Das Monster im 5. Stock. Regina Mars

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Das Monster im 5. Stock - Regina Mars


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die Hausverwaltungsfrau mit beiden Händen an den Schultern. Grob. Silbern lackierte Krallen gruben sich in den cremefarbenen Blazer.

      »Ich brauche die Wohnung!« Speicheltropfen flogen. »Bitte, das ist die fünfundsechzigste Besichtigung und ich muss übermorgen ausziehen!«

      Die Hausverwaltungsfrau machte sich los. Schweiß glänzte auf ihrer faltenfreien Stirn.

      »Danke für Ihr Interesse«, sagte sie. »Aber ich muss alle Interessenten begutachten. Bitte legen Sie Ihre Bewerbungsunterlagen auf den Tisch dort und verlassen Sie die Wohnung, sobald Sie alle Zimmer besichtigt haben. Es nützt Ihnen nichts, sich mir vorzustellen. Ich bin nicht die, die entscheidet!«

      »Ja, aber Sie könnten doch ein gutes Wort für mich einlegen, oder?« Die Silberlackierte blickte flehend. »Das können Sie bestimmt.«

      »Nein, kann ich nicht.« Die Hausverwaltungsfrau straffte sich und betupfte ihren Hals. »Die Bewerbungsunterlagen. Auf den Tisch. Bitte.«

      Das funktionierte. Murrend schlichen die Massen durch die Wohnung, legten ihre Mappen auf den immer höher wachsenden Stapel und zogen weiter. Wie immer. Wastl sah, wie ein gutgekleideter Mann den Großteil des Stapels einsteckte, als gerade niemand anders schaute, und ihn in den Papierkorb im nächsten Flur warf. Unauffällig hob Wastl die Mappen heraus und legte sie zurück auf den Tisch. Seine drapierte er gleich obendrauf. Dann hätte er gehen können.

      Das ist deine letzte Chance. Mach was.

      Bewerbungssituationen waren ihm zuwider, aber er musste einfach etwas tun. Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte er an den Rucksack, der unter seinem Schreibtisch auf der Arbeit lag. Heute Morgen hatte er aus dem Hostel ausziehen müssen. Er hatte gedacht, dass ein Monat reichen würde, um in München ein Heim zu finden. Ein WG-Zimmer, eine eigene Wohnung. Irgendetwas. Aber alles, was er bisher vorzuweisen hatte, waren 87 Absagen und ein überzogenes Bankkonto. Also straffte er sich und ging auf die Hausverwaltungsfrau zu. Sie tippte auf ihr Handy ein. Ihre Körpersprache war so einladend wie ein stacheldrahtbewehrter Zaun mit Selbstschussanlage.

      »Servus.« Er räusperte sich.

      Sie brummte etwas Unbestimmtes und tippte weiter. Er konnte sie verstehen. Aber er war verzweifelt.

      »Ich wollt fragen, ob's … irgendetwas gibt, was man tun kann, um … Ich mein, was ist denn wirklich wichtig, um eine Wohnung zu bekommen? Ich versuch's schon seit vier Wochen und hab keinen Erfolg gehabt.«

      »Da geht es vielen wie Ihnen«, sagte sie und sah auf. »Trösten Sie sich, damit stehen Sie nicht alleine …« Sie zögerte. Ihr Blick scannte sein verzweifeltes Lächeln, die breiten Schultern in der billigen Jacke und die Haare, die keinen Friseur mehr gesehen hatten, seit er seine Heimat verlassen hatte. Interesse flammte in ihren hellen Augen auf. Eindeutiges Interesse. »Nun, es gibt einige Faktoren, die Ihre Bewerbung hervorheben könnten. Haben Sie einen Bürgen?«

      »Nein.« Der böse Kloß schnürte seinen Hals ab. Wie immer, wenn er sich daran erinnerte, wie allein er war.

      »Niemanden?« Eine perfekte Augenbraue hob sich. »Keine Onkel, Tanten … Großtanten?«

      »Nein«, sagte er. »Niemanden.«

      »Ah.« Ihr Mund wurde schmaler. »Aber die Kaution von 3300 Euro könnten Sie schon aufbringen?«

      »Da müsst ich um Ratenzahlung bitten.« Er versuchte es mit einem weiteren Lächeln. Doch er wusste, dass er verloren hatte. Das Licht hinter ihren Augen war erloschen.

      »Das sind leider keine guten Voraussetzungen.«

      »Ja, ich weiß.« Er seufzte. »Vielen Dank, trotzdem. Für die Auskünfte.«

      »Bitte, bitte.« Statt sich wieder ihrem Handy zuzuwenden, legte sie den Kopf schief und lächelte. Sie hatte kleine, scharfe Zähne. Wie ein Marder. »Hast du heute Abend Zeit? Kann ich Du sagen? Ich kann dir die Wohnung nicht geben, aber ich könnte dir helfen, deine Unterlagen etwas aufzupolieren. Um neun im Brotlos?«

      Wastls Hände wurden schwitzig. Das war eine Anmache, oder? Das war ganz bestimmt so ein … so ein Spruch mit den Unterlagen … Doch was, wenn sie ihm helfen konnte?

      Nein, sagte seine Mutter in seinem Hinterkopf. Auf sowas lass dich nicht ein, Wastl. Das bereust du nachher nur. Die nette Frau nutzt du nicht aus.

      »Oh, ich … ich muss spät arbeiten«, behauptete er, räusperte sich und flüchtete. Seine Wangen brannten. Daheim in Würzen hatte sich ab und zu mal eine für ihn interessiert, aber nie hatte eine Frau ihn so direkt eingeladen. Nicht, dass er das gewollt hatte. Deshalb war er ja in die Stadt gezogen. Um den blöden Fragen von seinen Freunden zu entgehen, die stets wissen wollten, wann er denn endlich eins der armen Mädels erhören würde. Würde er nämlich nicht. Würde er nicht können.

      Sobald ich eine Wohnung hab, geht's los, hatte er gedacht. Dann treff ich einen Kerl nach dem andren. Dann hol ich alles nach, was ich verpasst hab.

      Verpasst hatte er eine ganze Menge. All die heimlichen Knutschereien beim Scheunenfest, hinterm Fußballplatz und im Bus zum Gymnasium. All die wilden Dinge, von denen seine Kumpels ihm erzählt hatten, oder eher: nicht erzählt hatten.

      »Na, das war halt so … Na du weißt schon, Wastl. So richtig mit Liebe und so«, hatte der Edi wenig hilfreich gestammelt, nachdem es mit seiner Freundin endlich zur Sache gegangen war.

      Nein, Wastl wusste es nicht. Klar, übers Internet hatte er Männer kennengelernt. Aber die paar, die er getroffen hatte, in einem verschämten kleinen Hotel an der B12, die waren gewesen wie er: Schwindler, Mogelpackungen. Familienväter waren darunter gewesen und sogar ein Pfarrer. Aber diese Heimlichtuerei war …

      »Na, hat's geklappt?«, fragte eine säuerliche Stimme am Fuß der Treppe.

      Wastl fuhr herum. »Wos soll geklappt haben?«

      Es war ein hagerer Mann, Mitte vierzig, der ihn böse anstarrte. Der war eben auch durch die Wohnung geschwemmt worden. Aber Wastl war sicher, dass er ihm nichts getan hatte.

      »Na, der Ische von der Hausverwaltung schöne Augen zu machen. Hast du Erfolg gehabt, Schönling?«

      »I, äh, ich?«

      »Ja, du. Unfair ist das. Wenn so ein Adonis wie du die Olle mal richtig …«, der Mann machte eindeutige Bewegungen mit Händen und Hüften, »hernimmt, dann legt die bestimmt ein gutes Wort bei der Hausverwaltung ein. Wenn sie dich nicht gleich mit nachhause nimmt. Hat sie dir 'ne feste Bleibe in ihrer Möse angeboten?«

      »Nah«, sagte Wastl. »Will ich auch gar nicht. Aber falls ich dich mal so richtig hernehmen soll, sag Bescheid. Ich steh auf greisliche Arschköpfe.«

      Die Antwort war Schweigen. Und eine heruntergeklappte Kinnlade, sowie Tischtennisball-Augen. Glücklich, dass heute immerhin etwas geklappt hatte, zog Wastl die Tür auf und trat ins Freie.

      ***

      »Na, Blondchen? Wie lief die Besichtigung?« Vronis Atem schlug ihm ins Gesicht. Bierbraten-Atem. Die ganze Finanzbuchhaltung war heute im Löwenbräukeller eingekehrt. Nur Wastl war mal wieder auf Wohnungsjagd gegangen.

      Wastl brummte etwas Unverständliches. Er versuchte, professionell und schwer beschäftigt auszusehen. Aber das beeindruckte Vroni nicht. Ihre mehrfach beringte Hand blieb auf seiner Stuhllehne liegen. Sie drehte sich sogar um und brüllte durchs halbe Büro.

      »Jutta, hast du nicht was für das Blondchen? Das Kerlchen hat immer noch keine Wohnung!«

      »Ach wo! Das tut mir ja leid.« Juttas Augen, treu und schön wie die einer Kuh, sahen Wastl an. Er räusperte sich.

      »Kein Problem«, behauptete er. »I … Ich find schon was.«

      »Der arme Kleine.« Jetzt wagte Vroni es auch noch, ihm die Haare zu tätscheln. »Sag mal, Adelheid, war über euch nicht ein Zimmer frei?«

      War es das? Wastl drehte sich um, aber Adelheid schüttelte den Kopf. »Da ist schon wer eingezogen. Die Wohnung war


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