Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider
Читать онлайн книгу.hin ihr hebräisches Gebetbuch ins Deutsche übersetzt.131
Die Stellungnahme P. S.s zur Wahl zeigt, dass er immer weniger die strikte Trennung zwischen Kirche und Politik vertrat, die für viele Evangelische aus Luthers Lehre folgte.
Der Superintendent von Wetzlar gab dem Stützpunktleiter die Auskunft, er sehe keinen Anlass zu einem dienstlichen Vorgehen gegen Pfarrer Schneider. In einem Brief an P. S. kritisierte er jedoch, dass »Sie sich in die politische Wahlagitation tiefer eingelassen haben, als es der Stellung des Geistlichen dienlich ist.«132
Inwiefern war P. S. »mit Hindenburgs neuesten Taten nicht ganz einverstanden«? Wahrscheinlich gefiel es ihm nicht, wie viel Raum Hindenburg den Nationalsozialisten gab in der Meinung, er könne sie zügeln, indem er sie in die Regierungsverantwortung einbinde.
Ganz im Sinne des CSVD fährt P. S. im Rundbuch fort mit der Klage:
»O des unseligen Parteigeistes! 133 der sich so versündigt am Volksganzen von hüben und drüben. Wo sind die gerecht urteilenden christlichen Gewissen, die weder vom Nationalismus noch vom Sozialismus, sondern vom Evangelium her die Maßstäbe für ihr politisches Handeln gewinnen? Aus dieser Quelle bezieht sie aber der Nationalsozialismus auch noch nicht; wird er dann wirklich die beiden Pole vereinigen und unser Volk der sittlich-religiösen Erneuerung entgegenführen können, deren es so dringend bedarf?« – Im Februar 1933 schreibt er, an einer Lungen- und Rippenfellentzündung schwer daniederliegend: »Heute deutscher Abend mit deutschem Tanz. Ob das nun ein anderer Tanz ist als der gewöhnliche? Aber zu Lichtbildervorträgen, Bibelstunden lädt man das Gros der Leute vergeblich ein. Was sind unsere evangelischen Gemeinden? Und doch sind es Gottes Zeiten und hat Gott sein Werk irgendwie unter uns, daran gilt es festzuhalten und fröhlich vorwärts zu glauben.«
Ehe wir Paul Schneiders Weg in Hochelheim weiterverfolgen, wollen wir uns an die politischen Ereignisse in Deutschland am Vorabend des Dritten Reiches und im Jahr 1933 erinnern. In immer stärkerem Maß wurde Deutschland von der Weltwirtschaftskrise von 1929 betroffen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg von 2,8 Millionen im Jahr 1928 auf 6,3 Millionen im Jahr 1933.134 Von der staatlichen Arbeitslosenunterstützung konnten die wenigsten ihre Familie ernähren. Hitler versprach »Arbeit und Brot«, suchte in den Juden die Schuldigen und kündigte den gnadenlosen Kampf gegen das Judentum an. Immer mehr wurde Hitler zum »Führer« der Enttäuschten. So kann es nicht verwundern, dass seine Partei bei der Wahl des neuen Reichstags am 31. Juli 1932 von zwölf auf hundertsieben Mandate (!) zulegte. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die NSDAP feierte das mit großen Aufmärschen als »nationalen Aufbruch«. Schon am 1. Februar erreichte Hitler, dass Reichspräsident von Hindenburg den Reichstag auflöste und seine Neuwahl auf den 5. März 1933 festsetzte.
Am 1. Februar versicherte Hitler in einem Aufruf, dass das Christentum »die Basis unserer gesamten Moral« sei. Er schloss seinen Aufruf mit den Worten: »Möge der allmächtige Gott unsere Arbeit in seine Gnade nehmen, unseren Willen recht gestalten, unsere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen unseres Volkes beglücken.«135 Punkt 24 des Parteiprogramms der NSDAP lautete: »Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, dass eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.«136
Bewusst wählte Hitler die christlich-nationale Tarnung, berief sich immer neu auf christliche Werte; SA137-Formationen marschierten geschlossen in Kirchen, es gab Massentrauungen von SA-Leuten. Gern stellte sich Hitler mit hohen Kirchenführern oder kaiserlichen Feldmarschällen zur Schau. Ein nationalistischer Trance-Zustand ergriff sehr viele Deutsche, in den auch viele Christen jedes Bildungsstandes verfielen. Es wuchs in den Protestanten die Genugtuung, Reichspräsident von Hindenburg habe gegen das Eindringen des atheistischen Bolschewismus eine christlich-konservative Regierung zustande gebracht. Nur wenige Christen sahen die Verbrechen, die von Anfang an Hitlers Machtergreifung begleiteten.
Einstweilen brachte Hitler den alten Reichspräsidenten von Hindenburg dazu, in einer ersten Notverordnung »Zum Schutz des deutschen Volkes« die Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit erheblich zu beschränken. Der Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 gab Hermann Göring138 den Vorwand, in der Nacht zum 28. Februar mehr als viertausend kommunistische Funktionäre und Abgeordnete zu verhaften. Viele wurden gefoltert, zahlreiche ermordet. Die Kirchen schwiegen dazu. Schon am 28. Februar erfolgte – von langer Hand vorbereitet – die Zweite Notverordnung Hindenburgs, in deren Paragraf 1 es heißt: »Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkung des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.« Der Reichstagsbrand – wer immer ihn gelegt haben mag – war für die Nationalsozialisten die große Gelegenheit, die individuellen Freiheitsrechte der Bürger deutlich einzuschränken.
Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erhielten die Nationalsozialisten 43 Prozent der Stimmen. Unmittelbar danach wurde die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten. Nun hatte die NSDAP zusammen mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und den bürgerlichen Parteien wie dem Zentrum die Zweidrittelmehrheit im Reichstag. Beim Festakt zur Eröffnung des Reichstages, am großen »Tag von Potsdam«, 21. März, in der Potsdamer Garnisonskirche am Grab Friedrichs des Großen vollzog der neue Reichskanzler zusammen mit dem greisen Feldmarschall von Hindenburg eine spektakuläre Inszenierung, mit der er sich als der legitime Erneuerer preußischer Tradition in Szene setzte. Kanonen schossen Salut, Glocken läuteten, das Glockenspiel der Garnisonskirche intonierte »Üb immer Treu und Redlichkeit«.
Auch die Abgeordneten des Zentrums, der DNVP und der kleineren Parteien stimmten in der ersten Sitzung des neugewählten Reichstages, am 23. März, für das Ermächtigungsgesetz, mit dem Hitler die alleinige Macht erhielt und das bald darauf die Auflösung oder das Verbot ihrer eigenen Parteien besiegelte. Lediglich die SPD stimmte dagegen.
Nun vollzog sich in atemberaubender Geschwindigkeit die »Gleichschaltung«: Am 21. März wurde das »Heimtückegesetz« beschlossen, das jeden bedrohte, der »vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reiches oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände schwer zu beschädigen.« Ein Gesetz, das künftig wie ein Damoklesschwert über jedem hing, der an Staat oder Partei Kritik übte. Reichskommissare oder Reichsstatthalter wurden in verschiedenen Ländern wie Bayern, Baden und Württemberg eingesetzt. Die Beamtenschaft wurde von nichtarischen139 oder regimekritischen Leuten gesäubert. Göring wurde preußischer Ministerpräsident. Studentenschaft, Universitäten, die Presse, alle Kulturtreibenden wurden gleichgeschaltet. Die SS (Schutzstaffel) und die Gestapo (Geheime Staatspolizei) wurden gegründet, die Gewerkschaften wurden aufgelöst. Mit dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 wurde das Volk auf den Antisemitismus140 der Nationalsozialisten eingeschworen. Bei der öffentlichen Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 wurde ein Zeichen des Terrors gegen missliebige Schriftsteller gesetzt. Auch hierzu schwiegen die Kirchen.
Hitler begann eine systematische Aufrüstungspolitik und tarnte sie mit pathetischen Friedensreden. Am 20. Juli 1933 gelang es ihm, mit der römisch-katholischen Kirche ein »Reichskonkordat«, d. h. eine vertragliche Sicherung der Rechte der Kirche, zu schließen, mit welcher Papst Pius XI. und sein Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., glaubten, die Freiheits- und Einflussrechte der katholischen Kirche im deutschen Reichsgebiet zu sichern. Sie erreichten damit vorerst vielmehr, dass die NS-kritischen deutschen Kardinäle ihre Kritik am Dritten Reich zurückstellten.
Am 14. Oktober trat Deutschland aus dem Völkerbund aus. Am 12. November ließ Hitler seine