Menschen und andere Tiere. Mara-Daria Cojocaru
Читать онлайн книгу.und einer meiner Referenzautor*innen hat sich mit der Einführung von der Alltagssprache abweichender philosophischer Termini bewusst hervorgetan – und zum Teil auch bewährt.3 Bei Themen aber, die aus Situationen mit klarem Handlungsdruck erwachsen, halte ich diesen Hang zu Esoterik (im Wortsinn) für ein Problem.
Mein Weg soll in einer Praxis enden, und eine Praxis ist immer etwas irgendwie Geteiltes (sonst wäre es schlicht Idiosynkrasie). Ich mache mir dabei aber nicht vor, dass just meine tierethischen und -politischen Ideen und meine Versuche, die entsprechenden problematischen Praktiken und Erfahrungen zu verstehen, entscheidend dafür sein werden, wie „wir“ diese Probleme in unseren Gemeinschaften angehen werden. Erstens ist dieses „Wir“ in hohem Maße fragwürdig – und als vergleichsweise privilegierte Person, die allenfalls die beruflichen und sozialen Nachteile erfährt, die ein Engagement für nicht menschliche Tiere mit sich bringt, habe ich mich zweifellos vom Mainstream entfernt, der für so ein vollmundiges, empirisches „Wir“ stehen könnte. Weder konventionelle materielle Güter noch entsprechende Traditionen, die für die Mehrheitsgesellschaft maßgeblich sind, spielen in meinem Denken und Leben eine so starke Rolle, dass ich beispielsweise das Gefühl hätte, mich wirklich einschränken zu müssen, wenn ich „tierverträglicher“ lebe. Ich schreibe nun aber von diesem Standpunkt aus und sehe gar keinen Grund, so zu tun, als ob mein Denken in seiner Form und Reichweite nicht über das, was die Mehrheit heute auch denkt, hinausreichen (oder daran vorbeilaufen) könnte. Das „Wir“, wenn ich es bemühe, ist also nicht das „Wir“ der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Es ist ein angerufenes „Wir“: wir als eine Gemeinschaft, die denkende Menschen bilden können, wenn sie sich – in einem genuin pragmatischen Sinne, der Denken, Fühlen und Handeln zusammenführt – aus dem Gesagten etwas machen möchten.
Zweitens führt auch ein pragmatischer Ansatz nicht in einfache Politikempfehlungen. Wenn ich der Meinung bin, dass in Situationen mit klarem Handlungsdruck anders gedacht werden muss, dann heißt das lediglich, dass das Denken konkret werden und seine Wirkmöglichkeiten in einer entsprechenden Praxis mitgedacht werden muss. Schon das konkrete, an die philosophischen Voruntersuchungen anschließende Denken ist aber eine Praxis! Wenn man als Leser*in nach der Lektüre eines Arguments innehält und sich fragt: „Was folgt daraus praktisch?“, „Was kann ich alleine schon tun?“ oder auch wenn man denkt: „Wieder so jemand, der meint, ich müsste mein Leben ändern …“, dann ist man schon bei allen denkbaren Konsequenzen einer Proposition, bei der Rolle der Gemeinschaft und bei den Schwierigkeiten eines moralischen Lebens. Und diese drei Themen sind es, die den philosophischen Pragmatismus geradezu definieren. Und wenn man dann noch die besten Absichten ausgebildet hat, aber vielleicht noch nicht die Überzeugung im Sinne einer Gewohnheit, zu denken, zu fühlen oder zu handeln, dann beginnt es pragmatisch erst interessant zu werden. Denn dass Gewohnheiten träge und nur schwer zu ändern sind, ist dem Pragmatismus bekannt – und gerade kein Grund, sich nur auf „theoretisch mögliche Einsichten“ zurückzuziehen, sondern sich mit den Möglichkeiten und Hindernissen solcher Veränderungen auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund bin ich mir einer Tendenz in der akademischen (Tier-) Ethik sehr bewusst, welche die Unmittelbarkeit der Probleme und die konkreten Auswirkungen philosophischer Positionen – trotz wohlfeiler „politischer Empfehlungen“ – auf Distanz hält.4 Und diese Distanz möchte ich einfach nicht halten; ob das nun eher eine moralische Stellungnahme oder das Angebot „ethischer Expertise“ ist, darüber kann man meines Erachtens einen gelehrten Diskurs führen – aber nicht hier und nicht jetzt.5
Auch deswegen ist dieses Buch ein Hybrid, was die disziplinäre Verortung betrifft, und nimmt Impulse aus der Tierethik, aber auch aus der Politischen Philosophie auf. Das heißt, dass ich tierethische Entscheidungen nicht nur als individuelle Entscheidungen verstehe, sondern auch und gerade als politische. Darüber hinaus ist meine Herangehensweise pragmatisch, weil ich nicht nach der richtigen Form von Moral frage und auch selten nach ihrem ganz genauen Inhalt. Denn ich gehe davon aus, dass zwischenzeitlich unterschiedlichste Formen der Moral (oder „ethische Paradigmen“) auf einer inhaltlichen Position konvergieren, die einer starken Tierschutzposition entspricht. Das bedeutet, wie gesagt: Empfindungsfähige Tiere sind um ihrer selbst willen zu schützen, insofern ihr Leben und ihr Wohlbefinden menschlichen Handlungsabsichten Grenzen auferlegen. Diesen Tieren dürfen ohne vernünftigen Grund keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden. Punkt. In dieser Position sind sich Ethiker*innen einig, die ansonsten, sofern alles andere gleich bleibt, mit einiger Wahrscheinlichkeit noch weitere hundert Jahre über metaethische Einzelheiten und das richtige normative Vokabular streiten werden. Da diese Position sogar schon im deutschen Tierschutzgesetz und auch in den EU-Regularien zu finden ist, könnte ich sagen, ich wüsste gar nicht, wer diese Position noch bezweifelt. Hier könnte mich jemand auf die Beiträge von Peter Carruthers oder Timothy Hsiao aufmerksam machen, die den Minimalkonsens bezweifeln. Vielleicht würde jemand anderem noch jemand anderes einfallen. Aber dass mir erst einmal nur zwei Denker einfallen, die der Praxis ziemlich gegenläufige Argumente vorbringen, sagt auch etwas aus.6 Mir persönlich würden wiederum weitaus mehr als nur zwei Denker*innen einfallen, die den beschriebenen Minimalkonsens lediglich als untersten Rand des Spektrums an Forderungen akzeptieren würden, die politisch auszuhandeln wären, sofern Menschen nicht alles in den Wind schlagen möchten, was sich an Argumenten zur moralischen Berücksichtigung von Tieren in der Ethik, aber auch in den Religionen finden lässt. Daher widme ich mich vor dem Hintergrund des Erreichten und eher aus progressiver Richtung denn aus der konservativen des fragwürdigen Minimalkonsenses der Frage, wie andere Aspekte als das Anliegen methodisch letzter Absicherung und transparadigmatischer Gewissheit jene individuellen Entscheidungsmöglichkeiten beeinflussen, wie man sich in Bezug auf Tiere zumindest minimal moralisch verhalten hat.
Die deutsche Philosophin Ursula Wolf spricht hier von den Aspekten „Lebenshaltung, Temperament und Erfahrung“, die in diese Wahl mit eingingen.7 Und die irisch-britische Philosophin und Schriftstellerin Iris Murdoch hat einmal gesagt, Philosophieren bedeute neben der Suche nach Wahrheit auch immer die Erkundung des eigenen Temperaments.8 Auch bei William James, einem US-amerikanischen Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus, findet sich die Rede von philosophischen Temperamenten.9 In Bezug auf die Bedeutung des Temperaments für das Philosophieren sind sich also recht unterschiedliche Philosoph*innen einig, darunter eine absolute Monistin und ein bekennender Pluralist. Damit Sie wissen, woran Sie sind: Meinem Temperament sind Bestürzung und Optimismus eingeschrieben; über so viel Selbstwissen verfüge ich. Durch das langwierige Schreiben von Fachartikeln bin ich vielleicht geduldiger geworden. Aber dass wir nicht schuldlos über die gravierenden Missstände und Probleme, welche die Tierethik behandelt, hinwegphilosophieren können – davon bin ich überzeugt. Und dass wir mit und durch unser Denken etwas bewirken können – das glaube ich auch.
Um daher zur methodologischen Weg-Metapher zurückzukehren: Trotz meiner bescheidenen Hoffnung auf eine praktische Umsetzung des Minimalkonsenses vor dem Hintergrund eines theoretischen Pluralismus, den ich unangetastet lasse, neige ich dazu, eine Reihe philosophischer Positionen für besonders aussichtsreich und die Auseinandersetzung mit bestimmten philosophischen Pionieren für besonders instruktiv zu halten. Ich führe sie hier ein, ohne die dazugehörigen philosophischen Debatten zu würdigen. Das mag dem einen oder der anderen zu schwungvoll sein, entspricht aber meinem Eindruck, dass jetzt – gerade im Kontext dieser tierethischen und -politischen Dringlichkeit – nicht die Zeit für metaethische, philosophiehistorische und exegetische Diskussionen ist. Wer schon an dieser Stelle von dem Weg, den ich einschlagen möchte, genug hat, von dem darf ich mich höflich verabschieden. Ich meine aber hoffen zu dürfen, dass es Menschen gibt, die ähnlich denken oder die in ihren Gedanken zumindest schon einmal an diesem Punkt gewesen sind und vielleicht ähnliche Erfahrungen in tierethischen und -politischen Kontexten gemacht haben. Meine Vermutung ist, dass Leser*innen, die mit dem Folgenden wirklich etwas anfangen können, ganz unterschiedlich philosophisch oder auch überhaupt disziplinär geschult sein mögen – aber dieses Temperament teilen. (Doch vielleicht findet ja auch jemand Interesse an einem Denken, das ihm in den folgenden Punkten fremd ist.)
Naturalistisch, aber nicht szientistisch
Eine naturalistische Herangehensweise, wie sie mir und meinen Referenzautor*innen, Charles S. Peirce, John