Die Keusche. Volker Krug

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Die Keusche - Volker Krug


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      Und? Wollte er denn? Er hatte dies lediglich so dahingeplappert. Wohl wahr, er verspürte leichten Hunger. Welcher Hunger aber quälte ihn mehr? Konnte es für diesen Abend überhaupt ein Ende geben? Noch war der Weg so weit bis Mitternacht! Fest drückte er ihre Schultern.

      Dort, wo sich der Weg gabelte, Hügel und Steine, ein Stück Heide freiließ und den Feldern keinen Raum zugestand, dort fanden sie ein geeignetes Plätzchen, um sich ein letztes Mal niederzulassen. Durch die einzelnen, mächtigen Bäume, die dunkel gegen den Himmel starrten, strich auf- und abschwellendes Wispern. Sonst störte kein Laut die sonntägliche Abendstille. Sie plauderten lange und ausgiebig, auf dem Bauche liegend, auf dem Rücken, die Knie umspannt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie sprachen über ihren vergangenen Lebensweg, über das ferne Zuhause und vor allem über ihre gemeinsame Zukunft. Immer wieder aber blieben die Gedanken an diesen ersten Stunden hängen, dem schönsten aller Tage. Sie hatten die Erde wiedergefunden.

      Die Nacht war unversehens hereingebrochen. Nun geleitete sie das bezaubernde Licht des Mondes. Als sie – allen Hunger vergessend – spät vor Mitternacht im Dorfe eintrafen, war es ruhig um sie her, unbegreiflich still. Im Hause brannte noch Licht.

      „Sie werden sich Sorgen machen.“

      „Siehst du!“, flüsterte er.

      „Ich werde dich vorstellen, um jedem Geschwätz vorzubeugen!“ Sie sagte es mit Bestimmtheit, aber er fühlte: Irgendwie war es doch auch eine Frage.

      „Natürlich“, beteuerte er. „Es wird das Beste sein.“

      Sie liefen schnellen Schrittes durch den Vorgarten der Haustür zu. Ihre Finger zitterten, sie konnte den Schlüssel nicht finden. Dann endlich hatte sie ihn aus dem Brustbeutelchen herausgeklaubt. Vernehmlich zog sie, um sicher gehört zu werden, die Tür hinter sich zu..

      „Ja“, sagte jemand, als sie zögerlich an der Tür klopfte. „Ja? Herein.“

      Annelie öffnete die Tür. Der Bauer stand vor ihr, musterte sie schweigend, musterte den jungen Mann.

      „Entschuldigen Sie“, flüsterte Annelie, „entschuldigen Sie, dass ich erst so spät zurückgekommen bin, ohne etwas zu sagen. Das hier ist Reinhard, ein Freund …“ Sie zögerte einen Augenblick. „… Mein Freund“, ergänzte sie dann tapfer.

      Der ältliche Mann musterte ihn, als müsse er sich erinnern, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Aber er nickte nur.

      „Er wird mal kurz mit nach oben kommen. Wir möchten noch was essen.“ Wieder nickte der Alte. „Gute Nacht!“

      „Gute Nacht“, erwiderte der Alte und schloss vorsichtig die Tür.

      Annelie zog Reinhard die Stufen empor und am Ende des Ganges öffnete sie ihr Kämmerchen. Gemütlich eingerichtet, sagte er sich, genauso hatte Reinhard es sich vorgestellt. Sie hieß ihn sich setzen und bereitete aus dem Wenigen, das noch bis morgen reichen musste, ein köstliches Nachtmahl. Sie saßen und klönten noch, bis die Uhr zwei schlug. Dann kam die erste Stunde des Abschieds und sie geleitete ihn zur Gartentür.

      „Wir werden uns morgen sehen“, sagte sie entschieden und musste plötzlich kichern. „Nein heute schon! Erschweren wir uns nicht den Abschied! Umso schöner wird unser Wiedersehen sein!“

      „Auch wenn es regnet?“

      „Verdammt noch mal: Und wenn es schneien sollte!“ Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. „Jeden Tag!“, sagte sie; schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn und lief leichtfüßig zur Haustür zurück.

      „Gute Nacht, Liebes.“

      „Gute Nacht!“

      Zögernd blieb er am Tor stehen, bis sie vollständig im Hause verschwand und der Schlüssel im Schloss knirschte. Er konnte nicht mehr sehen, wie sie sekundenlang die heiße Stirn an den eichenen Pfosten lehnte.

      Sie trafen sich jeden Nachmittag und verbrachten die restlichen Stunden der Abende in ausgedehnten Spaziergängen. Am Mittwoch jedoch regnete es. Der Platz unterm Regenschirm hielt nicht lange vor, beide wurden sie ordentlich nass. Obgleich sie nun schon überall zusammen gesehen worden waren – am Dienstag sogar von jenem Burschen, der zum Anlass ihres Kennenlernens geworden war („da hättest du doch was sagen können, Kumpel! Hätt’ meine Finger von der gelassen. Nischt für ungut!“) – obzwar man also fast überall ihre Liaison zur Kenntnis nahm, da trauten sie sich nicht so recht wieder in Annelies Kammer. Sie mochte fürchten, dass die Bäuerin missgünstig reagierte. Schließlich hatte die das Sagen im Haus.

      Aber die Wirtin musterte Reinhard nur von oben herab und sagte dann, etwas enttäuscht: „Na ja. Denn is wohl endlich Ruhe, wat!“ Spornstreichs kehrte sie mit schlurfenden Schritten zurück in die Küche, als habe sich damit die Angelegenheit endlich erledigt. Annelie konnte sicher sein, dass die mütterliche alte Frau nunmehr ein waches Auge auf ihre Unantastbarkeit warf.

      Die Stunden dieses letzten Abends, bei leiser Musik und einem bescheidenen Diner, würden sie beide wohl nie vergessen! Seltsamerweise trübte keinerlei Traurigkeit über den bevorstehenden Abschied das innige Beisammensein. So sehr waren sie sich sicher, dass diese Trennung nur eine scheinbare Trennung sein konnte. Eines nicht zu fernen Tages würde Reinhard wiederkehren – spätestens im Oktober. Oder sie besuchte ihn zu Hause … Oder noch besser: In Freiberg. Wozu also sollten Tränen fließen? Man wollte glücklich sein, überschäumend, froh und freudig! Festhalten, diesen Augenblick der Glückseligkeit, nur festhalten! Die Ernte dieser Tage reichte hin bis in die Unendlichkeit!

      „Denke immer an mich, wenn dich Missmut überkommen sollte!“, sagte er.

      Am zeitigen Nachmittag des nächsten Tages stand er, alle Formalitäten im Büro des Messtrupps schon längst erledigt und den Bericht über sein Praktikum in der Tasche, eine gute halbe Stunde zu früh vor ihrem Tor. Sie wollten sich nicht vor aller Welt verabschieden, sie wollten die letzten gemeinsamen Augenblicke für sich allein sein. In einer Stunde würde er mit dem Mannschaftswagen und allen Kumpel, die über die Heimfahrt den Ort für vier Tage verließen, in die nächste Stadt fahren, um dort den nächsten Zug zu nehmen. Sie hatte eben die Schulstunden vorzeitig beendet und rannte, da sie ihn den mergligen Weg zu ihrem Gehöft entgegeneilen sah, stehenden Fußes in seine Arme. Dankbar versenkte sie ihren Blick in seine Augen, da er die Zeit gefunden hatte, eine halbe Stunde, vielleicht etwas mehr, mit einem kurzen Spaziergang bei ihr zu sein.

      Sie hakte sich unter und wenig später schlugen noch einmal die Wipfel des nächstgelegenen Wäldchens über ihnen zusammen. Das Rauschen umschmeichelte ihre Einsamkeit.

      Als sie in das Dorf zurückkehrten, wartete man bereits auf ihn. Sie blieb in geringer Entfernung stehen und winkte herüber.

      „Na“, sagte der Felddienstleiter. „Da wirst du dir wohl deine verdiente Prämie eigenhändig bei uns abholen, wat?“ Die Mannschaft griente.

      Dann folgte er ihm zum Auto.

      Drüben lief ein kleiner Junge heulend auf Annelie zu. „Der Steffen hat mich gehaut!“

      „Warum denn?“, fragte sie.

      „Weiß ich nicht. Kann mich nicht leiden.“

      „So, so. Wenn er dir wehtut, dann musst du dich wehren!“

      Sie schlug die Hand vor den Mund und schaute erschrocken auf das Bübchen hinab, das nicht fassen konnte, was Frau Lehrerin da von sich gab.

      Kurz darauf zog der Mannschaftswagen an, bog in eine Kurve ein, in der sie ihm eben noch einmal zuwinken konnte, dann verschwand das grau-rote Gefährt die Dorfstraße entlang.

      „Du!“, flüsterten ihre kirschroten Lippen vor sich hin.

      Sie sahen es alle. Nur der alte Vermesser, den dies wohl am wenigsten berühren mochte, sagte, keinesfalls erstaunt:

      „Sieh mal an, die Keusche!“

       Der verhinderte Romeo (1967)

      Er


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