Jan und Jutta. Liselotte Welskopf-Henrich
Читать онлайн книгу.können doch nicht verlangen, daß wir Ihnen das glauben?« Der Beamte schaute über die Brillengläser. »Wir nehmen an, daß Sie den Wachtmeister ermorden und mit seinen Schlüsseln das Tor öffnen wollten.«
Der Beamte betrachtete den Gefangenen bei diesen Worten mit der Miene der strafenden Gerechtigkeit, in die sich Furcht und Neugier mischten.
»Nein, das wollte ich nicht«, erwiderte Jan, scheinbar gleichgültig.
»Kann jeder hinterher sagen, das wollte ich nicht! Es bestand doch gar keine andere Möglichkeit.«
»Wieso denn? Man kann doch nicht im vorweg sagen, was möglich ist. Da war die schadhafte Stelle an der Wand, die hat mich so am lieben langen Tag auf die Gedanken gebracht.«
»Und von wem hatten Sie das Werkzeug?«
»Das hab’ ich mir schon von Celle mitgebracht. Da hat so etwas immer herumgelegen.«
Der Beamte konnte nicht umhin zu schmunzeln. In Celle, der angeblichen Musteranstalt des Herrn Marloh, schien ja allerhand los zu sein und vielerlei zu bestehen mit Ausnahme von Ordnung.
Der protokollierende Beamte zeigte sich Jan gegenüber jetzt etwas freundlicher.
»Wir könnten die Sache von gestern gleich auf Ihrem Termin morgen mit verhandeln. Sind Sie damit einverstanden?«
»Jawohl, damit bin ich einverstanden.«
Der Tag und die Nacht vergingen.
Als ein gefährlicher Ausbrecher gefesselt und scharf bewacht, wurde Jan am folgenden Morgen aus seiner Zelle und über den Hof zum Gerichtssaal geführt.
Jans Blick streifte rasch die Gefängnismauern, die den Hof umgaben, und er erinnerte sich, wie er ein und ein halbes Jahr vorher, im Frühjahr 1935, einen Tag um den anderen über diesen Hof zum Gerichtssaal geführt worden war. Er und seine vielen guten Genossen, die die illegale Arbeit in der kleinen Heimatstadt gewagt hatten, wurden damals über diesen Hof zur Verhandlung geführt … und jetzt wie damals tat sich die Tür zum Gerichtssaal auf und Jan wurde auf die Anklagebank gebracht. Zwei Wachtmeister postierten sich neben ihm. Auf der Bank saßen schon Christoph und Franz, Jan setzte sich neben sie. Die Freunde wechselten kein Wort. Es war nicht der Ort dafür, und es gab auch nichts Wichtiges zu sagen.
Die Gerichtszeremonien verlangten ihre Zeit. Während der Richter in seiner Robe den erhöhten Platz einnahm, der Staatsanwalt seine Papiere zurechtlegte und die beiden Zeugen sich einfanden, blieb Jan und seinen Freunden die Muße, an das zurückzudenken, was sich vor eineinhalb Jahren hier abgespielt hatte. Das war die alte getünchte Wand, die dem Saal ein nüchternes und gleichgültiges Aussehen gab, die alte gedrechselte Barriere, die Richter und Angeklagte von den Zuhörern abschloß. Auf den Plätzen für das Publikum saß auch heute eine Anzahl Neugieriger. Vor eineinhalb Jahren waren diese Bänke alle voll besetzt gewesen, und auch August hatte unter den Zuhörern gesessen.
Jan glaubte noch einmal die schneidige Stimme des Herrn Staatsanwaltes Dr. Frischbier zu hören. Er erinnerte sich kaum an sein Gesicht, denn dieses Gesicht hatte nichts Besonderes an sich gehabt. Es war das Gesicht eines Korpsstudenten gewesen, der jetzt für den »Führer« seine Pflicht tat, ein Gesicht, in dessen Mienenspiel sich wenig eigene Gefühle, wenig eigene geistige Arbeit ausdrückten, das Gesicht eines qualifizierten Spießers. Das Gesicht und die schneidige Stimme paßten in den getünchten Saal. Alles wirkte wie Tünche, die man aufstreichen und abkratzen, oder wie eine Maske, die man aufsetzen und wieder absetzen konnte, je nach den Erfordernissen der Zeit und der Karriere. Herr Staatsanwalt Dr. Frischbier hatte auch keine eigenen Worte gesprochen. Er hatte nur die Worte gesagt, die ihm sein »Führer« und der »Völkische Beobachter« lieferten, Worte, wie Jan und seine Genossen sie in allen Modulationen seit Jahr und Tag von ihren Feinden zu hören gewohnt waren und wie sie immer wieder gesprochen werden mußten, solange es Menschen gab, die ihre Brüder von den Gütern der Erde ausschließen wollten.
»Das Ziel der KPD ist der bewaffnete Aufstand! Die Kommunisten haben sich illegal organisiert, Möller war schon 1933 in Schutzhaft. Er wurde entlassen. Diese Gnade hat er damit beantwortet, daß er in seinem Heimatorte die KPD wieder aufgebaut hat! Er ist ein eingefleischter Kommunist! Die härtesten Strafen müssen angewandt werden! Das Gericht hat nicht nur die Aufgabe zu sühnen, es hat die Aufgabe, solche Elemente auszumerzen! Möller und sein Kurier Roth sind die Hauptangeklagten. In ihren Händen lief alles zusammen. Ich beantrage …«
Jan wurde aus seinen Erinnerungen herausgerissen. Der Richter in der schwarzen Robe begann mit der Vernehmung der Zeugen und der Angeklagten. Als Zeugen waren der Wachtmeister Vürmann und jener Polizeimeister geladen, bei dem die Gefangenen wieder eingeliefert worden waren. Die Gefangenen sagten wiederum aus, daß sie durch ihre Flucht gegen die schlechte Behandlung der Gefangenen protestieren wollten und daß Vürmann Gefangene geprügelt habe.
Vürmann war blaß. Seine Lippen zitterten vor Wut, wenn er seine gehässigen Aussagen machte; in dem Vibrieren seiner Stimme lag der ohnmächtige Wunsch, sich zu rächen. Jan brauchte diesen Menschen nur anzusehen und anzuhören, um zu wissen, daß Vürmann nicht Hauptwachtmeister werden und nicht an einen besseren Platz versetzt werden würde.
Der Polizeimeister blieb ruhig und berichtete mit wenigen Worten, wie die Gefangenen im Walde entdeckt und wieder eingeliefert worden waren. Von dem Verräter sagte er nichts. Die Verbindung mit ihm blieb das Geheimnis der Polizei.
Die Urteilsverkündung brachte für Jan und seine beiden Genossen je acht Monate Gefängnis, die sie im Anschluß an ihre Zuchthausstrafe verbüßen sollten, und für Jan zusätzlich zwei Monate Gefängnis als Strafe für seinen Ausbruchsversuch in Stade.
Die Gefangenen nahmen das Urteil widerspruchslos an.
Als sie abgeführt wurden, schauten Jan, Christoph und Franz einander noch einmal in die Augen. Sie wußten, daß sie in den kommenden Jahren der Gefangenschaft einander nicht mehr sehen würden. Es war etwas Schönes an der Zeit, in der wir zusammenhalten konnten, sagte ihr Blick. Halt dich weiter gut, Genosse …
In dem Zuchthaus zu Celle hatten sich die Lebensbedingungen für Jan nach seinen beiden Fluchtversuchen verschlechtert. Er saß in Einzelhaft und mußte Tüten kleben. Jeden Abend hatte er seine Kleider abzuliefern und jeden Morgen erhielt er sie erst zu einer bestimmten Stunde wieder. Nachts brannte das Licht in seiner Zelle und machte seinen Schlaf unruhig.
Es ging dem Winter zu, und das Gebäude war nur mäßig geheizt. Jan fror des Abends und des Morgens ohne Kleider. Die Gelenke an seinen Händen und Füßen wurden dick und schmerzten.
Der Gefangene wurde dem Arzt vorgeführt.
Gelenkrheumatismus!
Der Arzt hatte die Krankheit festgestellt, aber an Jans Lebensverhältnissen änderte sich nichts dadurch. Noch vermochte er ja Tüten zu kleben mit seinen wehen Händen, und trotz des Fiebers ging er aufrecht.
Jan war zumute, als ob er nun erst wahrhaft gefangen sei. Solange noch die Hoffnung zwischen den Mauern und Gittern wohnt, ist auch dort ein Stück Freiheit. Wenn die Hoffnung schwindet, ist die Gefangenschaft vollkommen.
Der Gefangene vermochte nicht mehr, den Posttag mit der alten trotzigen Gleichgültigkeit verfließen zu lassen. Er dachte an diesen Tag, auch wenn er nicht daran denken wollte. Er wartete auf diesen Tag, auch wenn er sich sagte, daß er nichts bringen werde. Er wußte, wann dieser Tag anbrach; und wenn die Hände des Wachtmeisters wieder leer gewesen waren, starrte Jan wohl ein paar Minuten auf die Tüten, diese einzigen Gefährten in seiner Zelle, und strich sich über die geschwollenen Hände, denen die Arbeit schwerfiel.
Eines Tages ließ er sich eines der vorgeschriebenen Formulare geben und schrieb an seine Eltern.
»Liebe Mutter und lieber Vater! Es geht mir gut. Wenn Ihr wollt, so laßt einmal etwas von Euch hören.«
Jan las die paar Worte dreimal durch, und dann entschloß er sich endgültig, diesen Brief abzusenden.
Am nächsten Posttag kam der Wachtmeister nicht mit leeren Händen. Jan Möller erhielt Antwort. Der Gefangene faltete den Brief, den ersten, den er nach so langer Zeit erhielt,