Im Schlaraffenland. Heinrich Mann
Читать онлайн книгу.hatte Frau Türkheimer etwas anderes erwartet, sie wurde erst jetzt auf den jungen Mann aufmerksam. Seine zu Hause ersonnene Rede schien sie nicht übel zu finden. Sie lehnte sich in die Bergère5 zurück, einen Augenblick lächelte sie sogar geschmeichelt. Andreas, der die Lorgnons der rechts und links sitzenden Damen fürchtete, sah Frau Türkheimer unverwandt in die Augen, und sein Blick, den dichte, vorn aufwärts gebogene Wimpern beschatteten, machte den von Doktor Bediener vorausgesehenen Eindruck. Sie fand ihn angenehm, ganz frei von Dreistigkeit und voll jugendlicher Hingebung. Da Andreas sich geprüft fühlte, errötete er, was seinem knabenhaften Blondkopf mit dem leichten Flaum auf der Oberlippe sehr gut stand. Sie fuhr fort, ihn zu betrachten. Der geheime Schmerz, der über ihr Gesicht einen Schleier geworfen hatte, geriet in Vergessenheit. Es blieb nur eine sanfte Schwermut übrig, genährt durch den Anblick des jungen Menschen, der auch des Anteils einer mitleidigen Seele zu bedürfen schien. Andreas ahnte etwas Ähnliches. Er fand sich in seiner Ungeschicklichkeit selbst bedauernswert, aber es kränkte ihn, sich von einer schönen Frau bemitleiden lassen zu müssen. Er ward noch röter. Sie erkundigte sich:
»Und wie befinden Sie sich in Berlin? Denn Sie haben doch wohl erst kürzlich Ihre Heimat verlassen?«
»Ich komme vom Rhein, gnädige Frau.«
»Ich glaubte es an Ihrer Aussprache zu hören. Ah! Der Rhein!« hauchte Frau Türkheimer. Sie sann einen Augenblick, ließ sich indes auf eine Beschreibung der Stimmungen, die ihr der Rhein eingeflößt hatte, nicht ein.
»Sie müssen sich hier wohl recht wie in der Fremde fühlen?« fragte sie unwillkürlich leiser. Schwermut, Mitleid und Träumerei zogen eine Hecke um sie und diesen jungen Mann, sie wusste selbst nicht wie.
»Kommt Ihnen hier das Leben nicht viel kälter vor als in Ihrer Provinz? Bei Ihnen kennt man Fröhlichkeit, glaube ich, hier aber nur Spottlust. Und dann das Geld! Merken Sie sich für Ihren hiesigen Aufenthalt: es gibt hier nichts, was man nicht um eines guten Geschäftes willen verraten würde!«
Andreas meinte, bei den ruhig gesprochenen Worten der Dame doch dem Schrei einer wunden Seele zu lauschen. Er fühlte sich geschmeichelt durch die Andeutung, die sie selbst ihm von ihrem Unglück machte. Sie setzte nachlässig hinzu:
»Haben Sie schon einen Schneider, Herr Zumsee?«
Andreas glaubte missverstanden zu haben.
»Sie brauchen Freunde, die Sie anleiten. Warum sollte ich es nicht tun?«
Andreas verbeugte sich.
»Gehen Sie doch zu Behrendt in der Mohrenstraße. Ich erlaube Ihnen, sich auf mich zu berufen, dann wird man Ihnen eine tadellose Ausstattung besorgen. Ich schicke Ihnen meine Karte.«
Sie reichte ihm ihre wohlgeformte Hand, die sich unter dem Handschuh ein wenig fett, aber nicht zu fett, anfühlte.
»Übrigens vergessen Sie uns nicht, ich bin jeden Freitag zu Hause.«
Andreas sprang auf, küsste die Hand und entfernte sich langsam, mit verhaltenem Atem. Infolge des Erlebten waren seine Sinne förmlich erstarrt. Als sie wieder frei wurden, hörte er hinter sich jemand sagen:
»Donnerwetter! Dem gibt er’s im Schlaf! Sie kennen doch den Trick mit dem Schneider? Wenn der Frau Türkheimers Karte sieht, so liefert er den jungen Leuten Anzüge für fünfzig Mark, die uns dreihundert kosten.«
Ein wenig weiter bemerkte Andreas jenen Generalkonsul mit kleinem Spitzbauch und rötlich gefärbten Koteletten, den er im Vorzimmer des »Nachtkurier« getroffen hatte. Dieser Herr lächelte, wie der junge Mann vorüberging, so freundlich, und er schien so bereit zu einer Begrüßung zu sein, dass Andreas sich vor ihm verneigte. Der Generalkonsul erwiderte eifrig seinen Gruß.
Ein Unbekannter trat auf Andreas zu und schüttelte ihm ohne Umstände kräftig die Hand.
»Sind Sie schon lange in Berlin, mein Herr?« fragte er.
»Dreizehn Monate«, sagte Andreas.
»Nu sehnsemal«, bemerkte jener. »Ich bin schon dreizehn Jahre in Berlin, und Frau Türkheimer hat mir noch keinen Schneider empfohlen.«
Damit entfernte der Unbekannte sich wieder.
Unter der Tür des zweiten Salons, in den Andreas zurückkehrte, holte ihn Diederich Klempner ein, der ihm eine formelle Korpsstudentenverbeugung machte.
»Diederich Klempner mein Name«, sagte er kurz und schneidig.
»Andreas Zumsee.«
»Wir sind jawohl Kollegen«, bemerkte Klempner. »Donnerwetter, Sie haben aber Glück!« setzte er sofort hinzu. »Das muss man übrigens haben, sonst ist in unserer Branche nichts zu wollen.«
Andreas drehte sich um und zeigte Klempner den Herrn mit den gefärbten Favoris.
»Entschuldigen Sie, wer ist der Herr dort drüben?«
»Der? Na, das ist doch Türkheimer!«
Andreas versank in Sinnen. In seiner Überraschung war ihm zunächst nur eine Kleinigkeit eingefallen. Generalkonsul war ein so vornehmer Titel, und auf der Einladungskarte hatte nur »Frau Adelheid Türkheimer« gestanden! Diederich Klempner grinste.
»Es kommt Ihnen wohl komisch vor, dass er Sie so auffordernd angelächelt hat? Na, natürlich, Sie haben doch seinen Konkurrenten Ratibohr bei seiner Frau ausgestochen!«
1 (franz.) wörtlich: ›sterbendes Blau‹, eingedeutsch: ›blümerant‹ <<<
2 Va banque – „es gilt die Bank“, in riskanter Weise um den gesamten Geldeinsatz (die Bank) spielen <<<
3 (franz.) wie denn <<<
4 Schemel <<<
5 Sessel <<<
V. Ein demokratischer Adel
»Warten Sie mal, ich glaube, es wird gegessen«, sagte Diederich Klempner.
Der alte feine Herr, dem Andreas bald nach seinem ersten Erscheinen in diesen Räumen gegen die Schulter gestoßen hatte, schritt würdevoll mitten durch die gefüllten Salons. Man machte