Die Keusche. Volker Krug

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Die Keusche - Volker Krug


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hören wollen: Mich ekelt dieser rabiate Verein an, dieser Kneipenjahrmarkt. Maskuline Großkotzigkeit! Sammelsurium niedriger Instinkte! Ich weiß, ich weiß, das alles ist maßlos übertrieben, vielleicht ungerechtfertigt. Und wodurch rechtfertige ich meine Überheblichkeit! Verstehen Sie? Dieses Lagerleben wird mir zur Höllenqual, zerstört die besten Vorsätze! Dann fühlt man sich verlassen und allein.“ Sie zuckte plötzlich zusammen und sah erschrocken, nein betroffen in die Ferne. „Da bedeutet ein solcher Zwischenfall wie gestern Abend nicht nur banale Abwechslung sondern er besitzt auch schicksalhaften Sinn. Ich hatte mich überwunden, fühlte mich glücklich und erhaben, als Held gewissermaßen! Ach, wie erbärmlich! Immerhin fasse ich es wieder, mein zerbrechliches Weltbild …“

      Schien sie dies traurig zu stimmen, zumindest verwundert? Sie wandte den Blick hinüber auf das entfernte Dorf. Und erstarrte in verwirrter Verständnislosigkeit über seine Worte.

      „Aber wem sage ich das!“, setzte er plump hinzu.

      Sie hielt inne und ließ den Blick in die unendlichen Felder fliehen. Einsamkeit? Ja, ja, freilich. Wem sagte er das! Und wie sagte er das! Aber wohin mochte ihn dieses Jammern führen? So hatte sie sich diesen Nachmittag gewiss nicht erträumt.

      Er merkte es wohl. „Sie stammen auch aus dem Süden?“, fragte er schließlich, nur um etwas Gleichgültiges hinzuwerfen. „Ihr Dialekt verrät es.“

      „Allerdings. Aus einem Dorf in der Oberlausitz.“

      „Der nächste Weg!“, brummte er. „Wie denn hat es Sie ausgerechnet hierher verschlagen?“ Ans Ende der Welt? – Wollte er hinzufügen.

      „Das ist durchaus keine ungewöhnliche Geschichte“, begann sie. „Es wird auch Sie eines Tages vermutlich in ähnlicher Weise einholen. Dieser Staat fühlt sich bemüßigt, jedem vorzuschreiben, wo und wie er zu arbeiten hat. Wir mussten uns aufs Ehrenwort verpflichten, dort zu wirken, wo man es für richtig hielt. So delegierte man mich nach dem Studium hierher und behauptete noch, es sei eine Auszeichnung. Es gab keine Alternative. Bei uns zu Haus hätte ich keine Stelle gefunden, nicht finden dürfen. So ist das nun mal. Und so bin ich eben hier gelandet, wenngleich mir im Herzen meine Berge fehlen und diese flache Unendlichkeit langweilt.“

      „Diese Unendlichkeit besitzt auch ihren Zauber“, meinte Reinhard. „Ich kann daran nichts Hässliches finden. Mein Name ist übrigens Reinhard, Reinhard Zander.“

      Sie nickte. „Und ich heiße Annelie Hübner. „Ich kann mir nicht helfen, in dieser endlosen Gleichförmigkeit von Land und Leuten, in dieser Einsamkeit finde ich keinen Halt, nur endlose Sehnsucht. – Sie kommen auch aus Sachsen?“

      „Nördliches Vogtland“, warf Reinhard hin. „Sie sind also schon länger hier?“

      „Im zweiten Jahr. Zwei Jahre muss ich mindestens noch büßen. Die glauben, dann werden wir uns schon eingewöhnt haben, sesshaft und eingebürgert sein.“

      „Diese Zeit wird schnell vergehen.“

      „Ich kann es nicht glauben.“

      „Bin schon im Bilde. Aber es gibt auch Tage, die man nie vergessen wird. Darf ich den gestrigen, den heutigen dazu zählen?“

      „Schmeichler!“, sagte Annelie und das Lächeln der Mona Lisa kehrte auf ihre Lippen zurück. „Deren werden, Herr Zander, unverhältnismäßig wenige sein!“, fügte sie spöttisch hinzu.

      Er konnte ein Grienen nicht verbergen. „Entschuldigen Sie“, erwiderte er. „Jetzt glaube ich wenigstens zu wissen, dass Sie nicht verheiratet sind!“

      „Gewitzt! Gewitzt!“, meinte sie nur und lachte.

      „Finden Sie denn gar keine Freunde hier, keinen Anhang?“

      „Wissen Sie“, erwiderte sie ernst, „ich könnte wohl ein Dutzend Bekannte hier haben; Geliebte, Verehrer, andere Laffen, wenn Sie meinen, – und ich will nicht mal in Abrede stellen, dass sie sich mir gegenüber nicht nobel verhielten –, aber dies allein kann es doch nicht sein. Manche Leute sind liebenswürdig, gewiss, noch nie jedoch habe ich jemanden geistvoll gefunden! – Verstehen Sie mich nicht falsch: Hohe Ansprüche stelle ich keineswegs. Doch die Bedürfnisse hier erweisen sich in der Regel als zu karg und niemand möchte Grenzen überschreiten, jeder möchte ewig so weiterleben. Gewohnheit ist zum Wohlfühlen … Was die Mädchen, die jungen Frauen angeht, für diese trifft dies erst recht zu. Nein, Sie brauchen mir nichts einzureden!“

      „Und eine Freundin haben Sie nicht?“

      „Nein, keine Freundin.“

      Er seufzte. „So sind Sie also von allen guten Geistern verlassen!“

      Sie schaute ihm verschmitzt in die Augen und lachte. „So kann man es auch sehen.“

      „Ach was!“, beschwichtigte er. „Sie sind mit Ihren Gefühlen gewiss nicht allein! Ich muss allerdings gestehen, dass mich gestern ähnliche Gedanken quälten.“

      „Sehen Sie!“

      „Auch mich lässt diese Atmosphäre hier verstummen, wenn man dies in zwei Worten sagen darf. Gestern fand ich es bedrückend. Doch das Gewitter reinigte gewissermaßen. Sie auch? Man soll jeder Seite des Lebens auch etwas Gutes abgewinnen.“

      „Werden sie nicht moralisch!“, warf sie ihm vor. „Sie haben gut reden! Sie verlassen diesen lottrigen Fleck in absehbarer Zeit. Ich aber sehe nur Trümmer vor mir.“

      „Mag sein“, fügte er mit traurigem Unterton hinzu. „In vier Tagen ist es so weit.“

      Sie hielt erschrocken die Hand vors Herz und versuchte dann, sich gleichmütig zu geben. „In einigen Tagen schon?“

      Es entfuhr ihr unwillkürlich heftig. Sie setzte an, etwas Besänftigendes hinzuzufügen, etwas Gleichgültiges, doch dann zauderte sie und starrte verbissen auf den Staub des Weges. Vier Tage! Das machte sie betroffen, wenngleich sie diesen jungen Mann noch gar nicht recht kannte, wenngleich sie mit ihren Gefühlen rang. Es schien, als vermisste sie schon etwas, was ihr noch gar nicht gehörte. Nur vier Tage! Mit Bitternis trauerte sie zumindest der hoffnungsvollen Abwechslung nach, die sich vor ihr eröffnet hatte. Sollte alles ins Nichts zerfließen, alles, von dem sie nicht einmal sicher wusste, was es war?

      Sie musterte ihn nun unverhohlen und entdeckte, wie unter ihrem Blick eine verlegene Röte empor flammte. Doch sie war geschickt genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Geraume Zeit verstrich, in der sie ihre so plötzlich verworrenen Gedanken und Gefühle zu ordnen versuchte. Sie ließ auch ihm Zeit. Sie liefen schweigsam nebeneinander her. Doch wohin verschwand plötzlich ihr verwirrendes Lächeln? Weshalb erzählte sie nicht weiter? Aber: Fand er selbst denn Worte? Diese mageren vier Tage hatten sie zweifellos enttäuscht.

      Konnte er es ändern?

      Als der Weg sich gabelte, wies sie mit dem Kopf nach rechts. In naher Entfernung tauchte ein anderer, kleinerer Hain am Rande des Weges auf. Plötzlich klammerte sie sich an den Gedanken, diesen ganzen Nachmittag unbedingt mit ihm allein verbringen zu wollen. Und sie betrachtete ihn sogleich mit geradezu vernarrter Neugier – ohne ihr Lächeln, denn sie wusste nicht, wie beginnen, wie enden. Sie mochte nur genießen.

      Er schaute sie an und eine tiefe Glut stieg aus seinem Inneren, da auch ihm nun die entsetzliche Kürze dieser vier Tage bewusst wurde. Sein Blick hing an ihrem üppigen Haarschopf, dem schwanenhaften Hals, der quellenden Brust und den properen Hüften im blauen Kleid. Nein, nicht nur ihre Stimme war ihm vertraut geworden, vielmehr verzehrte sich sein ganzer Körper nach diesem unbeschreiblich bezaubernden Wesen. Hatte er beim ersten Blick ihr Antlitz als nüchtern empfunden, so verschmolz es jetzt zu tiefverklärter weiblicher Anmut. Und ach, ihr immer neu erstehendes Lächeln!

      Sie reute es also nicht, mit ihm allein zu sein!

      „Ja, leider nunmehr“, seufzte er nach minutenlanger Pause. „Am Donnerstag ist mein letzter Tag hier.“

      Beharrlich schwieg sie; biss sich die Lippen.

      „Danach geht es zum Ernteeinsatz. Vielleicht.“

      „Ach?“


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