Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
Читать онлайн книгу.den Linienrichter befragen, ob der Ball die Linie überschritt oder nicht.“
Bis die Seele des deutschen Fußballfans das „dritte Tor“ endgültig verdaut hat, wird wohl noch eine Weile vergehen. Als die „Bild“-Zeitung im Oktober 1995 ihre Leser fragte, was sie am liebsten täten, wenn sie denn eine Zeitreise machen könnten, antwortete ein Herr Maier aus Castrop-Rauxel: „Ich möchte Linienrichter beim Wembley-Tor sein … und dem Schweizer Schiedsrichter Dienst sagen, Hursts Schuss war kein Tor!“ Zeitreisen gibt es aber leider nicht, und so wird sich auch Herr Maier damit abfinden müssen, dass das „Wembley-Tor“ zählt. Für immer. Somit bleibt nur zu konstatieren: Im Fußball ist (fast) alles möglich. Manchmal kann, wie beim Finale 1954, der weniger Gute gewinnen. Und manchmal kann sogar ein Tor entscheidend sein, das eigentlich gar keines war.
KAMPF
Fußball ist definiert als ein Kampfspiel zwischen zwei Mannschaften aus je elf Spielern. Zwar darf der Ball nicht gegriffen werden, und es wird nicht im eigentlichen Sinne um ihn gerauft, doch kommt ein Spieler ohne Kampf nicht zum Ballbesitz, und ohne Ballbesitz gibt es keine Chance auf einen Torerfolg. Zweikämpfe um den Ball werden von den Zuschauern als „packend“ erlebt und von den Journalisten oft als „rassig“ bezeichnet. Sie gehören zur Faszination des Spiels und haben etwas Mitreißendes, gleichwohl beinhalten sie immer die Versuchung zum Foulspiel bzw. das Risiko, eines zu begehen. Das war früher so, und es blieb auch so. „Eine Schattenseite dieses nützlichen Bewegungsspieles bleibt es, dass Drängen, Stoßen und Ringen dabei unvermeidlich sind und im Eifer zuweilen Ausschreitungen begangen werden“, schrieb der Verfasser eines Artikels im „Meyer-Lexikon“ von 1904. „Wenn du den Ball hast“, dozierte Franz Beckenbauer 1994, „kann der Gegner kein Tor schießen. Aber wenn du nur halbherzig hingehst, kriegst du den Ball nie.“ Beabsichtigt ist natürlich die Perfektion – „verletzen wollen wir niemanden“, so Beckenbauer. Auch das Foul und damit ein gegen das eigene Team verhängter Freistoß ist möglichst zu vermeiden. Im Eifer des Gefechts kann es aber zum Einsatz irregulärer Mittel kommen, in brenzligen Situationen wird das Foulspiel sogar bewusst in Kauf genommen. Um Schaden vom eigenen Team abzuwenden, wird die „Notbremse“ gezogen und der durchgebrochene Gegner von den Beinen geholt. Im Jahr 1980 bekannte Paul Breitner in seinem Buch „Ich will kein Vorbild sein“: „Bevor ich dem Gegner erlaube, ein Tor zu schießen, muss ich ihn mit allen Mitteln daran hindern – und wenn ich das nicht mit fairen Mitteln tun kann, dann muss ich das eben mit einem Foul tun. Lieber ein Freistoß als ein Tor. Wer das nicht offen zugibt, der lügt sich was vor – oder er ist kein Fußballer.“ In manchen Fällen wurde diese Ansicht noch gesteigert zum Vorsatz, den herausragenden Spieler des Gegners per Foulspiel gänzlich auszuschalten, das heißt: ihn so zu verletzen, dass er ausgewechselt werden muss.
Da ein Spiel nur dann unterbrochen wird, wenn der Ball ins Aus geht oder der Schiedsrichter einen Freistoß pfeift, können Fouls zu einem taktischen Mittel werden. Mit einem so genannten „taktischen Foul“ im Mittelfeld wird ein möglicherweise gefährlicher Angriff bereits im Ansatz verhindert. Zudem unterbricht die Provokation eines Freistoßes, der weit entfernt vom eigenen Tor erfolgt, den Spielfluss des Gegners und gibt dem eigenen Team Gelegenheit, Luft zu holen und sich wieder neu zu organisieren. Umgekehrt können aber auch die ballführenden Spieler ein Foul provozieren. Viele Stürmer nutzen die kleinste Berührung durch den angreifenden Verteidiger, um sich theatralisch fallen zu lassen. Besonders oft passiert das in Strafraumnähe, um einen Freistoß in torgefährlicher Entfernung herauszuholen. Andere heben sofort zur „Schwalbe“ ab, kaum dass sie die Strafraumgrenze überschritten haben, und provozieren so einen Elfmeter. Im Fußball spielt also die simulierte Gewalt mindestens genau so eine große Rolle wie die tatsächliche Gewalt.
Vor über zwei Jahrzehnten lösten brutale Szenen auf den Fußballplätzen eine lang andauernde Gewaltdiskussion aus. Keiner, der es am Fernseher gesehen hat, wird das üble Foul des deutschen Torhüters Toni Schumacher im Halbfinale der WM 1982 vergessen. Schumacher sprang dem heranstürmenden Franzosen Battiston mit der Hüfte voran entgegen, obwohl er keinerlei Aussicht hatte, den Ball zu erreichen; Battiston blieb mit Gehirnerschütterung, Halswirbelriss und drei ausgeschlagenen Zähnen liegen. Schumachers Untat waren in der Bundesliga drei weitere spektakuläre Fouls vorangegangen. 1979 trat der Schalker Manfred Drexler dem am Boden liegenden Münchner Kraus hinterrücks in den Rücken; Kraus, vorübergehend bewusstlos, erlitt eine schwere Wirbelsäulen- und Nierenprellung. 1980, im Bundesligaspiel zwischen Leverkusen und Frankfurt, holte der Leverkusener Gelsdorf den schnellen Koreaner Bum Kun Cha von den Beinen; Cha entging nur knapp der Invalidität (Lendenwirbelriss). 1981 zeigte der Bremer Siegmann – Trainer Rehhagel soll ihn dabei mit den Worten ermuntert haben: „Tritt dem L. in die Knochen, pack ihn dir“ – seinem Bielefelder Gegenspieler Lienen, wie man mit spitzen Stollen einen Oberschenkel auf 20 cm Länge aufschlitzen kann.
Die geschilderten Fouls fielen in eine Zeit, als grätschende Verteidiger wie Berti Vogts („der bissige Terrier“, Fußballer des Jahres 1979) und eisenharte Manndecker wie Karl-Heinz Förster („der Treter mit dem Engelsgesicht“, Fußballer des Jahres 1982) im deutschen Fußball die Szene beherrschten. Immer mehr Kritiker mahnten, dass solche primitiven Kampfhunde und Blutgrätscher das Fußballspiel kaputtmachen würden. Statistiker wollten erkennen, dass die erkennbar zunehmende Gewalt im Spiel unbedingt gestoppt werden müsse. In einer kriminologischen Untersuchung aus dem Jahr 1985 zur Körperverletzung bei Fußballspielen wurde die Verdoppelung der Platzverweise in der Bundesliga von der Saison 1982/83 auf die Saison 1983/84 (11 zu 21) als „Indiz für wachsende Härte und Brutalität im Kampf auf dem grünen Rasen“ gewertet. 1987 beklagten die Sportsoziologen Gunter A. Pilz und Wolfgang Wewer, dass auf den Fußballplätzen nur noch rücksichtsloses Erfolgsdenken herrsche und dies nicht nur zu einer Zunahme, sondern auch zu einer zunehmenden Tolerierung des Foulspiels geführt habe: „Taktische Fouls (z.B. Verhindern einer Torchance) werden nicht mehr als unfair, sondern als notwendig angesehen, gerechtfertigt und als ‚faire Fouls‘ akzeptiert.“
Die These, dass sich eine Sportmoral durchgesetzt hat, die Regelverletzungen im Interesse des sportlichen Erfolgs legitimiert, ließe sich durch weitere Platzverweis-Statistiken erhärten. Vergleicht man die Saison 1982/83 mit der Saison 1991/92 (11 zu 76), dann hat sich in einem Zeitraum von neun Jahren die Härte in der Bundesliga versiebenfacht! Doch die Zahlen täuschen. 40 der 76 Platzverweise von 1991/92 gingen auf das Konto der soeben eingeführten gelb-roten Karte, mit der ein bereits bestrafter Spieler, der nach einer weiteren mittelschweren Grobheit noch mal gelb erhielt, vom Platz musste. Eine weitere Steigerung auf den Rekordwert von 98 roten und gelb-roten Karten gab es 1994/95, als die FIFA das Verbot der „Grätsche“ einführte. Der Nationalspieler Wolfgang Rolff, kein Freund des sanften Spiels, gehörte damals zu den vielen, die den Verlust schmissiger Tacklings betrauerten: „So macht Fußball keinen Spaß mehr.“ Doch die Spieler gewöhnten sich daran. Die Zahl der Platzverweise fiel bereits in der Folgesaison und blieb seitdem relativ konstant (zwischen 60 und 80 pro Spielzeit).
Die Steigerung der Platzverweis-Quote im Lauf der 1980er Jahre ist signifikant. Gleichwohl kann sie eine Zunahme der Brutalität auf den Fußballplätzen nicht belegen und schon gar nicht, wie manche behaupteten, eine Tendenz zum Härterwerden der Auseinandersetzungen in der Gesellschaft überhaupt. Feststellen lässt sich lediglich, dass sich in dieser Zeit die Wahrnehmung der Gewalt änderte. Jedenfalls korrespondiert die Vermehrung und Differenzierung der Strafen auf dem Platz dem gleichzeitigen Bestreben, das Fußballspiel insgesamt von dem Geruch einer schmuddeligen, nur für Arbeiter und Proleten geeigneten Sache zu befreien. Während man die Profis zu einem zivilisierter und sauberer wirkenden Spiel anhielt, begann man damit, neue und schönere Stadien zu bauen, die Gewalttäter und Underdogs auf den Rängen hinauszutreiben und die saturierte Mittelschicht hereinzubitten. Im Ergebnis hatte man auf den Rängen und auf dem Rasen nicht mehr, sondern weniger Gewalt. Insofern muss dann die Zunahme der Platzverweise eher als Indiz für das Gegenteil herhalten, nämlich das Sanfter-Werden des Spiels.
Dereinst ging es auf den Fußballplätzen wesentlich härter zu. Und die „Fußball-Fachsprache“ hielt für den gewalttätigen Aspekt des Spiels eine Fülle von Ausdrücken bereit, die heute nur noch selten Verwendung