Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein

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Geheimnis Fussball - Christoph Bausenwein


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wenn kein Treffer gelingt und der Gegner durch einen zufällig abgefälschten Ball zum Erfolg kommt. Beim Fußball kann daher auch weniger als bei anderen Spielen die reine Tordifferenz als zuverlässiger Leistungsindikator angesehen werden. Nicht selten gewinnt die schlechtere Mannschaft, und vor dem Anpfiff kann sich selbst der größte Außenseiter eine berechtigte Chance ausrechnen. Und so liegt denn auch hier ein wesentlicher Reiz des Spiels: Ein Gegner mag übermächtig erscheinen, das Schicksal kann sich immer für den „Kleinen“ entscheiden.

      Aus all dem ergibt sich das Resümee: Die Seltenheit der Treffer ist nicht als Torgeiz zu kritisieren, sondern als besonderer Torreiz zu begrüßen. In seiner Rarität ist der gelungene Torschuss eine Erfindung, um die alle anderen Sportarten den Fußball im Grunde nur beneiden können. Dass die Torquote beim Fußball genau in dem Bereich liegt, der die Spannung auf dem Gipfel halten kann, mag anfangs ein Zufall gewesen sein. Bedingt durch taktische Veränderungen hat es im Fußball immer wieder Phasen gegeben, in denen die Zahl der Treffer absank, gleichzeitig die der Unentschieden anstieg und damit die Spannung der Spiele nachließ. Meist konnte sich dann aber auch ohne größere Regeländerungen wieder eine Spannungsbalance einpendeln. Solange sich an den Regeln nichts Prinzipielles ändert, wird die „ideale“ Torquote von durchschnittlich drei Treffern pro Spiel die Richtschnur für spannenden Fußball bleiben.

      Für die geringe Trefferquote beim Fußball sorgen vor allem die Wächter zwischen den Pfosten. Die spezielle Position des Torhüters wurde 1871 geschaffen, als man das bis dahin übliche Stoppen des Balles mit der Hand zum Privileg des „letzten Mannes“ machte. Seitdem ist der Torwart der einzige Spieler seines Teams, der, sofern er fehlerlos bleibt, eine Niederlage verhindern kann. Damit er überhaupt eine Chance hat, das „zu null“ für seine Mannschaft zu retten, gelten für ihn Sonderregeln. Er darf nicht nur seine Hände benutzen, er soll es auch, er muss es sogar. Wäre er bei seinen Abwehrversuchen allein auf Füße und Kopf angewiesen, hätte er kaum eine Chance, seine Aufgabe mit Erfolg zu erfüllen. Denn das Tor ist riesig: zwei Pfosten, je 2,44 Meter hoch, und ein Querbalken, 7,32 Meter breit. Die Trefferfläche, fast so groß wie die Seite eines Reisebusses und größer als manches Wohnzimmer, beträgt 18 Quadratmeter. In dieses Rechteck soll der Ball hinein. 300 Fußbälle könnte es aufnehmen. Das sind unendlich viele Einschussmöglichkeiten, die der Torwart ganz allein verhindern muss. Wie groß das Tor dem Gegner erscheint, hängt jedoch unmittelbar von dem Mann ab, der es bewacht. Manchmal ist es groß wie ein Scheunentor, ein anderes Mal erscheint es den Stürmern so, als müssten sie den Ball in einer Streichholzschachtel unterbringen – je nachdem, ob ein zitterndes Nervenbündel zwischen den Pfosten steht oder ein souveräner Supermann.

      Der Torhüter ist immer die letzte Station auf dem Weg des Gegners zu einem Treffer. Dadurch wird er zum einzigen Spieler seines Teams, der ein Spiel ganz allein verlieren kann. Er kann eine hervorragende Partie liefern und ein Dutzend „Unhaltbare“ noch aus dem Eck fischen – wenn er beim 13. Schuss danebengreift, ist er dennoch der Depp. Jede gute Parade ist nur so gut wie die nächste gute Parade, denn gemessen wird der letzte Mann zuletzt nur daran, dass er keine Fehler macht. Das ist sein Schicksal, und nur selten wird er dafür gelobt, wenn er es meistert. Weil es die Tore sind, die ein Spiel entscheiden, werden verhinderte Tore kaum einmal erzählt. Im kollektiven Fußball-Gedächtnis sind in der Regel nur die Treffer verzeichnet, und an denen sind die Torhüter entweder nur als Statisten oder als Versager beteiligt. Oliver Kahn wurde bei der WM 2002 wegen seiner zahlreichen tollen Paraden zum besten Spieler des Turniers gewählt; man erinnert sich aber nicht an seine Glanztaten, sondern an seinen einzigen Fehler, mit dem er Ronaldo einen Treffer ermöglichte und damit die 0:2-Niederlage Deutschlands im Endspiel gegen Brasilien einleitete.

      Auch der Titan Kahn musste also am Ende des Turniers erfahren, dass selbst der beste Torhüter dazu verdammt ist, irgendwann einmal einen Fehler zu machen. Und diese unaufhebbare Verletzlichkeit des Torhüters sorgt für den anhaltenden Reiz des Fußballspiels. Man weiß, dass der Ball irgendwann reingehen muss, vielleicht nicht bei diesem Schuss, aber möglicherweise beim nächsten oder übernächsten. Somit ist der Torhüter nicht nur der wichtigste Mann seiner Mannschaft, sondern die zentrale Komponente in der Konstruktion des Fußballspiels. Weil er die Hände benutzen darf, ist er gegenüber dem Schützen zwar stark im Vorteil, aber auch nicht so übermächtig, dass die Trefferchance gegen null geht. Der Torwart hält das Spiel insgesamt in der Waage; und zugleich ist er selbst in jedem Match – weil jeder seiner Fehler unmittelbar bestraft wird – das Zünglein an derselben. Torhüter können so gut sein, wie sie wollen, ihr Schicksal ist es, dass sie immer wieder bezwungen werden. Nur schwer werden sie zu Helden, sehr leicht zu Versagern. Aber gerade deswegen ruht auf den Schultern der letzten Männer die Verantwortung für das Gelingen des Fußballspiels. Im Positiven wie im Negativen, mit grandiosen Taten genauso wie im tragischen Versagen, sind sie die Garanten dafür, dass die „schönste Nebensache der Welt“ funktioniert.

      Ganz offensichtlich ist die Größe des Tores derartig ideal auf das menschliche Vermögen ausgerichtet, einen mit dem Fuß getretenen oder aber einen „geköpften“ Ball zu fangen, dass Torerfolge zu Raritäten werden. Alles ist in der Relation zueinander so perfekt abgestimmt, dass Treffer jederzeit fallen können und zugleich selten genug bleiben, um höchst erregend zu wirken, wenn sie denn fallen. Niemand ist bislang auf die Idee gekommen, dem unbekannten Konstrukteur des Tores eine Hymne zu widmen. Es wäre nur zu berechtigt. Vielleicht ist die spannungsgeladene Torarmut aber nicht nur auf objektive Maße, sondern auch auf Psychologie zurückzuführen. Es ist nämlich anzunehmen, dass Stürmer immer dann, wenn sie ihren Blick zu sehr auf den Torwart und dessen Bewegungen richten, ungewollt diesen an- statt an ihm vorbei ins Tor hineinschießen. Soll der Torschuss gelingen, dann darf man sich von im Raum ausgezeichneten Punkten – wie eben dem Torwart, der listigerweise oft auch noch mit einem auffälligen Pullover ausgestattet ist – nicht ablenken lassen, sondern man muss cool und unberührt auf die „leeren“ Stellen zielen. Mit den Worten „Ich sah nur Loch!“ beschrieb einmal ein Schütze seinen Treffer und damit eine Kunst, die nur wenige beherrschen.

      Die Ergebnisse dieser Gesamtanalyse des Fußballspiels berechtigen zu einem ersten und vorläufigen Versuch, die Frage nach dem „Geheimnis Fußball“ zu beantworten. Mit einer gewissen Verwegenheit kann behauptet werden, dass der Fußball deswegen so viele Menschen begeistert, weil er schlicht und einfach das beste aller Spiele ist: weil er einfach zugänglich und zu verstehen ist; weil er dennoch immer abwechslungsreich, komplex und anspruchsvoll in seinem Ablauf bleibt; weil der Ball in seiner Eigenbewegung den Spielverlauf mitbestimmt; weil durch die Unzulänglichkeit der Füße anspruchsvolle Kunstfertigkeit und klägliches Misslingen so nahe beieinander liegen; weil das Spielfeld von jeder Mannschaft systematisch gegliedert wird und dennoch Raum für vielfältigste spontane Aktionen bietet; weil der Ball immer frei bleibt und daher ständig umstritten ist; schließlich, weil das Tor eine Rarität ist, deren Wert man gar nicht überschätzen kann.

      All dies braucht man nicht zu wissen, um nach dem entscheidenden Torschuss Freude und Beglückung oder Trauer und Niedergeschlagenheit zu empfinden, um die so lang angestaute Spannung zu entladen in grenzenlosem Jubel oder um sich in Tränen aufzulösen, die den ganzen Schmerz der Welt an die Oberfläche spülen. Es lässt sich kaum eine andere Sportart denken, in der ein einziges Tor eine nur annähernd vergleichbare Begeisterung – oder eben das Gegenteil – bewirken kann. Das deutsche Tor der Tore, jenes berühmte 3:2 gegen die hoch favorisierten, damals nahezu unschlagbar scheinenden Ungarn im Endspiel der WM von 1954, dieses Tor, das eine ganze Nation in einen Freudentaumel versetzte und noch 50 Jahre später in Deutschland eine Flut von Büchern und Feuilleton-Berichten verursachen und zum Thema eines großen Spielfilm werden sollte, dieses Tor konnte nur im Fußball fallen. Der große Held Helmut Rahn, der Schütze, erzählte hernach immer wieder in knappen Worten: „Ich zieh’ ab mit dem linken Fuß, und dat gibt so’n richtigen Aufsetzer. Wat dann passiert is, dat wisst ihr ja.“ So einfach kann man’s sehen. Man kann aber auch ein paar Worte mehr sagen.

      In seinem Buch über den „Chef Sepp Herberger“ ließ sich dessen verlängerter Arm auf dem Spielfeld, der deutsche Kapitän Fritz Walter, etwas ausführlicher aus: „Der ungarische Verteidiger Budzansky holte sich eine Vorlage, die ich Hans Schäfer zugedacht hatte. Der Kölner im Zweikampf! Seine Zähigkeit machte sich bezahlt. Nicht Budzansky, sondern Schäfer zog mit dem Ball davon. Ein paar Schritte. Weich und wunderschön


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