Die Keusche. Volker Krug

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Die Keusche - Volker Krug


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drohenden Linden entfernte, je weniger ihn der Lärm dieser Gesellschaft einholte. Die angenehme Luft durchströmte plötzlich jeden Zipfel seines Körpers, jeden Winkel des Hirns; säuberte es von trüben Gedanken. Er fand zu seinem Lächeln zurück. Ein leiser Seufzer entwich seiner Kehle und hüpfte in die Dunkelheit davon.

      Bald hörte er nur noch seine knirschenden Schritte im lockeren Sand. Windstille. Ruhe vor dem Sturm? Von ferne herüber rollte das gedämpfte Quaken unzähliger Frösche aus den kleinen Teichen am Dorfesrand. Noch schwebte ab und an der Duft der Ernte in geballten Schwaden heran – die heißen Reste des Tages wichen dahin.

      Willenlos schlenderte er der Freiheit seiner Füße nach. Jetzt fanden Trost, Geruhsamkeit, innere Einkehr zurück. Hinter dem großen Nussbaum des Gemeindehauses schielte der Mond hervor; zunehmend huschten Wolkenfetzen an ihm vorüber. Schwüle. Von Ferne rauschte etwas heran, blitzte es wetterleuchtend. Ein aufkommender Wind begann zu stöhnen. Maunzend querte vor ihm eine Katze den Weg und verschwand in den verstaubten Nesseln.

      Kein Zweifel, ein Gewitter.

      Er wandte sich um, damit er nicht von diesem Unwetter überrascht werde. Drüben in der Kneipe öffnete sich die Tür – ein kurzes Lachen, dumpfes Poltern und trappelnde Schritte. Dann verschwand der Lärm wieder hinter dem groben Portal aus Eichenholz.

      Der Wind nahm zu.

      Abermals eine Stimme. Heißeres, männliches Lachen – nicht sehr weit entfernt. Wortfetzen, ein holprig hingeworfener Satz, den Reinhard nicht verstand. Der schrille Tonfall eines Mädchens. Angst oder Lebensfreude? Reinhard blieb stehen und richtete sich auf, doch er vernahm lediglich undeutliches, beruhigendes Gemurmel. Über seinem Kopf begannen die Blätter der Linden zu tanzen und zu rauschen; Böen fegten verräterisch zwischen die Äste. Noch sah man den gehetzten Mond zwischen den Wolken, bald aber verschwand auch er im Rachen der nahenden, pechschwarzen Wolkenwand.

      Ein deutlicher Aufschrei nun in der Nähe, wohl hinter ihm irgendwo auf der Dorfstraße – der schmerzliche Aufschrei eines Mädchens. Reinhard hielt inne. Ihn trieb die Neugier und ein wenig die Befürchtung, zu Hilfe eilen zu müssen. Er trat einige Schritte in den Schatten der Gärten zurück. Der Mond riss ein letztes Loch in die Wolken und Reinhard erkannte, unweit in Fetzen von Licht getaucht zwei menschliche Gestalten. Sie schienen sich nicht so recht einig, das Mädchen und der Bursche. Reinhard glaubte deutlich, Handgreiflichkeiten zu erkennen. Wohl nichts Aufregendes, dachte er, die üblichen Zierereien … Schon wollte er sich abwenden, da vernahm er wiederum die weibliche Stimme:

      „Lassen Sie mich! Gemeiner Mensch, Sie! Ich schreie um Hilfe!“

      Nein, so artikulierte sich kein Mädchen vom Dorfe! Reinhard ließ die Arme sinken, starrte verwundert hinüber und schien im Augenblicke unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Keuchendes Gelächter antwortete aus der Dunkelheit und eine raue Stimme presste hervor:

      „Ich werd dich schon kirre machen! Verdammtes Biest!“

      „Ich schreie!“

      „Schrei doch! Ich halte dir die Klappe zu. Wer weiß, ob dein Geheul überhaupt jemand hört!“

      Reinhard stolperte einige Schritte auf das Pärchen zu. Der heftige junge Mann packte das Mädchen bei den Unterarmen, so dass es sich unter seiner Derbheit hin und her wand. Reinhard blieb erschrocken und unentschlossen stehen. Machte er sich möglicherweise nur lächerlich, wenn er vorgab, einen Streit zu schlichten? Wenn aber, andererseits … Reinhard hielt es für geboten, zumindest zufällig an ihnen vorbei zu schlendern. Aber als er ihnen nahe kam, verhielten beide zwar in Stimme und Handgreiflichkeit, doch umklammerte der rohe Bursche das Mädchen mit deutlicher Kraftanstrengung. Feige und mit schnellen Schritten eilte Reinhard davon. Wenn dennoch …? Was tun?

      Ein dumpfer, tief schmerzlicher Aufschrei des Mannes und ein fallartiges, raschelndes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Unsicher wandte er den Blick zurück. Was er in der Dunkelheit erkannte, überzeugte ihn nun doch von der Gewalttätigkeit der Szene. Offensichtlich hatte das Mädchen die Überraschung genutzt und seinem Peiniger zwischen die Beine getreten. Fast ebenso schnell jedoch richtete der Bursche sich wieder auf, holte die junge Frau nach wenigen Schritten ein und schleuderte sie mit brutaler Hand zu Boden. Er wälzte sich rachsüchtig auf sie und schlug auf sie ein.

      „Hilfe! Hilfe!“, schrie sie röchelnd. Doch er ließ sie nicht los.

      „Schnauze, Miststück!“, zischte der aufgebrachte Kerl und drückte ihr roh die flache Hand auf Mund und Hals. „Dich krieg ich schon noch weich!“

      Reinhard konnte sich später kaum erinnern, wie schnell er am Ort gewesen war. Er warf sich auf beide Gestalten und mühte sich, sie mit all seiner Kraft zu trennen. Der Bursche jedoch, kräftiger als er selbst, schien sich nicht beirren zu lassen und versuchte unbeeindruckt, ihr und ihm mit Schlägen beizukommen. Kurz darauf, als Reinhard wie besessen auf seinen Rücken einhämmerte, sprang er plötzlich hoch und baute sich wenige Schritte vor ihm auf.

      Die junge Frau rappelte sich weinend empor, sah Reinhard erstaunt mit tiefdunklen Augen an und stolperte davon. Ein kleiner Blutfaden rann aus dem Mundwinkel. Ihr zerzauster Pferdeschwanz verschwand in der schützenden Dunkelheit. Sie war hübsch, gewiss, aber Reinhard hatte davon in der Hastigkeit des Geschehens kaum etwas erkennen können.

      „Weißt du überhaupt, was du machst?“, schrie ihn der Bursche an. „Wer bist du denn! Mischst dich in meine Angelegenheiten! Was ich mit ihr anstelle, ist allein mein Bier! Hau ab, sag ich dir! Sonst brech ich dir noch die Knochen! Hau ab!“

      Reinhard zog die Ellenbogen hoch und posierte wie ein Boxer. „Bist du blöd, Mann? Entweder sie will dich, dann braucht sie kein solches Theater. Oder sie will dich nicht, dann hast du eine Vergewaltigung am Hals!“

      „Sie hat mir in die Eier getreten!“, jammerte der Kerl.

      „Was, bitte, hätte sie sonst tun sollen?“

      „Das werd ich dir noch heimzahlen, du Arschloch, das verspreche ich dir!“ Er versuchte, der jungen Frau mit hastigen Schritten nachzustolpern, aber Reinhard stellte sich ihm in den Weg. „Geh dort lang!“, sagte er und schob ihn in die Richtung der Kneipe. „Die ist längst über alle Berge! Und bald wird es gewittern.“

      Wie zur Bestätigung fuhr der erste Blitz krachend nieder. Tropfen platzten auf die staubige Erde und hinterließen kleine Krater.

      „Lass dich nur nicht alleine erwischen“, rief der verunsicherte Bursche. „Dich schlag ich noch grün und blau!“

      Im aufzuckenden Blitz sah Reinhard den Kerl hinter der nächsten Linde verschwinden. Hatte er durch den erholsamen Spaziergang an den Gärten entlang ohnehin seine bessere Laune zurückgewonnen, so befriedigte Reinhard jetzt um so mehr das erhabene Gefühl, einem bedrängten Menschen beigestanden zu haben. Dass dieser Mensch ein hilfloses Mädchen war, erfüllte ihn mit Stolz. Er breitete die Arme aus und stellte sich unter den düster behangenen Regenhimmel. Genüsslich ließ er die großen Tropfen auf seinem Gesicht platzen. Doch dann sprang er in übermütigen Sätzen, die noch zaghaften Pfützen meidend, in den Schutz der Linden am Haus. Oben, in seiner Übernachtungskammer, riss er sich die durchnässten Kleider vom Leibe, öffnete das knarrende Fenster und ließ den prasselnden Regen vor seiner Brust herabrauschen. Er bejubelte alle Blitze, die die umliegenden Häuser in ein stroboskopisches Licht tauchten.

      Unten in der Kneipe kehrte gespenstige Stille ein, Türen und Fenster wurden verrammelt. Das gewöhnliche Leben duckte sich unter dem Toben der Natur.

      Dieses Mädchen!

      Er hatte es ja nur flüchtig gesehen … Reinhard lehnte sich weit über das Fensterbrett hinaus und ließ den Regen auf seinen Kopf trommeln.

      Wie glücklich fühlte er sich, wie stolz! Weit hinter sich ließ er die trüben Gedanken dieses miserablen Abends. Hungriges Leben meldete sich! Nichts da von Traurigkeit und Resignation. Er, ein fröhlicher Mosaikstein dieser großen, allumfassenden, zu umarmenden Welt! Jeder Ort erstrahlte in plötzlicher Schönheit. Auch dieser!

      ‚Leise flehen meine Lieder

      durch die Nacht zu dir …‘,


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