Nacht über der Prärie. Liselotte Welskopf-Henrich
Читать онлайн книгу.wurde.
Nein, es kam ihr niemand nach.
Sie verlangsamte auf dreißig Meilen.
Das Mädchen versuchte zu überlegen. Wenn irgendein Polizeibeamter bemerkte, dass ihr Bruder betrunken war, kam Henry ins Gefängnis. Indianer aus der Reservation wurden für Trunkenheit schwer bestraft.
Sie hielt an einer unbeobachteten Stelle an und schob Henry, der nicht aufwachte, auf ihren bisherigen Platz, so dass sie nun Raum für sich am Steuer hatte.
Das ging alles schnell. Aber nun rührte Henry sich auf einmal – und es bestand die Gefahr, dass er halbwach in seinem Zustand zu randalieren begann. Es war sein erster Rausch, und Queenie wusste vom Hörensagen, was ein Betrunkener anrichten konnte. Der Weg zur Reservation war noch weit.
Sie bog in eine Ausfallstraße ein und hielt auf die Vorstadt zu, wo die Slums der indianischen Kolonie lagen. Dort kannte sie einen jungen Priester, und diesen wollte sie um Rat fragen.
In den kleinen Hütten, wo die kinderreichen Familien wohnten, und ringsumher war in der Morgenfrühe schon Leben.
Die Frauen waren mit Eimern unterwegs, manche mit dem Wagen und Fässern, um von dem weit entfernten Brunnen Wasser zu holen. Die Leitung war nicht bis zu der Siedlung gelegt. Queenie hielt bei einer der Hütten. Die Kinder schauten neugierig und zugleich scheu auf sie, aber da Queenie eine Indianerin war und mit den Mädchen und Jungen in ihrer Muttersprache sprechen konnte, erfuhr sie bald, was sie wissen wollte. Der junge Priester und seine Frau waren zum Brunnen gefahren. Sie mussten aber bald wieder zurück sein.
Queenie brach der Schweiß aus, während sie wartete. Es war am frühen Morgen schon heiß, doch das war es nicht, was sie störte. Sie hatte Angst, einfach Angst. Der Alkoholgeruch, den der Körper des Bruders ausströmte, quälte sie.
Elk, so hieß der Gesuchte, kam bald zurück, doch dem Mädchen war die Wartezeit wie eine böse Ewigkeit erschienen. Er begriff sofort, was hier zu tun war, brachte Henry in sein Haus und bat Queenie, ebenfalls einzutreten. Sie verschloss den Wagen und steckte den Schlüssel ein, eine ungewöhnliche Vorsichtsmaßnahme.
Sie setzte sich mit der Frau in der kleinen Hütte auf das Bett, das zugleich die einzige Sitzgelegenheit bot, und berichtete alles, was sie erlebt hatte und vermutete. Elk stand in seinen abgetragenen Arbeitskleidern vor den Frauen. Den Betrunkenen hatte er einfach auf den Bretterboden gelegt.
Queenie beschrieb noch einmal genau die drei verdächtigen Gestalten. »Ich glaube«, schloss sie, »dass sie Henry beschwatzt und betrunken gemacht haben, und nun warteten sie auf mich. Wahrscheinlich hat Henry ihnen von mir erzählt. Vielleicht hat er ihnen auch gesagt, dass ich viel Geld nach Hause bringen würde.«
»Es sind üble Burschen.« Elk sprach langsam und war bemüht, seine große Besorgnis nicht in seiner Stimme spürbar werden zu lassen. »Die Kumpane von Stonehorn.«
Queenie senkte den Kopf und schaute zu Boden. Aber sie fühlte dabei, wie Elk sie von der Seite beobachtete, und sie senkte den Kopf noch tiefer, als ob sie einen Schlag in den Nacken entgegennehmen müsse und doch alle ihre Empfindungen verbergen wollte.
»Er war hier«, sagte Elk.
Queenie fuhr auf. Sie hatte vergessen, dass sie sich beherrschen wollte.
»Sie hätten ihn nicht hinauswerfen sollen, damals. Jetzt ist alles schwer – verzweifelt schwer.«
Queenie starrte Elk an.
»Er hat nach dir gefragt.«
Queenie sagte nichts. Aber sie dürstete danach, dass Elk mehr berichten werde.
Elk sah das glühende Gesicht. »Liebst du ihn, Queenie? Du warst damals, als er gehen musste, noch ein Kind – fast – ja, fast – noch – ein Kind. Seine Kumpane heute sind üble Burschen.«
Elk wiederholte die letzten Worte mit einer Härte, mit der er auch gegen sich selbst zu kämpfen schien.
Queenie verwandelte sich wieder. Sie glaubte Elk zu hassen, weil er gewagt hatte, von ihrem Gefühl zu sprechen. Wie schamlos waren alle Worte! Das Blut ging ihr zum Herzen zurück, sie wurde blass statt rot. Ihre Haltung und ihr Ausdruck wiesen darauf hin, dass sie um nichts besorgt sei als um ihren Bruder.
Elk verstand. Er glaubte wenigstens zu verstehen.
»Willst du hierbleiben, Tashina?«
Nahm er etwa an, dass Queenie Halkett auf Joe King warten werde?
»Ich bleibe nicht. Ich will heim.«
»Henry kannst du nicht mitnehmen.«
Das Mädchen zuckte hilflos mit den Schultern. »Kann ich das Geld hierlassen?«
»Du kannst Henry und das Geld hierlassen. Aber ich kann dich nicht fahren, und meine Frau kann dich nicht fahren. Wir müssen zur Arbeit gehen.«
»Ich fahre allein.«
»Das ist nicht gut, Tashina.«
»Ich kann hier nicht mit Henry sitzenbleiben. Der Vater muss alles erfahren, ehe es ein anderer hört. Ich fahre.«
Queenie stand auf.
Elk und seine Frau sagten kein Wort mehr. Mögen Wakantanka, das Große Geheimnis, und ihr Schutzgeist sie behüten, dachten sie. Sie waren Christen, aber sie dachten noch in den Worten und Vorstellungen ihrer Väter.
Queenie übergab Elk den Lederbeutel mit der hohen Geldsumme und räumte auch noch einen Teil ihres Köfferchens aus.
Dann eilte sie zum Wagen, der Motor sprang an, und sie fuhr auf die laute Weise, die dem alten Gefährt allein noch möglich war, die Landstraße bei der Siedlung entlang, dann auf einem Umweg zu der betonierten Straße, die um den Fuß der bewaldeten Hügel herum in Richtung der Reservation führte.
Weit und breit waren kein Wagen und keine Behausung zu sehen. Der Wind wehte kräftig.
Queenie dachte jetzt nicht mehr darüber nach, was die Banditen unterdessen unternommen haben konnten oder was sie planten. Sie beschäftigte sich nur mit Steuer und Straße, und sie holte alles aus dem Motor heraus, was herauszuholen war. Mehr als fünfzig Meilen die Stunde gab er nicht her.
Der Wagen bockte. Vielleicht war die Benzinleitung durch feinen Sand verstopft, vielleicht funktionierte eine Kerze nicht, vielleicht war die Batterie locker. Queenie konnte nur noch vorsichtig und langsam fahren.
Die Wolken am Horizont versprachen ein Hagelwetter. Ehe es herunterschlug und alle Sicht unmöglich machte, wollte das Mädchen noch zu einem bewohnten Platz. Es gab allerdings auf der ganzen Strecke nur einen einzigen, das Schaustellungsgelände »Crazy Horse«. Die Schaustellung war um diese Zeit noch nicht offen, aber da sie in den nächsten Kalendertagen eröffnet zu werden pflegte, war vermutlich schon ein Wächter da.
Queenie horchte auf ihren Wagen, fuhr langsam und stetig und beruhigte sich selbst, als sie das große Zeltstangengerüst und die Bretterwand erkennen konnte, die ein Fort darstellen sollte. Sie kam nicht mehr ganz heran, etwa dreihundert Fuß vorher blieb der Wagen stehen.
Queenie stieg aus, schloss ab, steckte den Schlüssel ein und ging mit ihren modern nachgeformten Mokassins schnell bis zu dem Gelände und der kleinen Bude, in der sie einen Wächter oder einen Pförtner vermutete. Die Tür war jedoch verschlossen.
Queenie wartete einige Zeit, da der Mann vielleicht einen Rundgang machte, und es zeigte sich, dass sie richtig vermutet hatte. Ein Mann von mittleren Jahren in Cowboykleidung erschien, und als er das Mädchen warten sah, steuerte er auf sie zu.
»Hallo!«
»Hallo! Versteht Ihr etwas von einem Wagen?«
Der Mann blinzelte das Mädchen an. »Von einem solchen Wagen wie dem dort? Na, wollen mal sehen. Aber Ersatzteile habe ich für den nicht.«
Queenie war ärgerlich, dass der Wagen ihres Vaters verächtlich gemacht wurde. Doch musste sie sich wohl oder übel freuen, dass ihr jemand helfen wollte.
Der Mann klappte