Die Keusche. Volker Krug

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Die Keusche - Volker Krug


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Eingebildetes Wissen, hochgezüchteter Tatendrang barsten förmlich in mir. Besser konnten Partei und Regierung es nicht wünschen! Doch welche Enttäuschung! Nach wenigen Tagen bereits begann ich, mir die Hörner einzurennen. Nichts mehr von ekstatischem Eifer, nichts von romantischem Pflichtbewusstsein, das mich hätte erfüllen sollen, nichts von revolutionärem Kampf gegen Relikte von gestern. Der sogenannte ‚Klassenfeind‘ nagte in mir selber. Wahrlich besessen war ich. Wollte aufräumen! Doch was, in aller Herren Länder, sollte ich aufräumen? Jahrhundertlange Tradition? Ein Erbe ist nicht rigoros beiseite zu schieben! Ich fühlte mich, ich weiß nicht wodurch, eines Besseren belehrt. Zu Recht.“ Annelie riss einen Grashalm aus und warf ihn verärgert von sich. „Der Tag, an dem ich anreiste, steht noch heute unauslöschlich vor meiner Seele. Man reichte mir den Koffer vom Hänger des Traktors, der mich vom Bahnhof abholte. Der Mann da vorn auf dem Fahrersitz sprach kein Wort. Es war die Hölle. Es regnete in Strömen. Der Motor dröhnte.

      In der Folge: keine Freundin, kein Gleichgesinnter, nur unendliche Einsamkeit! Verraucht all die guten Vorsätze, im Keime erstickt! Aber es regte sich ja gar kein Keim! Welch ungeheuerliche Veränderung, mit der ich zu kämpfen hatte! Hie Idealismus – dort Realismus. Nach dem ersten Elternabend lag ich am Boden zerschmettert und hatte das Dorf gegen mich. Ich schlief zwei Nächte lang kaum. Der einzige Kollege hier stand kurz vor der Rente. Er wollte mir wohl nicht helfen oder konnte nicht und ließ sich krankschreiben. Der liebe Herr Bürgermeister versprach mir salbungsvoll jede Unterstützung, doch bei den ersten Worten des Feldbaubrigadiers, der sich über mich beklagte und forderte, dass sein Sohn, statt den Wandertag zu genießen, für die Ernte zur Hand gehen sollte, dieser Bürgermeister fiel um vor den Leuten wie ein gehauener Maisstängel! Das Fazit: Ich solle gefälligst die Kinder das ABC lehren und sonst nichts.“

      „Und heute?“, fragte Reinhard. „Wie sieht es heute aus? Nach einem Jahr?“

      „Nun ja, man hat sich kennen gelernt, Federn gelassen. Der Bürgermeister, freilich, besitzt noch immer kein Rückrat. Und für viele bin ich noch immer die böse, staatlich gelenkte Fee aus dem fremden Süden. Gewiss, ich war ein unreifes Ding, so manche Nacht hab ich geheult wie ein Schlosshund und bin dann mit geröteten Augen vor die Kinder getreten. Sie haben mich gequält und gegängelt, aber endlich, nachdem ich schon zerstört am Boden lag, hat sich der alte Lehrer doch meiner erbarmt und stellte sich mir zur Seite. Was ich am Institut gelernt habe, ist inzwischen fast völlig verflogen, war für die Katz. Meine Kinder aber bedeuten mir heute alles. Allein sie machen mir das Leben erträglich. An ihnen erkenne ich mich und meine Aufgabe!“

      „Na siehst du! Geduld und Bedacht!“

      „Phrasen! Na schön! Auch schon gehört, wie? – Freilich, durch Teilerfolge fühlt man sich neuerdings bestätigt, aber wo ist das Lebensmilieu, wo Lebenskultur, der Lebensraum, alles das, was du selbst brauchst? Ich habe hier nichts davon gefunden, leider. Ich habe hier niemanden gefunden. Und dies lässt meine Seele kränkeln, lässt sie von Tag zu Tag mehr verkümmern. Ach! Es kann mir keiner die Frage danach verbieten, welcher Mensch ich wohl sein werde, wenn ich zwanzig Jahre lang hier versauern müsste – oder mein ganzes Leben lang. Dann bin ich ein Kümmerling. Dann bin ich ein Nichts, ein mechanisch optimiertes, aber leeres Nichts, ein seelisches Nichts. Wenn sich meine Bedürfnisse und Sehnsüchte im Unendlichen verlieren, bin ich tot!“ Er antwortete nicht, zweifelnd, ob sie im Recht sei. Mit Klagen allein schien es ihm nicht getan. Oder fehlte ihm nur ihre Erfahrung, dies einzuschätzen? Er war noch nicht in den Pool dieser gesellschaftlichen Suppe geworfen worden. „Du willst mich trösten?“, fuhr sie fort. „Gut so; doch bedenke, du hast in jenen drei Wochen hier nicht jenen Eindruck gewinnen können, der mich nun schon ein Jahr lang quält. Und ich komme nicht los davon! Nicht am Donnerstag, nicht in einem Jahr! Was ich vergessen habe, ist erschreckend genug. Kein Theater, kein Konzert; ein Film pro Woche – und welch ein Film! – Aber was ereifere ich mich! – Ach, lassen wir das!“ Sie unterbrach sich, sah mit wässrigen Augen in die Ferne. „Die Menschen hier sind so unnahbar. Und eben darum verbittert mich die freche Aufdringlichkeit dieser Bauernsöhne. Tag für Tag“, klagte sie. „Doch wozu diese Anwandlungen! Schade um die schönen Stunden.“

      „Der Tag ist lang“, widersprach Reinhard, „so lang, wie wir ihn wünschen.“

      „Ja“, sagte sie mit leiser Enttäuschung.

      Sie maß ihn mit einem schätzenden Blick. War er groß genug für sie? Trug er keinen Mittelscheitel? Standen seine Ohren auch nicht zu weit ab? Gewiss wog er seine hundertfünfzig Pfund. Dafür war er hochgewachsen und schlank! Und sein Blick, verdammt, dieser Blick konnte sie so heillos verwirren. Bemerkte sie all das erst jetzt? Wo, zum Teufel, hatte sie bisher ihre Augen gehabt? Vielleicht aber nutzte auch er nur die Stunde, missbrauchte ihre Vertrauensseligkeit? Abgefeimter Bube! Allerdings, hatte er nicht in anderem Tone mit ihr gesprochen, mit anderen Worten? Es tat so wohl, erwärmte sie, seiner sanften Stimme zuzuhören. Ein Hallodri? Dann hätte seine Stirn wohl kaum dieses verräterische Rot überzogen. Und sie redete sich ein, er besäße sehr wohl das Recht, sie mit zurückhaltenden Worten zurechtzuweisen. Nun, war es wie es war! Sie plauderte sich die Seele gesund und allein das empfand sie als Balsam genug. Ein Mensch, der ihr zuhörte, einer, der sie auch zu verstehen suchte!

      Dieser Mensch war keine Fiktion. Dieser Mensch saß neben ihr im Grase und musterte sie. Musste sie ihm nun auch zuhören? Wollte sie das überhaupt? Was blieb von diesem Nachmittag, wenn man sich gegenseitig mit Wehleidigkeiten überschüttete?

      „Und dieser Nachmittag reut dich tatsächlich nicht?“, fragte sie.

      „Keineswegs“, beteuerte er heftig. „Ich hätte mir nichts Besseres wünschen können.“

      „Ich empfinde es wie ein Gefängnis“, fuhr sie fort. „Glaube mir, es ist wie ein Gefängnis! Und ich hätte heute Freigang. Dann müsste ich wieder zurück in die Dunkelheit und alles wäre vergessen. Lediglich ein schöner Traum … Nur Briefe sind dann noch das Band der Hoffnung.“

      „Die Eltern?“, fragte er.

      Sie schaute ihn missbilligend an, schüttelte den Kopf. „Nein, nur Gleichgesinnte, Gleichbestallte“, sagte sie.

      „Gleichgesinnte?“

      „Menschen wie du und ich, Seelen wie ich und du …“

      Obwohl sie dies gleichmütig dahingesagt hatte, spürte er sehr wohl den verzagten Unterton. Sie ließ ihre Hand neben die seine sinken. Reinhard betrachtete ihre langen, gepflegten, jedoch schmucklosen Finger. Sie ruhten so nah, dass er ihre verschwenderische Wärme zu spüren vermeinte. Er vermochte nicht zu erkennen, ob Absicht, ob Annäherung hinter dieser Geste lag. Nein, so wie es jetzt aus ihr herausbrach, immer noch herausbrach, konnte sie kaum an Verführung denken. Zu sehr sah er ihre Seele beschäftigt, mit sich selbst und mit ihm, der er ihr zuhörte.

      „Allerdings“, schloss sie ihre anders laufenden Gedanken, „allerdings bin ich wohl in diesem Jahr gereift. Insofern hat es mir einiges gegeben, ist es nicht nutzlos gewesen.“ Und wieder ließ sie den sehnsüchtigen Blick in die Weite schweifen.

      Er riss sich los von diesem Anblick. „Siehst du“, sagte er. „Was hast du nicht alles schon gewonnen! Warum solltest du verzagen? Es wird sich auszahlen, glaube mir.“

      „Wer zahlt es mir aus? Dieser Staat?“, fragte sie. „Er behandelt mich wie ein Zugtier, das seinem Hüh und Hott zu folgen hat!“

      Er war über die Maßen erstaunt von der Offenheit, mit der sie sich ihm, einem unbeschriebenen Fremden, so bedingungslos anvertraute. Von einer Lehrerin hätte er mehr Loyalität ihrem Staate gegenüber erwartet. Diese beispiellose Widersetzlichkeit aber erstaunte ihn. „Nichts ist verloren!“, beschwor er sie. „Nicht in zwei Jahren. Selbst wenn es deine Jugendjahre sind, sie können nicht verloren sein. Und du wirst aus dieser Zeit mit erhobenem Kopf und gestärktem Willen hervorgehen! Du wirst Wahrheiten lernen und begreifen.“

      Annelie schaute ihn unverhohlen misstrauisch an. Sollte sie sich so getäuscht haben? Solche Phrasen! Solche Allgemeinplätze! Hätte sie ihre Worte, ihren berechtigten Ärger besser bemänteln sollen? „Ja, wir werden wohl sehen müssen …“, sagte sie enttäuscht. „Ach, lassen wir das. Es bringt uns nicht weiter.“


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