Die Keusche. Volker Krug

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Die Keusche - Volker Krug


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ihn hin; nicht so nah, dass er sie berühren musste, nicht andererseits so fern, dass es hätte Abschied bedeuten sollen.

      „Sie ziehen sich oft hierher zurück? Sozusagen? Und mir“, sagte er mit einem spöttischen Lächeln, „mir wurde buchstäblich das Glück zuteil, Sie zwischen den Bäumen hervortreten zu sehen.“

      Ihn traf ein verlegener Blick. Welch geschwollene Sprache! – mochte sie denken. Er wusste nicht, ob ihr diese Parallelen gefielen oder nicht. Endlich wandte sie ihr Gesicht und ging langsamen Schrittes vor ihm her, sich wohl sicher, dass er ihr auf dem schmalen Pfad folgte. Dieser Blick! Er hatte ihm bedeutet, sie zu begleiten!

      „Ah, Sie sind ein gebildeter Mensch!“, rief sie, mühsam einen gewissen Spott verbergend. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir Gelegenheit gaben, dies zu erraten.“

      „Ich bitte Sie!“

      „Ich hätte es wissen müssen, meinen Sie?“

      „Ganz und gar nicht“, meinte er befangen.

      „Ach ja!“, erwiderte sie. „Und Sie? Sie gehören diesem seismischen Messtrupp an, nicht wahr?“

      „Woher wissen Sie das …“

      „Es spricht sich herum. Denken Sie sich: Dieses Dorf ist doch nicht Rom!“

      „Ich …“, versuchte er zu entgegnen.

      „Sie sind nicht wie die anderen, wollen Sie sagen?“ Sie wandte sich plötzlich um, neigte den Kopf zur Seite und lächelte verschmitzt. „Oh ja, Sie gehören doch dazu! Freilich, von Ihnen hört man keine Sottisen. Freilich.“

      „Nein“, sagte er und sah ihr in die forschenden Augen. „Nein, nein, eigentlich gehöre ich nicht dazu. Nur ein Student, wissen Sie, im Praktikum.“

      „Ah ja“, meinte sie kurz. Ein Zucken durchlief ihre Züge und sie wandte sich schnell wieder ab. „Sie studieren also.“

      „Ja, Geophysik. In Freiberg.“

      „So, so.“

      Sie schritt vor ihm her und er konnte nicht erkennen, welche Bewegung sich auf ihrem Gesicht zeigte. Sein Atem erhitzte sich. Aber: ‚Mein Auftritt ist blamabel!’, spürte er. Die Stille um sie herum kam ihm befremdlich vor und bedrückend zugleich. Ihr Schweigen schnürte auch ihm die Kehle zu. Mein Gott, was sollte er so schnell auch hinzufügen, Bedeutendes sagen? Der Pferdeschwanz wippte verlockend vor ihm hin und her. Dennoch wollte er alles andere als daran zu zupfen. Die weiße Spange zitterte vor seinen Augen, herausfordernd, aufreizend. Gedämpftes Licht verteilte sich in hellen Tupfen über ihren kastanienbraunen Schopf. Betäubend duftete ihr Haar, wenngleich er sich nicht nahe genug fühlte. Noch immer schritt sie schweigend voraus, den schmalen Pfad entlang, der es nicht erlaubte, an ihre Seite zu treten. Was mochte sie denken, da sie seinen Blick im Nacken spürte? Lächelte sie vor sich hin oder blitzten ihre Augen voller Spott? Ach, ihr verhaltener Schritt, ihr wippender Gang! Hin zum Waldessaum! Warum schwieg sie so strafend? Er musste sprechen! Unbedingt. Gewiss wartete sie darauf! Wie aber beginnen, wollte er nicht lächerlich erscheinen?

      „Und Sie?“, fragte er schließlich stockend.

      „Was!“, rief sie, wandte sich für einen Augenblick um zu ihm und betrachtete ihn zweifelnd. „Sie sollten mich nicht kennen?“

      „Entschuldigen Sie, ich sah Sie wohl gestern Abend. Das erste Mal. Und sogleich unter solch widerlichen Umständen.“

      „Dies mag wohl wahr sein.“

      „Ja und …? Haben Sie mich vielleicht …“

      Sie hüllte sich einen Augenblick in Schweigen. Er spürte deutlich, dass sie dies unangenehm berührte. Starren Blickes schritt sie geradeaus. „Ich bin Lehrerin, jawohl“, sagte sie dann plötzlich. „Seit einem Jahr.“

      „Was? Sie sind die …“ Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. Wie konnte er so blind gewesen sein! Plötzlich erschien ihm alles, was geschehen war und geschah, als das Naheliegendste der Welt. Diese junge Frau! Von allen vergöttert! Hier wandelte sie selbstsicher vor ihm einher!

      „Die Keusche, wahrhaftig!“, klang es von vorn. „Sie werden deshalb hoffentlich nicht gleich das Weite suchen! Oder?“

      „Durchaus nicht“, stotterte er. „Ganz im Gegenteil …“

      Sie kicherte kurz auf und wandte sich um. „Oh ja …?“

      Dann lachten sie beide aus vollem Halse. Und im selben Augenblick traten sie gleichzeitig hinaus auf das weite Feld. Ein Schwall strohiger Wärme schlug ihnen entgegen; das mystische Dunkel der Eschen, der Erlen und Ulmen verschwand in ihrem Rücken. Nun endlich konnte er sich an ihre Seite wagen, nun endlich durfte er sie innig betrachten, nun endlich blieb der Blick in den Augen des anderen hängen.

      „Ich habe Sie hoffentlich nicht Ihrer Ruhe beraubt?“, fragte er – ein wenig unbeholfen. Sie warf ihm einen abwägenden Blick zu. Nein, sie meinte nicht, darauf antworten zu müssen. Ihre Hand griff nach einem vergessenen Roggenhalm und riss ihn aus der getrocketen Erde. Sie beugte sich mit dem Antlitz über ihre Handfläche, auf die sie die Ähre behutsam abgelegt hatte. Trotzdem, er glaubte sehr wohl, dass er sie gestört habe. „Sie hofften doch, allein zu lustwandeln …“ Lustwandeln – welch blödsinniges Wort!

      Sie schielte zu ihm hinüber. „Keineswegs!“, erwiderte sie dann mit offenem Blick. „Sie stören mich keineswegs.“ Leicht ließ sie die Ähre über ihre Wange streichen. „Wer weiß … Vielleicht sehne ich mich auch nach Gesellschaft.“

      „Ach!“, sagte er und beide lachten. „Ich amüsiere Sie?“

      Nein, so war an ein ernsthaftes Gespräch nicht zu denken! Fast wünschte Reinhard nun, die Idee zu diesem Spaziergang wäre ihm nie gekommen. Aber andererseits: Ein Steinchen gab sich zum anderen; ein Mosaik entstand, ein wundervolles Bild. Vielleicht würde man es eines Tages im Innersten bewahren wollen.

      „Ich amüsiere Sie!“, wiederholte er trotzig und vorwurfsvoll.

      „Nein!“, behauptete sie sehr bestimmt. „Wieso sollten Sie?“

      Ach, sie ließ sich aber auch alles aus der Nase ziehen, sich nicht aufs Glatteis führen! Er betrachtete ihre schmalen, geschwungenen Augenbrauen, blickte sie unbekümmert, ja unverfroren an, auch dann noch, als sie ihm erwartungsfroh die Augen zuwandte. Aber dieser Blick blieb nicht dreist, er wandelte sich in milde Wärme, in Melancholie, in Hoffnung … Reinhard errötete. Durfte er diesen Blick wirklich ehrlich in sich aufnehmen?

      Sogleich zwinkerte sie und kehrte in ihre Schale zurück. „Sie könnten mich fressen, nicht wahr?“, murmelte sie. „Mein Gott, bin ich heute unausstehlich!“

      Also doch: Gespielte Ironie? Oder nur Unsicherheit, Unzufriedenheit? Wie war dies Mädchen, nein, diese junge Frau, zu verstehen? Er erinnerte sich an Margarine-Schorsch. Wie Recht mochte der haben – wenn auch aus anderem Gesichtswinkel.

      „Sie sind gestern noch gut nach Hause gekommen?“, erkundigte er sich.

      „Schon, schon, auch wenn meine Haare nicht wenig nass geworden sind. – Kaum der Rede wert.“ Sie schaute ihm abermals mit jenem weichen Blick, der ihn so konfus zu machen drohte, in die erwartungsvollen Augen. „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht bedankt …“

      „Ach was“, sagte Reinhard heiter. „Das hätte jeder tun sollen.“

      „Sie glauben nicht, wie oft das wohl der Fall sein müsste“, antwortete sie verdreht.

      „Mir gleichfalls!“, brach er in ihre Gedanken. „Mir sind auch die Haare nass geworden. Meine Schuld! Ich hätte schnell in die Kneipe laufen können. Im Übrigen hab ich den Regen genossen.“

      „Sie hausen auch dort?“

      „Ich hause auch dort. Nicht sehr angenehm das alles. Ich habe lange am Fenster gestanden und die teuflischsten Blitze gezählt.“

      Ihre Ruhe war wohl instinktive Verschlossenheit. Wie sollte sie diese Begegnung denn beurteilen,


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