams nach diesem alten System mit Mittelläufer, obwohl Herbert Chapman in England den Fußball bereits mit dem W-M-System revolutioniert hatte. Einige Teams entwickelten im klassischen System einen sehr erfolgreichen Stil. In Schalke „kreiselte“ man, in Wien „scheiberlte“ man. Während die Schalker um den Ballverteiler und Ideengeber Fritz Szepan eher nüchtern und zielstrebig die Lücke suchten, neigten die Österreicher des „Wunderteams“ um den genialen Sindelar zu nicht immer effektiven, dafür aber dann besonders schönen Schnörkeln.

      Das Spielprinzip aber glich sich: Um den Mittelläufer in der Zentrale gruppierten sich die beiden Läufer sowie die beiden Halbstürmer und ließen den Ball zirkulieren; im entscheidenden Moment kam dann von einem dieser fünf Spieler der Steilpass auf die Stürmer.

      Auch beim 1. FC Nürnberg, der in den 1920er Jahren den deutschen Fußball mit seinem – manchmal, wie es hieß, zur „Überkombination“ neigenden – Flachpassspiel dominiert hatte, war es ähnlich zugegangen. Interessant ist nun, dass sich die genannten Teams im Spiel aus dem System sozusagen „herausspielen“ konnten. Die Nürnberger bewegten sich bei ihren oft noch recht gemächlich vorgetragenen Ballstafetten im Angriff bereits 1924 intuitiv in einer „W“-Formation. Darin zeigt sich: Die Aufstellung allein sagt noch nicht alles darüber aus, wie ein Team sich dann bewegt. Die Clubspieler hatten aus der Praxis Wege entwickelt, die sie theoretisch eigentlich noch gar nicht hätten kennen sollen. Vorne lauerten die drei Stürmer auf einer Linie; einige Meter dahinter agierten die Halbstürmer; noch einige Meter dahinter rückten die drei Läufer mit dem zentralen Ballverteiler Kalb auf. In der Offensive unterschied sich die Spielweise also gar nicht so sehr von dem, was Chapman später im W-M-System mit Arsenal praktizieren lassen würde.

      Als Otto Nerz in den 1930er Jahren das W-M-System in der deutschen Nationalmannschaft einführte, buhte das Publikum dennoch lautstark. Denn jetzt kam das defensive „M“ hinzu, das den Mittelläufer als zurückgezogenen Stopper in die Abwehr verdammte. Niemand wollte es verstehen, wie man den „besten Mann“ zum Manndecker machen konnte. Hans Kalb, ehemaliger Mittelläufer des 1. FC Nürnberg, wetterte gegen die „Dressur“, die das neue System dem Einzelnen abverlange: „Mit ihm richtet man die Individualisten – und jeder herausragende Sportler ist Individualist – wie Polizeihunde ab. Sport muss auch im Verband einer Mannschaft Vergnügen und Lebenslust sein. Mit dem System des Mauerns aber diktiere ich dem Dreh- und Angelpunkt einer Mannschaft: Mauert um jeden Preis, auf dass ihr ja nicht verliert!“

      Chapmans Motto war dem Kalb’schen völlig entgegengesetzt: „Wenn es uns gelingt, ein Tor zu verhindern, haben wir einen Punkt gewonnen. Schießen wir aber zudem ein Tor, dann haben wir beide Punkte.“ Chapman ging es, wie bereits geschildert wurde, in erster Linie um die Stärkung der Defensive. Es galt, die durch die neue Abseitsregel von 1925 entstandenen Lücken zu schließen, und zu diesem Zweck wurde der zentrale Aufbauspieler, der Mittelläufer, geopfert. Insofern ist Kalbs Kritik also verständlich; doch konnte man in Deutschland damals noch nicht sehen, welche offensiven Möglichkeiten das neue System bot. Denn anstelle des Mittelläufers gab es jetzt ja zwei Halbstürmer im offensiven Mittelfeld. Während der rechte etwas defensiver agierte, wurde der linke, der mit der späteren Nummer „10“, zum Spielmacher. Diese Rolle nahm im Team Arsenals der 1930er Jahre der herausragende Alex James ein, über den die meisten Angriffe vorgetragen wurden.

      Die im W-M-System angelegte und für die weitere Entwicklung des Fußballs entscheidende Neuerung waren aber weder Stopper noch Spielmacher, sondern ganz grundsätzlich die Etablierung des Mittelfeldes als eigener Bestandteil des Systems. Die beiden offensiv ausgerichteten Halbstürmer bildeten zusammen mit den defensiven Läufern ein „magisches Quadrat“. Dadurch eröffneten sich neue Spiel-Räume und ein zuvor nicht gekannter Variantenreichtum in der Spielanlage. In der pyramidalen Dreieck-Aufstellung lief der Spielaufbau immer über nur eine zentrale Figur in der Mitte. Das war durchschaubar, die Möglichkeiten waren begrenzt, außerdem blieben auf dem Platz viele unbespielte – sozusagen „leere“ – Flecken. Mit dem Mittelfeld-Quadrat aber hatte die Idee, das Feld in seiner ganzen Breite und Tiefe auszunutzen, Fuß gefasst. Stück für Stück konnten nun die im Fußball angelegten Kombinationsmöglichkeiten entwickelt werden. Kurz: Weniger die Erfindung des W-M-Systems selbst hatte den Fußball revolutioniert, sondern vielmehr die dadurch bewirkte Entdeckung des Raums. So setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass eine Mannschaft viel mehr erreichen konnte, wenn sich die Spieler nicht mehr auf fest vorgegebenen, sondern auf möglichst variablen Wegen bewegten. Die Aufstellungssituation zu Spielbeginn definierte immer weniger das gesamte Spielprinzip und reduzierte sich mehr und mehr zu einer Orientierungshilfe.

      Die Ungarn demonstrierten als Erste, was nun möglich geworden war. Am 25. November 1953 verlor England gegen Ungarn


Скачать книгу