Die Keusche. Volker Krug

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Die Keusche - Volker Krug


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der Überwindung.“, meinte er.

      ‚Aber ich allein …‘ Sie sprach es nicht aus, hatte plötzlich Angst davor, Angst, etwas zu zerstören, Angst vielleicht auch, ihm zu schnell nahe zu kommen. Und wie das Dorf sich darüber das Maul zerriss, daran mochte sie erst recht nicht denken.

      „Es ist alles halb so schlimm, wenn man es mit den Augen der Hoffnung sieht.“

      Darin gab sie ihm wohl Recht. Aber woher diese Hoffnung nehmen? Diese unendliche Weite hier verleitete zu einer Sehnsucht, die nirgendwo ein Ende fand. Annelies Blick folgte dem schwirrenden Flug einer Lerche; sie dachte an „Romeo und Julia“ und lauschte dem unbekümmerten Zwitschern nach. Dieser Vogel trällerte hier, er trällerte in ihrer unmittelbaren Heimat. Zu jeder Zeit, an jedem Ort trällerte er unbekümmert. Sie lehnte sich noch mehr ins Gras zurück, verschränkte die Hände hinter dem Haarschopf und atmete heftig, als müsse dieses Tirilieren und Seufzen auch ihre eigene Brust verlassen. Der Blick tastete den rissigen Birkenstamm empor, verfing sich in den quirligen Blättern, die zwischen den Sonnenstrahlen tanzten. Sie sah nicht zu Reinhard hin, sie wollte sich selbst entspannen.

      „Herrliche Luft!“, sagte sie. „Herrlich klare Luft!“

      „Ja“, erwiderte er. „Tausendmal ja. Wo genießt man das schon heutzutage.“

      Und endlich gab er sich einen Ruck, stützte sich auf den Ellenbogen und betrachtete unverfroren lange ihr Gesicht, ihre Augen mit dieser unendlichen Tiefe. Gespannte Ruhe, ganz Besinnlichkeit. „Ist dir’s nicht leid um die Jugend hier, um die Kinder?“

      „Warum, warum auf meine Kosten?“, forschte sie in seinem Gesicht; nein, nicht vorwurfsvoll. „Warum lässt man uns allein? Abgeschoben? Verdammt noch mal, wo ist die vorgegaukelte Unterstützung geblieben? Wo findest du Kultur? Unser Lebensglück bleibt auf der Strecke.“

      „Wer sollte da besser Abhilfe schaffen als du selbst?“

      „Ich überschätze mich nicht gern“, erwiderte sie indigniert.

      „Auf Rosenblüten geht man wohl zur Hochzeit, danach muss jeder sich allein durch alle Dornen kämpfen.“ Ach, er hätte es lieber verschluckt. Aber sie sah ihn weder vorwurfsvoll noch spöttisch an. Sie nahm es so, wie er es gemeint haben musste. Verlegen presste er seine Lippen aufeinander.

      „Du bist ein altkluger Mann“, sagte sie schließlich vorwurfsvoll.

      „Verzeihst du mir? Du hast all diese Albernheiten zum ersten Mal, noch dazu von mir, gehört?“

      Sie schaute ihn verschmitzt an und wälzte sich lachend an seine Seite, so dass sie sich immerfort anschauen konnten. „Allerdings!“, rief sie locker, um gleich darauf ihr vorwitziges Lachen einzufrieren. „Aber sind es wirklich Albernheiten?“ Ihre Augen wanderten plötzlich hin und her, suchten in seinen Pupillen nach Wahrhaftigkeit. „Es ist ein so irrsinnig weiter Weg.“

      „Ach Annelie!“, seufzte er zum ersten Mal. „Vielleicht möchtest du nach zwei Jahren dieses Dorf gar nicht mehr missen. Vielleicht hast du übermorgen dieses Gespräch schon längst vergessen.“

      „Übermorgen?“, fragte sie bestürzt und schaute über seine Schulter hinweg in die Ferne. ‚Vielleicht hat er Recht‘, dachte sie abermals. ‚Aber nein, nie wird er Recht haben! Mein empfindsames Leben! Ich will es ausleben! Die unerfreulichen Lebensstürme! Ich mag sie nicht. Sollte mein Herz aufgehen können in der Saat, die ich gesät habe? Wer, wenn nicht diese Kinder, wird hier neues Leben schaffen? Ihr Schicksal liegt in meiner Hand! In diesen Kindern wird die Zukunft liegen! Was, hingegen, bedeutet da schon meine egozentrische Zerrissenheit!‘ „Zerrissenheit!“, murmelte sie selbstvergessen.

      „Zerrissenheit?“, fragte er nach. „Hast du denn keine Freude an deiner Arbeit?“

      „Oh doch!“, seufzte sie. „Aber besteht das Leben allein darin?“

      Er schwieg betroffen. „Für mich ist es nicht leichter“, versuchte er einen Neubeginn. Aber dann überkam ihn plötzlich der Eindruck, dass alles schon gesagt sei, dass Wiederholungen ermüdeten, ja sogar misslich aufreizten. Sie ahnte den Grund seines Stockens und war nahe daran, ihm plötzlich die Hand zu streicheln. Doch eine unnennbare Last hinderte sie, ihre Hand zu heben. Er selbst lehnte sich wieder zurück ins Gras, um zu schweigen oder endlich dem Gespräch eine andere, erfreulichere Wendung zu geben. Sie schien berührt von seiner Zurückhaltung, seiner rücksichtsvollen Befangenheit.

      „Vielleicht hast du Recht“, gab sie dann leise zu. „Vielleicht.“

      Und sie schwiegen beide wieder vor sich hin. Dennoch brachte es sie irgendwie näher zueinander. Seltsam. Es bedurfte keines Blickes, keines neuen Gedankens. Sie meinten beide, ihre Herzen klopfen zu hören, unvermittelt und erschreckend offen. Nahe beieinander. Noch immer jedoch lagen ihre Hände streng und eng nebeneinander. Wie ein Hitzewall legte sich ein Spalt trennender Nachmittagsluft dazwischen. Wer die seine bewegte, musste die andere treffen. Und Reinhard bewegte sie endlich; vergeblich suchte ihn eine Geisterhand davon abzuhalten. Er fühlte sich gefesselt und unwiderstehlich verlockt. Nichts hätte ihn von dieser Macht losreißen können. Leicht fühlte er ihr zartes Flair; ein fast unmerkliches Kribbeln durchlief ihren Körper bis hinauf zu den Schultern. Sie hob die Hand und strich sich unsicher durchs Haar, bevor sie den Arm gesittet fallen ließ. Doch ihre Finger berührten seine Hand nicht mehr. Nein, das nun mochte sie auch nicht! Oder doch? Und sie spürte und sah, wie ihr kleiner Finger unmittelbar neben seinem Handgelenk lag.

      „Der Herbst wird schön werden“, murmelte sie lächelnd.

      „Ja“, antwortete er zaghaft. „Wollen wir’s hoffen!“

      „Ich spür es am Duft“, fuhr sie fort. „Du nicht?“

      „Nein.“ Er war verwirrt.

      Ihre Melancholie schien verflogen. Sie wandte sich ihm wieder vollen Blickes zu. „Ach, weißt du was“, sagte sie fröhlich. „Du magst immer Recht behalten, immer und ewig. Ich will all diese Widerwärtigkeiten ertragen, wenn nur, wenn nur …“ Sie war sich unschlüssig, ob sie sich erklären sollte. „Wenn nur dies Alleinsein nicht wäre! Ich sollte mich besinnen, Reinhard. Weißt du, eigentlich bin ich dir unendlich dankbar!“

      „Wieso, wofür?“, fragte er erstaunt.

      Sie setzte sich auf, seufzte, riss abermals einen Grashalm aus und verstummte. Nein, sie wollte keine Antwort geben; mochte er denken, was er wollte. Wenn sie sich bedankte … Er konnte doch nichts Schlechtes vermuten? Sie öffnete ihre Lippen, doch kein Wort drang daraus hervor. Ach ja, flieg, Traurigkeit, flieg hinweg! – Unfassbarer Gegensatz!

      „Sollten wir nicht weiter …“, stotterte er.

      Sie antwortete ihm noch immer nicht, ließ vielmehr den Blick durch den Rasen schweifen. Schon wollte er sich erheben.

      „Die kleinen Käfer!“, murmelte sie und verhielt, im Grase sitzend. „Sie klettern den Halm rauf und runter, ohne ein glückliches Ende zu finden. Ich hab sie nie so vergnügt beobachtet.“

      „Annelie …“, flüsterte er.

      Nichts geschah. Sie schien ihn überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Noch immer träumten ihre Augen, tief im Reich der Halme. Heiß stieg eine Welle von Versuchung in ihm hoch; sie war kaum zu dämpfen. Er wollte sie nicht dämpfen. Die Welt taumelte vor seinem Antlitz und er schloss für Augenblicke die Augenlider. Als er sie öffnete, saß sie noch immer unbeweglich und schaute ihn nicht an. Seine Hand suchte Halt an der benachbarten Birke. An der rissigen Borke. Und seine Lippen bebten. Sie aber betrachtete ihn plötzlich wehmütig, verwundert, mit aufgerissenen Augen.

      „Annelie!“

      Hastig fasste er sie an den Schultern, als müsse er sie in die Wirklichkeit zurückschütteln. Doch um das Gleichgewicht wiederzufinden, blieb ihren Körpern nichts, als trunken ins Gras zurückzusinken. Seine Augen hingen über den ihren und suchten. Dann senkten sich seine Lippen und drückten ihren Mund. Zaghaft schob sie ihre Hände auf seinen Rücken, als wollte sie ihn nicht wieder von sich lassen. Der erste Augenblick süßen Erschauerns schien eine Ewigkeit anzudauern, ohnmächtig


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