Die Keusche. Volker Krug

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Die Keusche - Volker Krug


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„Ehrendienst“ in der „Nationalen Volksarmee“ über sich ergehen lassen mussten. Darüber war er schon längst hinaus. – Die höheren Semester zum Teil, da sie verlängerte Praktika in Anspruch nahmen, sich auf die Diplomarbeit vorbereiteten oder anderweitig eingesetzt wurden. Reinhard hatte das achte Semester absolviert; er stand vor der Diplomarbeit. Was ihn in der nächsten Woche in Freiberg erwartete, das wusste er zuverlässig nun auch nicht.

      „Ebenso könnten wir …“, stotterte er. „Wir beginnen nun das letzte Studienjahr. Es ist daher durchaus möglich … Wenn ich eins und eins zusammenzähle …“ Er sah verstohlen auf ihr Profil, das mühsam verbarg, was eigentlich in ihr vorging. Betroffen warf er hin: „Ich langweile Sie gewiss.“

      Sie schreckte aus Gedanken hoch. „Ganz und gar nicht“, beeilte sie sich zu versichern. Und damit schien es ihr sogar ernst zu sein. Sie schaute ihm wieder für Augenblicke in die Augen, lange genug, dass der Blick verräterisch hängen blieb. „Oh, nein. Entschuldigen Sie! Erzählen Sie! Erzählen Sie, was das Zeug hält! Ich bin so froh, jemandem zuhören zu dürfen.“

      Er horchte auf. Es fiel ihm plötzlich schwer, von gewöhnlichen Dingen zu sprechen, von profanen Dingen. Qualvoll spürte er die Last dieser Augenblicke. Verlangte sie mehr von ihm, als er geben konnte? Aber je flüssiger er jetzt von Wort zu Wort eilte, je bestimmter wuchs auch sein Mut zur Ungezwungenheit. Er fühlte sich gleichermaßen dazu bewogen, sprach sie das erste Mal mit ihrem Vornahmen an, wenngleich sie noch immer zögerte. Er sprach beflissen über dieses Praktikum, sein Studium, über sein Zuhause. Und sie hörte schweigend zu. Aber ob sie auch alles dies aufnahm? Wenn er einen Anflug von Humor, von Heiterkeit wagte, schien sie nicht sehr erbaut. Ihre Augen blieben starr geradeaus gerichtet; nur ab und an streiften sie seinen Mund, seine Stirn mit einem gleichsam verschleierten Blick. Als sie spürte, dass er zu Ende kommen wollte, nahm sie gleichsam das Gespräch von seinen Lippen und schilderte nunmehr aus ihrer Sicht, wie sie es hierher verschlagen hatte und wie der Sehnsucht nach der Heimat, nach der sie sich so sehr aus dieser Einsamkeit hinweg verzehrte, ihrem Leben einen tieferen Sinn gab. Aber auch über Freuden und Sorgen sprach sie und über die Kinder des Dorfes, die ihr mehr und mehr ans Herz wuchsen. Dann leuchteten zuweilen auch ihre Augen und ihre Stimme erwärmte sich.

      Sie waren weit gegangen. Der Weg schlug einen ausufernden Bogen und näherte sich fast unwillig einem lieblichen Waldstück, das etwas mehr Kühle versprach. In der Ferne leuchteten Dächer, von denen er im Augenblick nicht einmal wusste, ob sie ihrem Dorfe zugehörten. So sehr hatten sie sich in ihren Spaziergang vertieft! Nirgendwo an diesem heißen Sonntagnachmittag ein Wesen! Weitab aller menschlichen Weltlichkeit liefen sie beide nebeneinander her, eine volle Stunde wohl schon.

      Erheitert warf er ihr vor: „Sie verführen mich, Annelie! Wenn Sie mich fragen, wo wir uns befinden, muss ich Ihnen die Antwort schuldig bleiben.“

      „Habe ich Sie so lange beschwatzt, dass Ihre Aufmerksamkeit darunter leidet?“

      „Oh nein, nein!“

      „Nun gut“, sagte sie schelmisch. „Ich glaube zu wissen, wohin uns unsere Unaufmerksamkeit verschlagen hat. Keine Bange! Wenn Sie also wollen, Reinhard … Der Weg ins Dorf ist allerdings nicht der nächste. Entschuldigung, ich habe tatsächlich nicht darauf geachtet.“

      „Um so besser“, versicherte er. „Mir ist heute kein Weg zu lang.“ Sie fixierte ihn mit einem schrägen Blick. „Dieses Dorf da“, vermutete er mit spitzer Ironie, „kann mithin also nicht das Unsrige sein?“

      „Nein, ist es nicht, mein Herr.“

      „Durchaus nicht schade“, meinte er. „Nicht schade für unsere gleichgesinnten Seelen!“

      „Welche Bücher lesen Sie nur!“, rief sie in einem Anflug von Spott. „Sie sollten an Ihrem manierierten Stil feilen.“ Annelie warf den Kopf zurück und lachte aus vollem Halse. Die Plötzlichkeit dieses Ausbruchs erschreckte ihn. Sie verhielt auf der Stelle, befürchtete, ihr Lachen stünde ihr übel an oder verstimme ihn zumindest.

      Der Hain kam näher. Schon spürte man in seinem Schatten einen Hauch von Frische. Wieder winkten die Erlen und am Rande eine Reihe hochgewachsener Birken. Das Gras dort war trocken und lag in glänzenden Wellen über der dürstenden Erde. Der Platz lud ein zum Verweilen.

      „Meinen Sie nicht, wir sollten uns etwas ausruhen?“, wagte er sich vor. „Den Heimweg werden wir vor der Dämmerung doch sicher bewältigen?“

      Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich meine auch, meine Füße sind etwas überfordert.“

      Sie ließ sich zwischen zwei Birken im Grase nieder, noch bevor Reinhard überhaupt nach einem geeigneten Flecken Ausschau halten konnte. Er sah ihre weißen Zähne aufblitzen, als er sich neben sie hockte.

      „Die Ruhe hier ist köstlich“, meinte Annelie und ließ den Blick in der Runde schweifen. Genüsslich sog sie die duftende Luft in ihre Lunge. „Man muss sie ständig tief einatmen, man muss es.“ Sie stützte ihren rücklings geneigten Körper mit ihren Unterarmen und ließ ihren Blick einen rissigen Birkenstamm empor wandern, der neben ihnen in den Himmel schoss. Leicht hob und senkte sich die Brust unter dem luftigen blauen Kleid. Sekunden später verharrte sie mit geschlossenen Augen.

      „Als ich hierher kam, war ich voller Illusionen“, begann sie unvermittelt.

      Doch er legte den Finger auf ihre Lippen, so dass sie die Augen erstaunt aufschlug. Doch schon hatte er sich wieder zurückgezogen. Er mochte nicht, dass sie die alten Unleidlichkeiten aufwärmte.

      „Als ich hierher kam“, wiederholte er deshalb bestimmt, um ihr zuvorzukommen. „Als ich hierher kam, glaubte auch ich nicht, in dieser Landschaft, unter diesen Menschen etwas Reizvolles zu finden. Als ich hierher kam, glaubte ich nicht, ein Mädchen zu entdecken, das mich so verwirren würde …“

      Sie sah ihn schelmisch an. „Ist das so schlimm?“

      „Wollen Sie mich vergrämen? – Entschuldigen Sie meinen hausbackenen Stil. Die Sehnsucht …“

      „Die Sehnsucht, die Sehnsucht!“ Annelie rümpfte die Nase. „Freilich: Die Sehnsucht!“

      „Ach lassen Sie doch!“, meinte er etwas bedrückt. „Wenn ich die kleinen Haine und Wäldchen sehe, die Felder, die unser künftiges Brot tragen, diese mächtigen Bäume hier, die in den Himmel wachsen … Wie kann man da ohne Gefühl und Andacht vorübergehen. Diese wispernde Romantik, ja Romantik, kann uns niemand nehmen. Niemand darf dies lächerlich finden. Glauben Sie nicht, Annelie … Meinen Sie nicht, dass uns eines Tages die Schritte zurückkehren lassen? Vielleicht, weil wir denken, etwas verloren zu haben? Dann werden wir um jede Stunde barmen, die wir vertrauert haben!“

      Sie wandte sich seinem Gesicht mit vollem Blick zu. Waren dies nicht auch Dinge und Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen? Was geschah in dieser Stunde? Was fand sie an diesem jungen Mann so anders? Was fesselte sie? Im Innern wuchs schon das Bedauern, dass dieser Tag bald ein Ende haben würde. Taumel in ein erwachendes Glück? Sie erwartete von seiner Nähe unendlichen Trost. Sie wollte ihn umarmen, ihn ausforschen, geistig fordern, mit ihm streiten, ihn erregen, weil sie das alles selbst auch von ihm zu erfahren hoffte. Sein Antlitz – ihr Spiegel! Dass sie ihn zu hoch bemessen könne, daran dachte sie nie und nimmer.

      „Sie möchten wohl nicht, dass ich spreche?“, flüsterte sie.

      Reinhard schüttelte den Kopf. Er spürte, wie unmöglich es war, ihr irgendwelche Zügel anzulegen, Vorschriften zu machen, selbstbewusst wie sie war. Und vielleicht mochte es tatsächlich angenehmer und vernünftiger sein, sich den Kummer von der Seele zu reden. Weshalb sollte er nicht zuhören? Warum aber hatte sie ausgerechnet ihn dazu erkoren, niemand anderen? Befangen von ungewissen Gefühlen ließ er sich ins Gras fallen. Sie sah zu ihm hinab, schamhaft lächelnd. Dieses plötzliche Zutrauen, ja, das verwirrte ihn. Schon lehnte sie sich, auf den Ellenbogen gestützt, neben ihn. Es schien ihnen beiden, als kennten sie sich nicht nur diese Sonntagsstunde lang, sondern schon ein ganzes Leben – ohne sich je begegnet zu sein. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und begann zu sprechen:

      „Du ahnst nicht, wie ich mich fühle, wie ich mich langweile!


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